Eine Gemeinschaftsveranstaltung des Frieda Frauenzentrums und der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit in Berlin – Friedrichshain:
„Berlin – Palästina – Berlin, Zeitzeugin eines Umbruchs 1930-47“

Interessante Einblicke in die ersten 25 Jahre ihres wechselvollen und spannenden Lebens gewährte die Fotografin und Buchautorin Sonia Gidal einem aufmerksamen Publikum, das sich in den Räumen des soziokulturellen Frieda Frauenzentrums an einem Dienstagabend im Juni 2004 zusammen gefunden hatte. ...

Inga Börjesson - tacheles reden

 

Nicht unbedingt chronologisch, sondern dynamisch und assoziativ skizzierte Sonia Gidal die Jahre ihrer Kindheit und Jugend in Berlin sowie die abenteuerliche Übergangzeit ins Erwachsenenalter in Palästina. Nicht der Schrecken und Terror des Nationalsozialismus standen im Zentrum ihrer Schilderungen, sondern ihre Erinnerungen an die kleinen Subversivitäten des Alltags, die es ihr gelingen ließen, trotz der bedrückenden politischen Zustände das Leben als Abenteuer zu genießen. Schon als 14-jährige war Sonia Gidal fest entschlossen, als Fotografin um die Welt zu reisen. Mit ihrer bei einem Ausschreiben gewonnenen „Aqua-Box“ machte sie ihre ersten Aufnahmen.
 
1922 geboren, wuchs sie als einzige Tochter im wohlsituierten Berliner Westen rund um den Kurfürstendamm und später bei den Großeltern im Grunewald auf. Die Familie mütterlicherseits war im Berliner Wirtschaftsleben etabliert, als Freidenker/-innen gehörten sie dem aufgeschlossenen Bürgertum an. Ihr Vater arbeitete als Verbindungsmann zu den europäischen Niederlassungen des Familienunternehmens und war viel auf Reisen. Überhaupt sei er ein unternehmungslustiger, weltoffener Mann gewesen, der ein bisschen Schwung in das wohlgeordnete Berliner Familienleben einbrachte. Seine Familie lebte zum größten Teil in Litauen bzw. Russland, wohin er, nach einiger Zeit im Pariser Exil, immigrierte und in einem kleinen Stadttheater als Intendant arbeitete. Bei der Besatzung 1941 erschossen die Deutschen die gesamte Theaterbelegschaft, so auch ihren Vater.

Auf Grund des sich zuspitzenden antisemitischen Klimas auch an den Berliner Schulen wechselte sie 1936 auf die zionistische Theodor-Herzl-Schule, die groteskerweise am damaligen Adolf-Hitler-Platz lag. Die Schule bereitete die Jugendlichen auf die Ausreise nach Palästina vor. Das bedeutete, dass sie neben dem „normalen“ Unterricht eine praktische landwirtschaftliche Ausbildung erhielten. Dafür stellte die Stadt Berlin ein großes Feld zu Verfügung, ein Hinweis darauf, meinte Sonia Gidal, dass zu diesem Zeitpunkt die Auswanderung nach Palästina noch behördlicherseits unterstützt wurde.
 
Ebenfalls an der Schule waren viele ihrer Freunde und Freundinnen aus der Jugendgruppe „Bergleute“, eine mit der linken deutsch-jüdischen Jugendbewegung „Kameraden“ verbundene Gruppe. Sonias Mutter hatte nach eingehender Prüfung - zuvor hatte sie sämtliche Leiter verschiedener Jugendbewegungen zu sich nach Hause zitiert, um ihnen auf den Zahn zu fühlen – ihre Mitgliedschaft in dieser Gruppe befürwortet.

Der Zusammenhalt der Jugendlichen, ihre Unternehmungen und Erlebnisse sorgten dafür, dass der nationalsozialistische Terror ihren Alltag nicht dominierte. So erinnerte sich Sonia Gidal an die vielen kleinen Freiheiten, die sie sich eroberten. Schmunzelnd erzählte sie von der Schnitzeljagd im Grunewald, bei der ihre Mädchengruppe auf eine gleichaltrige, ebenfalls Schnitzel jagende Jungengruppe der Hitler-Jugend stieß: "Mädchen sind in einem bestimmten Alter ja zumeist größer als Jungen, nicht wahr, die Hitlerjungs haben also schon eine ordentliche Abreibung bekommen, bis die dazu kommenden  Betreuer aufgeregt dazwischen gegangen sind.“

Auch eine weitere Aktion der Mädchen zeigt ihren Mut, aber vielleicht auch ein bisschen Unbekümmertheit: sie hatten sich vier Litfasssäulen ausgeguckt, an denen große Ankündigungsplakate der SA hingen, mit Ort und Termin des nächsten Treffens. Zu viert stellten sie sich an die jeweiligen Säulen, zwei mit dem Rücken, zwei mit dem Gesicht zum Plakat. Sie wirkten wie eine kleine Gruppe sich unterhaltender Mädchen, während zwei hinter ihrem Rücken mit Hilfe der Anweisungen ihrer Freundinnen mit kleinen Messern die Angaben zur Zeit und zum Treffpunkt des SA aus dem Plakat herausschnitten. Als sie am nächsten Tag an den Litfasssäulen vorbeikamen, hatten sich Trauben aufgeregt diskutierender Menschen vor den zerstörten Plakaten gesammelt. Sie mussten schnell den Platz verlassen, um sich nicht durch ihre Lachanfälle zu verraten...

Auch ihre anstehende Emigration nach Palästina sah die 15-jährige Sonia als aufregende Abenteuerreise. An dieser Stelle meinten einige Frauen aus dem Publikum, die Erinnerungen Sonia Gidals in den richtigen historischen Kontext stellen zu müssen. Die Mutter hätte sie doch aus dem nationalsozialistischen Deutschland retten wollen, dass sei der eigentliche Grund für die Ausreise. Die Kontroverse, die sich nun um die Motivlage ihrer Auswanderung nach Palästina anschloss, hatte schon einige skurrile Züge. Während Sonia Gidal auf ihrer Abenteuerversion beharrte und hinzu fügte, ihre gesamte Familie sei nicht begeistert von der Reise gewesen und die Mutter habe den geheimen Plan gehabt, sie im nächsten Jahr zurück zu holen, betonten andere die lebensbedrohliche Situation für sie als Tochter eines litauisch-russischen Juden, aus der ihre Familie sie habe in Sicherheit bringen wollen.
 
Deutlich wurde hier, wie schwer es ist, ein Leben in Deutschland jenseits der historiographisch zugeschriebenen Rollenmuster zu beschreiben. Der Befürchtung einiger Frauen aus dem Publikum, das mörderische System des Nationalsozialismus könnte durch die Sicht der 15-Jährigen bagatellisiert werden, steht das Bedürfnis Sonia Gidals gegenüber, den Spielraum, den sie sich zur selbstbestimmten Gestaltung ihres Lebens geschaffen hatte, sichtbar zu machen.

Jedenfalls fuhr sie mit vielen anderen Jugendlichen 1938 nach Trieste, um von dort aus mit dem Schiff nach Palästina zu gelangen. Nach zwei Jahren Ausbildung und harter Arbeit, aber auch viel Singen und Tanzen im Internat eines linkszionistischen Kibbuz ging Sonia Gidal 1940 nach Jerusalem, um als Fotografin zu arbeiten. In den ersten Wochen und Monaten lebte sie bei einer befreundeten Familie im Deutschen Viertel. Hier traf sie viele Bekannte wieder, die mittlerweile auch aus Berlin emigriert waren. Zu denjenigen Familienmitgliedern, die den Krieg in Berlin überlebten, hatte sie lediglich alle drei bis vier Monate durch die 25-Worte-Briefe des Roten Kreuzes Kontakt.


Dass Sonia Gidal sich auch in Palästina nicht von der kritischen Gesamtlage abhalten ließ, ihre eigenen Pläne zu verfolgen, wird deutlich an ihrer Reise, die sie 1941 gemeinsam mit zwei Freunden zu den Beduinen an der Grenze zum Libanon unternahm.

Gemeinsam mit Yizhak, einem in Palästina geborenen Freund, der im Auftrag seines Vaters Geschäftliches mit  einem Beduinenstamm zu regeln hatte und dem britischen Soldaten Tommy, der gerade im Urlaub war, machte sie sich wandernd und trampend auf den Weg. Zuvor hatte sie sich eigens für diese Reise in der Altstadt von Jerusalem maßgeschneidert eingekleidet: an den Füßen trug sie kamellederne Bundschuhe,  dazu eine kurze Hose aus Gazellenfell sowie eine Bluse aus Ziegenleder, eine Schulter frei. Gekrönt war das ganze mit einem schwarzen indischen Turban. Während sowohl die Beduinen, als auch die arabischen Scheichs, die sie besuchten, keinen offensichtlichen Anstoß an ihrem fantasievollen Aufzug nahmen, vermutete Sonia Gidal verschmitzt, dass dieser vielleicht der Grund gewesen sein könnte, warum ihnen der Zutritt zu einigen Kibbuzim auf ihrer Rückreise verwehrt wurde.
 
Zudem wurden sie von den KibbuzbewohnerInnen für verrückt erklärt, mitten im Krieg Besuchsreisen zu Beduinen und Arabern zu unternehmen. Diese Reise war der erste Kontakt, den Sonia Gidal zu Beduinenfamilien herstellte, einen Kontakt, den sie über 40 Jahre halten sollte, und der zu wunderbaren Fotosammlungen führte, welche die Veränderungen im Leben der Beduinen festhalten.

Bis 1947 lebte und arbeitete sie als Pressefotografin in Jerusalem, lernte dort ihren späteren Ehemann kennen, heiratete und bekam einen Sohn.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Europa ging es weiter in die USA, wohin ihre Mutter schon emigriert war. Wie schon in der Jugend geplant, bereiste sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, der auch Fotograf war, die Welt. Sie veröffentlichten eine Vielzahl von Bildbänden.

Wie turbulent und abenteuerlustig die letzen 50,60 Jahre waren, muss Sonia Gidal ein anderes Mal berichten, der Abend hatte ja nicht mal für die ersten 25 Jahre ausgereicht.

Buchtipps: 
Korsching, Friederike
 Beduinen im Negev – Eine Ausstellung der Sammlung von Sonia Gidal,
1980 Staatliches Museum für Völkerkunde, München, Philipp von Zabern Verlag, Mainz

Gidal, Sonia u. Tim
Söhne der Wüste
Erzählung für die Jugend
Kinderliteratur Photographie
 Verlag: Orell Füssli, Zürich, 1961
Ein junger Beduine erzählt von seinem Leben als Sohn eines Scheichs.

Gidal, Sonia und Tim:
Mein Dorf in Israel.
Erzählung für die Jugend; Zürich: Orell Füssli Verlag; 1963; 78 S.;


 

gs / tacheles-reden.de / 2004-06-29