Singularität - Kontinuität:
Moderne und Gewalt

Enzo Traverso reflektiert in seinem Buch "Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Naziterrors" die Verkettung von Elementen in der europäischen Geschichte, die der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten vorausgingen...

Gudrun Schroeter

Ist Auschwitz als Synonym für die Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen ebenso ein Synonym für Einzigartigkeit oder war Auschwitz Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung in der Moderne? In seiner sehr empfehlenswerten Untersuchung geht der in Amiens lehrende Historiker und Politikwissenschaftler Enzo Traverso Fragen nach dem historischen Ort des Nationalsozialismus nach und untersucht die Bedeutung von Phänomenen unter dem Aspekt des `langen Zeitraums´ (Braudel: longue durée). Er sucht nach den Vor- und Rahmenbedingungen in der europäischen Moderne, die in dem Genozid kulminierten, dessen Einzigartigkeit er dabei nicht in Frage stellt: „Die Singularität des Nationalsozialismus liegt nicht in seinem Gegensatz zum Westen, sondern in seiner Fähigkeit, eine Synthese aus den verschiedenen Formen der Gewalt zu finden.“ (152)

Enzo Traverso geht davon aus, dass Auschwitz mittlerweile einen festen Platz im historischen Bewusstsein einnimmt, die Formen der Zivilisation hat Auschwitz jedoch nicht geändert. „Wenn Gaskammern heute als Zivilisationsbruch angesehen werden, dann deswegen, weil sie Aporien dieser Zivilisation und ihr Zerstörungspotential aufzeigen.“ (7) Diese Prämisse erklärt, dass, obwohl in dem Buch keine explizit aktuellen Bezüge hergestellt werden, sich die Abhandlung in Passagen hochaktuell liest: es geht um totalitäre Herrschaft, technisch perfektionierte Kriegsführung und rassistisch aufgeladene Ideologien.

Aus der rückschauenden Perspektive setzt sich Traverso kritisch auseinander mit Geschichtsdeutungen wie etwa der Erich Noltes, der Auschwitz als Kopie aus der „asiatischen“ Barbarei herzuleiten suchte (Der europäische Bürgerkrieg), oder mit den monokausalen Erklärungen Goldhagens, der einen „eliminatorischen Antisemitismus“ (Hitlers willige Vollstrecker) als genuin deutsche Eigenschaft herausstellte. Traversos Spurensuche führt dabei nicht etwa zu einer Entlastung Deutschlands und dessen nationalsozialistischer Geschichte, sondern zu einem sensibilisierten Blick auf die gesamteuropäische Entwicklungsgeschichte. In drei Kapiteln untersucht der Autor die europäische Geschichte der industriellen Revolution, des Kolonialismus und der modernen Kriegsführung und geht dann auf die „Synthese“ und den Antisemitismus der Nazis ein.

Strafen und Töten

Es geht Traverso nicht darum, in deterministischer Manier nach Ursachen des Verbrechens, sondern im Sinne Hannah Arendts nach Ursprüngen des Verbrechens zu suchen: „Das Ereignis erhellt seine eigene Vergangenheit, sollte aber nicht daraus abgeleitet werden.“ (Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft) . Auschwitz stellt für Traverso dabei einen negativen Höhepunkt in einer Entwicklungskette von Entmenschlichung und der Industrialisierung des Todes dar. Dieser Endpunkt der Entwicklung war weder teleologisch festgelegt noch ein natürliches Ergebnis – er war lediglich ein möglicher.

Der industriellen Menschenvernichtung der Nationalsozialisten gingen historisch Phasen voraus, die auf eine Mechanisierung des Todes hinführten. Im Zuge der industriellen Revolution entstanden neue Systeme des Überwachens, Strafens und Tötens. Traverso führt die Einführung der Guillotine in Frankreich als Beispiel an: Diese in zeitgenössischen Dokumenten als Einzug des Fortschritts und der Vernunft gegen die Unmenschlichkeit der Folter begrüßte moderne Art des Tötens stellt in seiner Interpretation den Übergang zu Formen des seriellen Tötens dar.

Ein anderes Beispiel sind die im 19. Jahrhundert in Großbritannien in den Gefängnissen entwickelten Foltermethoden, die durch sinnlose Schwerstarbeit – z. B. schwere Steine im Kreis transportieren –  dem ausschließlichen Selbstzweck der Bestrafung und der Erniedrigung dienten. Wenn Primo Levi in „Die Untergegangenen und die Geretteten“ die weit verbreitete, sinnlose Gewalttätigkeit und Arbeitsqual in den Konzentrationslagern als Selbstzweck erkennt, der lediglich darauf abzielte Schmerz hervorzurufen, ist ein verbindendes Element dieser Selbstzweck. Traverso untermauert einzelne Beispiele und Entwicklungslinien mit zeitgenössischen Dokumenten und weitreichender Forschungsliteratur und stellt Verbindungslinien her, die die synthetische nationalsozialistische Praxis in den Konzentrationslagern aufzeigen.

Das Zeitalter der Kolonialkriege

Der Aufstieg der industriellen Zivilisation war begleitet von Eroberungs- und Kolonialkriegen, die unter anderem auch von einem rassistischen Weltbild motiviert waren. „Der Zivilisation den einzigen Teil der Erdkugel öffnen, in den sie noch nicht gedrungen ist, die Finsternis durchstoßen, die ganze Bevölkerungen umhüllt, das ist ... ein Kreuzzug, der dieses Jahrhunderts des Fortschritts würdig ist.“ (52) Dieses ist nicht etwa ein Zitat, aus dem Mund von Zivilisationskriegern zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sondern sind Sätze des Königs Leopold II. von Belgien aus einer Lobrede auf den Kolonialismus im Jahr 1876. 

In den Dokumenten aus der Zeit der Kolonialkriege weist Traverso nach, dass weder das Konzept des Lebensraums noch die Wege zu seiner Beschaffung eine genuine Erfindung der Nationalsozialisten war: schon in der Kolonisierung Indiens wurden Hungersnöte als „heilsame Therapie gegen die Überbevölkerung“ (55) und als Raum schaffend für die weiße Rasse bezeichnet. Sozialdarwinismus, Eugenik und Theorien der Rassenselektion fanden praktische Anwendung in allen Teilen der Erde, in denen die weiße Rasse ihre „zivilisatorische Mission“ zu vollbringen dachte, in Afrika, Asien und Nordamerika. Debatten um das Verschwinden, Aussterben oder die Vernichtung „niedrigerer Rassen“, die diese Eroberungskriege begleiteten, gehörten zum Arsenal der kolonialistischen Kultur Europas. Traverso plädiert dafür, diese kolonialistische Kultur, die nach der Entkolonialisierung stigmatisiert und verdrängt wurde, für das Verständnis des 20. Jahrhunderts wieder zu einem zentralen Gegenstand der Untersuchung werden zu lassen: „Die Verbindung zwischen Nationalsozialismus und klassischem Imperialismus wäre dann nicht, wie heute, beinahe unsichtbar.“ (53)

Der erste Weltkrieg

Eine weitere Etappe in der Geschichte des massenhaften anonymen Todes, des technisierten Mordens und der Verwüstung stellte der erste Weltkrieg dar. Auf den Schlachtfeldern Europas geführt, wurden in diesem totalen Krieg technische, bürokratische und arbeitsorganisatorische Entwicklungen der industriellen Produktionsentwicklung in der Kriegsführung adaptiert: der Massenarbeiter der fordistischen Fabrik wurde zum Massensoldaten der modernen Armee. „Die Vernichtung des Feindes fand gemäß den Modalitäten eines Produktionssystems statt, als sei es, könnte man hinzufügen, nach demselben Paradigma geplant worden, das seit 1913 die Grundlage für den Autobau in den US-amerikanischen Fabriken des Henry Ford darstellte.“ (87)

Der in den Schützengräben verborgene Feind wurde entmenschlicht, anonym und unsichtbar, diese Anonymität korrespondierte mit dem Tod des unbekannten Soldaten. Die Anonymität, der Krieg, der mit automatisierten Waffen gegen ungreifbare Feinde geführt wurde, erzeugte für Traverso einen anthropologischen Bruch, der auf eine neue Wahrnehmung des menschlichen Lebens verwies, die wiederum eine Prämisse für die folgenden Völkermorde werden sollte. Der erste Weltkrieg stellt im Rückblick ein Laboratorium dar, aus dem auch die Architekten der „Endlösung“ schöpften.

Destruktionen des Menschenbildes

Diese Entwicklungen schufen technische, ideologische und kulturelle Vorbedingungen als quasi „mentale Landschaften“,  aus deren Versatzstücken die „Endlösung“ erdacht werden konnte. Begleitet waren sie von der Vermassung des Individuums: Klassenrassismus führte zur Degenerierung des Arbeiters im Produktionsprozess, Rassismus zur Vernichtung von Bevölkerungsgruppen während des Kolonialismus, die „wissenschaftliche“ Definition von Schädlingen und Feinden kulminierte in der Definition des lebensunwerten Lebens der Nationalsozialisten und in dem Vernichtungsfeldzug gegen Juden, Bolschewisten, Behinderte und anderen „minderwertigen Rassen“. 

Die umfangreiche Recherche Traversos zieht Beispiele aus Politik, Wissenschaft, Literatur und Kunst heran, um Aspekte des „mentalen Habitus“ Europas seit dem 19. Jahrhundert und der Entstehung der Industriegesellschaft zurückzuzeichnen. „Diese Verschmelzung von historischen Erfahrungen und Bezugsmodellen, auf die man sich manchmal offen bezog oder die nur untergründig, ja unbewusst vorlagen, verweist in unserem retrospektiven Blick auf die historische Genealogie des Nationalsozialismus. Man könnte ohne weiteres behaupten, dass es einen deutschen `Sonderweg´ gegeben habe, doch sollte er dann nicht im nationalen Einigungsprozess unter der Führung der preußischen Krone, sondern im Nazi-Regime ab 1933 gesucht werden; er betrifft nicht die Ursprünge, sondern den Endpunkt des Nationalsozialismus.“ (153) 

So unbestritten bereichernd die Analyse ist, regt die Untersuchung an einzelnen Punkten zum Widerspruch: so kann die Entwicklung der Guillotine ohne Frage als ein Schritt in eine neue Ära der Technisierung des Tötens bezeichnet werden; dass dieser Bereich des seriellen Todes „bald von einer schweigenden und anonymen Armee von kleinen Funktionären der Banalität des Bösen belebt sein wird“, (32) lässt ein wichtigstes Charakteristikum der nationalsozialistischen Mobilisierung außer acht. Es gab nicht nur die Schreibtischtäter, sondern es gab  Millionen Zuschauer und nicht wenige Männer und Frauen, die sich aktiv am Morden beteiligten, ob in den Konzentrationslagern oder in den Einsatzgruppen. Das Kapitel „Sackgassen der Erzählung“, das von der Unfähigkeit der von den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges zurückkehrenden Soldaten handelt, über ihre Erlebnisse zu berichten, zielt auf die Diskrepanz zwischen Sprache und erlebter Realität, auf die Undarstellbarkeit des Erlebten. Immanent ist das ein nicht zu leugnendes Phänomen und sicherlich in einigen Aspekten auch dem Schweigen einiger Überlebender der Shoah zu vergleichen. Doch folgte diesen Erfahrungen der technischen und menschlichen Materialschlacht eine Phase der entfesselten Brutalität. Der Nationalsozialismus war beides: Kalkül und Hass, rationale Berechnung und Gewaltexzess.

Enzo Traverso: Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors
Stuttgart 2003, ISP-Verlag, 15,- €

gs / tacheles-reden.de / 2004-05-19