Einblicke & Perspektiven:
Eine Broschüre über antirassistische Arbeit in Berlin

Einen Perspektivwechsel einleiten möchte das Projekt ReachOut - Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus...

Inga Börjesson

Mit ihrer informativen und facettenreichen Broschüre über ihre Arbeit in Berlin wollen die MitarbeiterInnen von RachOut die Perspektive der Opfer sichtbar machen, um mehr Menschen gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus in all ihren verschiedenen Äußerungsformen zu mobilisieren.

Das Projekt ReachOut ist im Sommer 2001 entstanden. Neben der Beratung und Unterstützung von Opfern rechter, rassistischer und antisemitischen Angriffe und Bedrohungen werden Vorträge, Veranstaltungen, Workshops und Fortbildungen angeboten. Dabei soll die Situation und Perspektive der Betroffenen im Zentrum der Arbeit stehen. Ein weiteres wichtiges Standbein der Arbeit ist die kontinuierliche Recherche von Polizeiberichten, Zeitungsmeldungen und Internetseiten über Angriffe, die einen rechten, rassistischen oder antisemitischen Hintergrund haben könnten, die dann in einer Chronik veröffentlicht werden. Mit der Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit will ReachOut eine Sensibilisierung für die Situation der Betroffenen erreichen und hofft, dass dadurch die potentiellen Opfer besser vor Angriffen geschützt sind. Aber nicht nur das Gewaltpotential der Angreifer trifft die Opfer, sondern auch „die Gleichgültigkeit, das Wegsehen oder gar die Zustimmung unbeteiligter Passanten“.

Adressaten der Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit sind v.a. MultiplikatorInnen, Basisgruppen, aber auch MedienvertreterInnen und bezirkliche Einrichtungen. Es geht darum, gemeinsam Gegenstrategien und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln und Strukturen aufzubauen, so „dass die Opfer in ihrem Stadtteil und näheren Umfeld Beratung und Unterstützung bekommen können.“

In der Broschüre werden aus der Sicht unterschiedlicher Akteure und Beteiligter Einblicke in die Beratungs- und Unterstützungstätigkeiten von ReachOut gewährt und deren Bedeutung und Wirksamkeit diskutiert. Anhand von Fallbeispielen und persönlichen Schilderungen wird deutlich, dass die traumatischen Folgen der physischen Angriffe durch das (Nicht-)Agieren der sozialen Umwelt verstärkt werden. Nachvollziehbar wird dabei die Vielschichtigkeit des rassistischen Alltags beschrieben, dem diejenigen ausgesetzt sind, die „den Normalitätserwartungen der Mehrheitsbevölkerung nicht entsprechen“ (1).

So wird über den Fall des iranischen Studenten berichtet, der an seinem Arbeitsplatz – einer Filiale der Firma „Le Crobag GmbH und Co KG“ – von einer Gruppe junger Männer  brutal misshandelt wird. Ignorante Passanten, Polizisten, die sich mehr für seinen Aufenthaltsstatus als für den Tathergang und seine ärztliche Versorgung interessieren gehören ebenso zu den traumatischen Erfahrungen, wie die Weigerung seines Arbeitgebers, ihm Lohnfortzahlung zu gewähren und ihn in Zukunft an einem weniger gefährlichen Ort einzusetzen.

Gemeinsam mit ReachOut geht er an die Öffentlichkeit, und es gelingt ihm, mit Hilfe eines Rechtsanwaltes die Lohnfortzahlung von seinem ehemaligen Arbeitgeber zu erstreiten. Deutlich wird, dass ohne eine solche Unterstützungsarbeit, wie ReachOut sie leistet, die wenigsten Opfer die Kraft finden würden, für ihre Rechte und gegen solche Praktiken anzugehen.

Auch in dem zweiten Fallbeispiel ist die zentrale Bedeutung der psycho-sozialen Unterstützung der Betroffenen, der Beratung und der Begleitung zu anstehenden Gerichtsverhandlungen, klar heraus zu lesen. Hier geht es um rassistisch motivierte Polizeigewalt und willkürliche Misshandlungen. Versuchen die Opfer, sich juristisch gegen diese Übergriffe zu wehren, führt das meistens zur Anzeige gegen sie selbst. ReachOut bewegt sich in einem Netzwerk überregional agierender Organisationen – von Amnesty International London über kritische Polizisten bis hin zu unterschiedlichen Bürgerrechtsgruppen - das Unterstützung  bei Recherche, Öffentlichkeitsarbeit und Gerichtsverhandlungen anbietet. 

In dem persönlichen Bericht eines Opfers rassistischer Gewalt wird die traumatische Dimension des Allein-gelassen-werdens von seinen Mitmenschen in einer Situation größter Bedrohung und Demütigung fühlbar. Das Gefühl der Verlorenheit und des Entsetzens ergreift ihn nicht nur wegen der brutalen Misshandlungen, die er erleiden muss, sondern auch wegen der Passanten, die dem brutalen Geschehen gleichgültig oder gar zustimmend begegnen.

ExpertInnen aus dem Bildungsbereich, der Wissenschaft und Politik beleuchten die gesellschaftliche Bedeutung sowohl der individuellen Opferberatung als auch der von ReachOut geleisteten Bildungsarbeit.
 
Thematisiert wird z.B. die eingeschränkte Bewegungsfreiheit ausländischer StdentInnen sowie die psychischen Folgen der alltäglichen Selbstbeschränkung infolge der verinnerlichten Bedrohungssituation: Selbstabwertung und Schuldgefühle. Dieses wird strukturell unterstützt durch das herabsetzende Agieren von Behörden, Stadtverwaltung etc., aber auch durch das unmittelbare soziale Umfeld wie z.B. KommilitonInnen und DozentInnen, die sich ähnlich diskriminierend verhalten. Umso wichtiger seien solche Orte wie ReachOut, wo die Verletzung der Menschenrechte und das Recht auf Respekt und Unversehrtheit in den öffentlichen Diskurs gebracht werden.

Einig sind sich alle, dass „die Bekämpfung von Rassismus und rechtextremen Einstellungen ... in der Mitte der Gesellschaft beginnen“ (2) muss und die Arbeit von ReachOut einen wichtigen Teil dazu beiträgt. Wer die Augen nicht vor dieser beschämenden gesellschaftlichen Realität verschließen will und Anregungen und Mut zum Handeln sucht, sollte sich diese Broschüre besorgen.

ReachOut (Hrsg.) 2003: Einblicke & Perspektiven

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10969 Berlin
Tel: 030/6 95 68-339
Fax: 030/69 56 83 46
info@reachoutberlin.de

(1) Birgit Rommelspacher: Ein Perspektivwechsel ist notwendig. In: ReachOut (Hg.) 2003: Einblicke und Perspektiven, S. 5
(2) Günter Piening: Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. In: ReachOut (Hg.) 2003: Einblicke und Perspektiven, S. 26

gs / tacheles-reden.de / 2004-05-19