Rezension:
Benny Barbasch – Mein erster Sony

„… oder man versuchte zuzuhören, so wie ich und die Sache zu verstehen und zu dem Schluß zu gelangen, dass scheinbar alle recht haben, allen tat es im Inneren weh, und wie konnte es sein, dass der andere nicht begreift, dass er sich irrt? Wie konnte das sein?“ (S.84) ...

Tanja Kinzel - tacheles reden

Was der zehnjährige Jotam beschreibt sind die verschiedenen Perspektiven auf die Spannungen im heutigen Israel, Perspektiven, die Benny Barbasch feinfühlig und mit Witz, aber ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben festhält, eine Chronik israelischer Gegenwart und Geschichte. Seit Jotam von seinem Vater den ersten Kassettenrekorder, einen Sony, geschenkt bekommen hat, ist vor ihm nichts mehr sicher: nicht die Streitigkeiten seiner Eltern, nicht die Liebesgeschichten seines Vaters noch die politischen Auseinandersetzungen beim Seder oder anderen Familienzusammenkünften.

 

Während Jotams Mutter Alma, eine Architektin, damit beschäftigt ist, die Familie und das Einkommen zusammenzuhalten und den Alltag zu organisieren, verliert sich Jotams Vater, Assi, erfolgloser Verfasser von nichtvollendeten Theaterstücken, in zahlreichen Liebesaffären, in denen er jedoch keinen Halt finden kann. Aufgrund der prekären familialen Einkommenslage, sieht er sich schließlich gezwungen als Ghostwriter die Geschichten von Shoah Überlebenden zu verfassen, eine Aufgabe, die an seinen Nerven zehrt. Um die familiären Auseinandersetzungen besser meistern zu können, holt sich die Mutter immer wieder praktische Lebensberatung in ihrem SOS „Schaschlikrat“, bestehend aus einigen Freundinnen, in dem Herzensangelegenheiten und sonstige Probleme mit der Männerwelt behandelt werden. Nachdem die gemeinsame Familientherapie nicht fruchtet, kommt es im Zuge einer weiteren Affäre des Vaters zu dessen endgültigem Auszug aus der Wohnung. Die Mutter, eine politische Dissidentin aus Argentinien, freundet sich mit dem russischen Einwanderer Leonid an, der seinen Verbleib in Israel nur sichern kann, indem er sich beschneiden lässt.

 

Jotams Großvater, ein gebürtiger Pole, der die Shoah im politischen Untergrund überlebt hat, wird als imposante Persönlichkeit vorgestellt, der der Familie, bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten seine persönliche Sicht auf die Geschichte Israels darlegt. Dieses Thema ist denn auch der Anlass für die zahlreichen politischen Auseinandersetzungen: Während Jotams Großvater, als Anhänger des rechten Likud Block, den Verfall der israelischen Gesellschaft beklagt und von den guten alten Zeiten des Staatsaufbaus träumt, bekennt sich Jotams Mutter zur linken Friedensbewegung und wirbt für die Organisation Jesh Gwul, die zur Kriegsdienstverweigerung in den palästinensischen Gebieten aufruft. Konfliktthema ist aber auch die Unterschrift, die Jotams Vater 1977 unter den Offiziersbrief von „Shalom Achschaw“ an den Ministerpräsident Menachem Begin gesetzt hat, in dem die Rückgabe der Westbank und des Gazastreifens gefordert wurde, um die Chancen für ein Friedensabkommen zu erhöhen – eine Schande in den Augen des Großvaters.

 

In dem bunten Pottpurri von Persönlichkeiten und verschiedenen Perspektiven taucht außerdem der orthodoxe Bruder des Vaters auf, der die Thora studiert, sich in Abraham umbenannt hat, auf eine streng koschere Ernährung achtet und solange Kinder in die Welt setzt, bis es seiner Frau reicht und sie sich mit Almas Unterstützung sterilisieren lässt – ein Eklat, der zum Kontaktabbruch zwischen den Familien führt. Zum Kontaktabbruch kommt es auch als Jotams Muttter sich weigert zur Bar Mizwa des erstgebohrenen Sohnes des zweiten Bruders des Vaters, in die jüdische Siedlung Ariel in der Westbank zu fahren. Und dann gibt es da noch die Großmutter, eine Shoah Überlebende, die nicht über ihre Vergangenheit spricht, die Streitigkeiten immer wieder schlichtet und letztlich „alle in die Tasche steckt“.

 

So vielfältig wie die Perspektiven auf das Leben und auf die Spannungen im heutigen Israel, sind auch die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder und ihrer FreundInnen. Und Jotam dokumentiert all das, was die Erwachsenen immer wieder vor sich und den Kindern verstecken wollen: ihre eigene Zerissenheit ihre Träume, ihre Ideologien und Ängste – und erkennt letztlich mehr als sie selbst: „Die Erwachsenen sprechen über Dinge, die wir nicht sehen können, und wir reden über Dinge, die sie nicht wahrnehmen, und so gibt es zwischen uns eine unsichtbare Trennungslinie, und wer sie überquert, hört auf etwas zu sein, und ist dabei etwas anderes zu werden.“ (S.111) Was Jotam und sein Bruder hier nicht sehen ist die grüne Linie, über deren Verlauf sich sein Vater und der Großvater auf dem gemeinsamen Fahrt nach Ariel streiten - so wie sein Vater als Kind bei seiner Überfahrt nach Argentinien den Äquator nicht finden konnte, überlegt sich Jotam.

 

Mit Tempo und Witz voll von assoziativen Verweisen und Gedankensprüngen, die die einzelnen Geschichten durchqueren und dann doch wieder zusammenkommen ist dieses Buch geschrieben – voll von bewegenden, verwirrenden, aber auch liebevollen Szenen. Und es ist eine Homage an Israel, wo trotz aller Leichtigkeit auch die Schwere des Konfliktes durchscheint, etwa wenn Jotam feststellt, dass sie alle mit ihren unterschiedlichen Perspektiven, obwohl sie so sehr aneinander hängen, doch nicht zusammenkommen. Was nach der Lektüre bleibt ist jedenfalls ein tiefer Einblick in die Vielfältigkeit der israelischen Gesellschaft, dokumentiert auf einem Sony.

 

Benny Barbasch: Mein erster Sony. Roman.

Aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling

List Taschenbuch, München 2003

 

gs / tacheles-reden.de / 2004-04-01