Erich Mühsam:
Sich fügen heißt lügen

"Sich fügen heißt lügen" heißt eine Ausstellung über Leben und Werk Erich Mühsams, die noch bis Mitte April im Archivgebäude der Akademie der Künste zu sehen ist. Mit Bildern, Dokumenten und Texten wird das politische und kulturelle Engagement des kompromisslosen Streiters und Dichters gegen Autorität und Unterdrückung in zeitlicher Chronologie rekonstruiert....

Gudrun Schroeter - tacheles reden

Erich Mühsam gehörte zu jener Generation in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts, die von den Ereignissen der Geschichte besiegt wurde. Walter Benjamin fordert von der Geschichtsschreibung, den Standpunkt der Besiegten aufzunehmen und die Geschichte gegen den Strich zu bürsten. (1) Diesen Gedanken nimmt Michael Löwy auf und schreibt in seiner Untersuchung „Utopie und Erlösung“, über die geistigen Strömungen des jüdischen Messianismus und libertäres Denken, dass es paradox klinge, aber gerade weil es sich bei den Vertretern dieses Denkens „um Verlierer handelt, um Außenseiter, die gegen den Zeitgeist gedacht haben, gegen den Strom geschwommen sind, um trotzige Romantiker und unheilbare Utopisten, gerade deshalb gewinnen ihre Werke immer mehr an Aktualität und Sinngehalt, …“ (2) Genau in diesem Kontext ist auch diese Ausstellung zu sehen, die auch zu kritischer Reflexion aus der heutigen Perspektive reizt.

Anarchismus war für Erich Mühsam weniger eine feste Ideologie, sondern Lebensgefühl und Lebensgestaltung, was er nicht nur in seinen politischen Schriften, Gedichten und Bühnenstücken zum Ausdruck brachte, sondern auch in seinem Alltag – in der Boheme wie in der Politik – lebte. Frank Wedekind hinterfragte diese Lebensweise: „Sie reiten auf zwei Gäulen, die nach verschiedenen Richtungen streben, sie werden Ihnen die Beine auseinander reißen.“ Worauf Mühsam antwortet: „Wenn ich einen laufen lasse, verliere ich die Balance und breche mir das Genick.“ (3)

Der Weg zum Anarchismus

1978 wurde Erich Mühsam als Sohn einer jüdischen Apothekerfamilie in Lübeck geboren. Das Jüdische spielte jedoch keine Rolle im Alltag der Familie Mühsam. Die Kinder besuchten den Religionsunterricht, darüber hinaus wurden Glaubens- und Traditionsfragen liberal gehandelt. Der national-konservativ gesinnte Vater führte ein strenges Regiment, das „Erziehungsmittel“ Peitsche stets griffbereit, um den aufgeweckten Sohn in Schranken zu weisen. Auch die frühen Versuche des Jungen sich dichterisch zu betätigen, wurden als Ablenkung von den Pflichten geahndet. Wegen „sozialistischer Umtriebe“ musste er das Gymnasium verlassen – er hatte sich in einem Artikel ironisch gegenüber dem Schuldirektor geäußert – und wurde von seinem Vater in eine Apothekerlehre gezwungen. Der erste Kampf gegen das autoritäre Regime des Vaters sollte als Kampf gegen jegliche Autorität bis zu seinem Lebensende eine unumstößliche Prämisse werden.

Großstadt und Boheme

1900 ging Erich Mühsam als freier Schriftsteller nach Berlin, traf auf den lebensreformerischen Kreis um die Brüder Hart, auf den Dichterkreis um Bruno Wille und auf das Leben der Boheme. Seine erste größere Veröffentlichung im Jahr 1903 beschäftigte sich mit dem Thema Homosexualität. Er schloss sich den Forderungen des 1897 von Magnus Hirschfeld gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitees an im Kampf gegen den Paragraphen 175. In diesem Text geht Mühsam auch der Frage nach, wie sich Homosexualität erklären lässt. Aus heutiger Sicht erscheint sein biologistischer Erklärungsversuch der Homosexualität als angeboren grotesk. Im zeitlichen Kontext galt es, die Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung zu untermauern: das, was „natürlich“, d.h. angeboren ist, durfte und konnte nicht verboten werden. Lesbische Liebe wird in diesem Artikel nur am Rande thematisiert mit der Begründung, dass sie strafrechtlich nicht verfolgt werde und somit für die politische Forderung irrelevant sei.

Doch diese formale Erklärung weist darauf hin, dass die Freiheit des Individuums schlussendlich die Freiheit der Männer war. Denn wie kann staatliche Repression, die verhasste staatliche Autorität zur Begründung der Unterscheidung dienen, wo die Freiheit eines jeden Individuums inklusive seiner sexuellen Freiheit den ultimativen Ausgangspunkt für die neue freie Gesellschaft darstellt? Bei allen Forderungen nach Gleichheit ist Erich Mühsam ein Mann seiner Zeit und, wie auch bei anderen Protagonisten der freiheitlichen Gedanken, liest sich diese Gleichheit heute nicht selten als Freiheit des Mannes.

Vor allem in einigen Gedichten und den Tagebüchern Mühsams wird ein zwiespältiges Verhältnis zu Frauen deutlich. In seiner Definition der freien Liebe steht diese Liebe häufig als Synonym für Sexualität und männliche Befriedigung. Die Perspektive auf die Frau ist die auf das Objekt. (4)

Freundschaft mit Gustav Landauer

Eine neue Phase des politischen Engagements begann für Mühsam durch den Kontakt und die Freundschaft mit Gustav Landauer, der ihn mit den Ideen der russischen Sozialrevolutionäre bekannt machte. Gemeinsam entwickelten sie Ideen für modellhafte Siedlungsprojekte, kooperative Gemeinschaften, in denen das Zusammenleben auf selbständiger und freier Vereinbarungen der Einzelnen basieren sollte.

In dieser Zeit veröffentlichte Erich Mühsam den Gedichtband „Die Wüste“, in dem ein einsamer Pilgerer die Lebenswüste durchwandert, voller unerfüllter Sehnsucht, getrieben von Nihilismus und verzweifelter Hoffnung. Gustav Landauer beurteilte den Band: „Alles in allem: Du hast Deinen Menschen herausgeschrieen, und es ist ein wertvoller Mensch.“ (5)

Für Mühsam schloss sich eine Zeit der Wanderschaft an. Auf den Stationen Zürich, Genf, dem Monte Veritá entstanden neue Kontakte zu anarchistischen Gruppen und Zirkeln. Eine kurze Zeit verbrachte er in Wien und veröffentlichte in Karl Kraus´ „Fackel“. Er kritisierte den Staat und seine Institutionen, Hierarchie und Autorität, geißelte die opportunistische Politik der Sozialdemokratie und vertrat vehement das Konzept der direkten Aktion. Parlamentarismus und Klassenkampf waren für ihn Antagonismen.
 
1909 wurde Mühsam in München sesshaft und gründete die Gruppe „Tat“ – Zur Agitation des Subproletariats. Verbindungen bestanden zum „Sozialistischen Bund“, in dem Gustav Landauer und Martin Buber aktiv waren und die Ideen von sozialistischen Siedlungsgenossenschaften weiter entwickelten.

Öffentliche Agitation

Mit seinen Veröffentlichungen geriet Erich Mühsam immer wieder in das Visier der Obrigkeit. Nach seiner Verhaftung und einem Prozess im Jahr 1910 mit dem Vorwurf der Geheimbündelei wurde er frei gesprochen. Die absurde Anklage – denn geheim agitierte Mühsam bei weitem nicht, es gab öffentliche Auftritte mit hunderten von BesucherInnen – hatte trotz des Freispruchs Konsequenzen. Die bürgerlichen Zeitungen weigerten sich, seine Artikel weiterhin zu drucken und eine wichtige Überlebensquelle versiegte. Daran änderte auch ein in der „Zukunft“ abgedrucktes Protestschreiben nichts, dass von Schriftstellern wie Heinrich und Thomas Mann, Franz Wedekind und anderen unterschrieben war.

Eine Woche nach Ausbruch des ersten Weltkriegs notierte Mühsam eine Woche darauf in sein Tagebuch: „ … Und es ist Krieg. Alles Fürchterliche ist entfesselt. Seit einer Woche ist die Welt verwandelt. Seit drei Tagen rasen die Götter. Wie furchtbar sind diese Zeiten. Wie schrecklich nah ist der Tod.“ (6) Bündnisse mit linken Sozialdemokraten und pazifistischen Gruppen zu einer Antikriegskoalition kamen nicht zustande. Mühsam organisierte ab Mitte 1916 Hungerdemonstrationen und wurde nicht müde, die revolutionäre Aktion, den Streik, die Kriegsdienstverweigerung als Mittel zur „Bekämpfung des Staates in seinen wesentlichen Erscheinungsformen Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Klassenherrschaft, Zweckjustiz und Unterdrückung in jeder Gestalt“ (7) zu propagieren. Knapp zwei Jahre später wurde er, trotz seiner politischen Isolation vom Münchener Generalkommando wegen „staatsgefährdender Umtriebe“ nach Traunstein verbannt.

Münchener Räterepublik

Nach Ausrufung des Freistaats Bayern nach einer Sitzung der Arbeiter- und Soldatenräte am 7. November 1918 schien für Erich Mühsam das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft in greifbare Nähe gerückt. Der noch aus der Kriegszeit resultierende politische Grabenkampf mit dem USPDler Kurt Eisner, der an unterschiedlichen Einschätzungen der russischen Oktoberrevolution entbrannt war, weitete sich aus. Primäres Ziel Eisners war, über demokratische Wahlen eine republikanische Verfassung zu erreichen. Mühsam hielt an seiner kompromisslosen Haltung fest und unterstützte die Arbeit der „Vereinigung internationaler Revolutionäre“ (VRI), die eine Einheitsfront der anarchistischen und revolutionären Kräfte zum Ziel hatte. In einem Flugblatt der Vereinigung hieß es: „… Wir sind nicht zufrieden mit der Beschränkung der revolutionären Forderungen auf politische Angelegenheiten. Wir verlangen die Verwirklichung des Sozialismus als Krönung der gegenwärtigen Volksbewegung.“ (8)

Anfang Dezember führte die VRI eine spektakuläre Aktion durch: mit der Unterstützung von etwa eintausend Soldaten wurden die Redaktionen Münchener bürgerlicher Zeitungen besetzt. Die Betriebe sollten vergesellschaftet und unter die Kontrolle der Aufständischen gestellt werden. Jedoch nach wenigen Stunden scheiterte die Besetzung, Eisner hatte sich persönlich eingeschaltet und das „Münchener Tageblatt“ berichtete von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Eisner und dem „zeitweiligen Chefredakteur Erich Mühsam“. (9) Die Kluft zwischen Gemäßigten und Revolutionären vertiefte sich. Im April 1919 wurde die Räterepublik nach heftigen Hegemoniekämpfen der verschiedenen Gruppen von den weißen Truppen der Reichsregierung niedergeschlagen, Gustav Landauer im Mai 1919 von Soldaten auf der Straße erschossen, Mühsam zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt. In dieser Haft entstand das Gedicht, das der Ausstellung ihren Namen gab.

Haft, Weimarer Republik

Auch in der Haft arbeitete Mühsam weiter. Er schrieb über die Ereignisse in München: „Von Eisner bis Leviné“, einen persönlichen Rechenschaftsbericht über die Revolutionsereignisse, beendet das Arbeiterdrama „Judas“, das 1928 auch auf der Piscator-Bühne zur Aufführung kam. Mühsam distanzierte sich von den Entwicklungen in der zeitgenössischen bildenden Kunst und Literatur, auch von der expressionistischen Bewegung, die in seinen Augen „allenfalls dem Modernisierungsbedürfnis der Bourgeoisie, aber nicht dem Drang des Proletariats, aus Kunst erhöhtes Erleben zu ziehen“ (10) diene.

Die Festungshaft zehrte an Erich Mühsams Gesundheit. Versuche seiner Freunde, ihn freizubekommen, blieben ohne Erfolg. Erst im Zuge einer Amnestie für Adolf Hitler, der nach seinem gescheiterten Putschversuch vom November 1923 ebenfalls in Haft war, wurden auch linke Gefangene freigelassen. Nach seiner Freilassung blieb Mühsam ein Einzelkämpfer, engagierte sich in der Roten Hilfe, hielt Vorträge, agitierte, schrieb Gedichte, Theaterstücke, seine „Unpolitischen Erinnerungen“ erschienen in der „Vossischen Zeitung“ und er gab die Zeitschrift „Fanal“ heraus.

Nationalsozialismus

Schon früh, seit 1929, warnte Erich Mühsam vor dem Nationalsozialismus. Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 wurde er verhaftet und mit weiteren etwa viertausend Kommunisten, Liberalen, Schriftstellern und Intellektuellen in Schutzhaft genommen. Als Jude und Anarchist dem Hass des antisemitischen Regimes ausgesetzt, wurde Mühsam durch mehrere Gefängnisse geschleust und misshandelt. Im Juli 1934 übernahm die SS das Konzentrationslager Oranienburg, in dem Mühsam seit Februar inhaftiert war. Am 10. Juli wurde er ermordet.


Mühsam und das Judentum

1926 trat Erich Mühsam, der nie ein religiöses Leben gelebt hatte, aus der Jüdischen Gemeinde aus. Doch spielte das Religiöse keine Rolle im Denken Mühsams? Jüdische Intellektuelle dieser Zeit hatten unterschiedlichste Einstellungen zum Judentum, Georg Lukácz verleugnete es, für Franz Kafka stellte es eine permanente Auseinandersetzung dar und für Gustav Landauer wurden messianische Ideen des Judentums mehr und mehr Quelle der Inspiration und fanden sich wieder in seiner säkularen sozialistischen Utopie. Die lebenslange Freundschaft mit Landauer, dessen er sich nach seiner Ermordung als den „besten Freund, mit dem ich schon im Leben und eben der Idee wegen so eng verbunden war“ (11), und dessen „religiöser Atheismus“ (12) hat Spuren im Werk Mühsams hinterlassen.
 
Im Februar 1927 erschien in der „Fanal“ das kämpferische Pamphlet „Bismarxismus“, in dem Mühsam gegen Positivismus und Idealismus, gegen Bismarck und Karl Marx zu Felde zieht. Einleitend definiert er seinen Begriff von Freiheit: „Freiheit ist ein religiöser Begriff. Wer mit dem Ziele der Freiheit Revolutionär ist, ist ein religiöser Mensch, revolutionär sein ohne religiös zu sein, heißt mit revolutionären Mitteln andere als freiheitliche Ziele anstreben. Anders gesagt: Revolutionäre Entschlossenheit kann aus einer seelischen Not stammen, aus dem Empfinden der Unerträglichkeit von Zwang, Gesetz und Entpersönlichung - dann ist sie religiös; sie kann auch stammen aus der nüchternen Errechnung von Zweckmäßigkeit, wenn sich unter ihren Faktoren die Revolution als unumgängliches Mittel erwiesen hat - dann ist sie positivistisch.“ (13) Religiöses und Befreiung scheinen unabdingbar miteinander verbunden, die ethischen Kriterien des Revolutionärs erwachsen einer religiösen Ethik. 

Im Verlauf dieses Textes widersetzt er sich einem verbalen Angriff, auch er habe sich nun der „fatalistischen Ideologie des Marxismus ergeben, die die Weltgeschichte nach ehernen Gesetzen und unabhängig vom aktiven Tatwillen der Menschen in ´naturnotwendiger` Entwicklung dialektisch ihr Pensum erledigen sieht. Im Gegenteil: Ich stimme vollständig überein mit der Ansicht Gustav Landauers, dass jederzeit und überall die Beseitigung des Kapitalismus und die Aufrichtung des Sozialismus möglich ist, wenn die Menschen das Notwendige veranstalten, um die revolutionären Bedingungen dazu zu schaffen.“ (14) Nicht der falsche Glaube an Fortschritt und Wissenschaft, den er den Vertretern des positivistischen Gedankens vorwirft, nicht der an ein Jenseits oder die Hoffnung auf bessere Zeiten, der die christliche Konzeption charakterisiert, werden eine Veränderung der Verhältnisse erreichen, sondern Veränderung ereignet sich allein durch das unmittelbare menschliche Handeln. Die von Landauer vertretene, hier von Mühsam übernommene Idee des revolutionären Moments, der jederzeit geschehen kann, und die Kritik an einer Zukunftsidee, die von einer teleologischen Vorstellung von Fortschritt determiniert ist, finden sich ebenso im Denken etwa Martin Bubers oder Walter Benjamins.

Das Eingedenken in die „Tradition der Unterdrückten“ belehrt uns, den zur Regel gewordenen Ausnahmezustand zu erkennen und ... „Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.“ (15)

Zurück zur Ausstellung

Die Ausstellung im Archivgebäude ist zu sehen in den Fluren des Gebäudes und daher nicht unbedingt Großgruppen – kompatibel, sodass es sich empfiehlt sie zu zweit, zu dritt, zu viert? zu besuchen. Sonst ist es zu eng!

4.2.-16.4.
Archivgebäude, Robert-Koch-Platz 10, Berlin-Mitte
SICH FÜGEN HEIßT LÜGEN
Leben und Werk des Schriftstellers und Anarchisten Erich Mühsam
montags bis freitags 9.00 bis 17.00 Uhr (außer an Feiertagen), Eintritt frei


Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Ein Magen, zwei Arme,
ein kleines Hirn und ein großer Mund,
und eine Seele dass Gott erbarme!
Was muss der Mensch? Muss schlafen und denken,
muss essen und feilschen und Karren lenken,
muss wuchern mit seinem halben Pfund.
Muss beten und lieben und fluchen und hassen,
muss hoffen und muss sein Glück verpassen
und leiden wie ein geschundner Hund.

 

Jeden Abend werfe ich

Jeden Abend werfe ich
eine Zukunft hinter mich,
die sich niemals mehr erhebt
denn sie hat im Geist gelebt.
Neue Bilder werden, wachsen;
Welten drehn um neue Achsen,
werden, sterben, lieben, schaffen.
Die Vergangenheiten klaffen.
Tobend, wirbelnd stürzt die Zeit
in die Gruft.  Das Leben schreit!


Der Gefangene

Ich hab's mein Lebtag nicht gelernt,
mich fremdem Zwang zu fügen.
Jetzt haben sie mich einkasernt,
von Heim und Weib und Werk entfernt.
Doch ob sie mich erschlügen:
Sich fügen heißt lügen!

Ich soll? Ich muß?  Doch will ich nicht
nach jener Herrn Vergnügen.
Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.
Rebellen kennen beßre Pflicht,
als sich ins Joch zu fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Der Staat, der mir die Freiheit nahm,
der folgt, mich zu betrügen,
mir in den Kerker ohne Scham.
Ich soll dem Paragraphenkram
mich noch in Fesseln fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Stellt doch den Frevler an die Wand!
So kann's euch wohl genügen.
Denn eher dorre meine Hand,
eh ich in Sklavenunverstand
der Geißel mich sollt fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Doch bricht die Kette einst entzwei,
darf ich in vollen Zügen
die Sonne atmen  Tyrannei !
Dann ruf ich's in das Volk: Sei frei!
Verlern es, dich zu fügen!
Sich fügen heißt lügen!

 

(1) Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (These VII), Stuttgart 1972, S. 145
(2) Michael Löwy: Erlösung und Utopie, Berlin 2002, S. 9
(3) Marlies Fritzen (Hg.): Erich Mühsam. Sich fügen heißt lügen, Göttingen 2003, S. 23
(4) Erich Mühsam: Tagebücher 1910 – 1924, Lübeck 1995
(5) wie (2), S. 24
(6) ebd. S. 78
(7) ebd. S. 49
(8) ebd. S. 83
(9) ebd.
(10) ebd. S. 106
(11) Erich Mühsam: Tagebücher, S. 328
(12) Michael Löwy: Erlösung ..., S. 200
(13) Erich Mühsam: Bismarxismus, in Fanal, Jahrgang 1, Nr. 5, Februar 1927
(14) ebd.
(15) Walter Benjamin: Über den ... , (VIII), S. 144/145


 

gs / tacheles-reden.de / 2004-03-15