Interview mit Michael Warschawski:
"An der Grenze"

Das 2003 im Französischen publizierte Buch Michael Warschawskis "Sur la frontiére" erschien nun im Nautilus-Verlag in deutscher Sprache. In "An der Grenze" hat Michael Warschawski seinen persönlichen Weg für politische Veränderung und für eine kulturelle Pluralisierung seit den 70er Jahren nachgezeichnet und eine Geschichte der linken Bewegung Israels und ihres Wandels geschrieben....

Endy Hagen / Gudrun Schroeter


Michael Warschawski wurde 1949 in Straßburg als Sohn einer jüdisch-orthodoxen Familie geboren und zog 1965 nach Jerusalem, um den Talmud zu studieren. Seine Politisierung begann mit den Erfahrungen des Sechs-Tage-Krieges. Er wurde Mitbegründer der Mazpen-Bewegung, die die Besatzungspolitik der israelischen Regierung ablehnte und sich für eine Koexistenz von Israelis und Palästinensern einsetzte. Diese Haltung wurde das Axiom seines Handelns in weiteren Gruppen, die sich in den folgenden Jahrzehnten für Frieden in der Region engagierten.


F: Vor einer knappen Woche hat die israelische Armee Sheikh Yassin, den Führer der Hamas, getötet. Zu seinem Nachfolger wurde Rantisi ernannt, der im vergangenen Jahr nicht einmal bereit war, dem Waffenstillstand mit Israel zuzustimmen.

Ich denke nicht, dass es in der Politik der Hamas substantielle Unterschiede geben wird mit Rantisi an der Spitze an Stelle Yassins. Rantisi war der politische Führer der Hamas, Sheikh Yassin war die spirituelle Autorität. Es hat in den Zeitungen einige Spekulationen gegeben, aber ich persönlich glaube nicht an eine substantielle Veränderung der Politik der Hamas.

Aber was die Ermordung Sheikh Yassins definitiv erreicht hat, ist – vor einigen Tagen war es eine Schlagzeile in Ha’aretz: „Die Tore der Hölle wurden geöffnet“. Das bedeutet, wir treten in eine Situation ein, in der es enorme Vergeltungsschläge geben wird. Ich fürchte nicht nur, dass israelische Zivilisten ihr Ziel sein werden, sondern es wird Ziele in der ganzen Welt treffen, einschließlich jüdischer Institutionen. In gewisser Weise ist die Ermordung Sheikh Yassins nicht mehr nur als Teil eines nationalen, eines politischen Konflikts wahrgenommen worden, sondern schon als Teil eines religiösen Konflikts. Ein religiöses Symbol wurde angegriffen und ich bezweifle, dass die israelische Führung das nicht gewusst hat. Das Ergebnis wird sein, dass in einem solchen Krieg jeder Jude als Jude zum Angriffsziel wird.


F: Sie stimmen also mit der These überein, dass die Bedeutung der Religion in diesem Konflikt zunehmen wird?

Ich weiß nicht, ob sich die Bedeutung der Religion vergrößern wird, aber ich denke tatsächlich, dass die Ermordung Sheikh Yassins von vielen Arabern und Muslims als Angriff auf sich selbst verstanden wuedw, sogar unabhängig von der Palästinafrage als solche.


F: Sie gehen davon aus, dass sich die Auseinandersetzung radikalisieren und globalisieren wird?

Wir sind schon mitten drin. Ich bin sicher, dass sich die Ideen dieser israelischen Regierung in totaler Symbiose mit dem globalen, permanenten und präventiven Krieg der Neokonservativen in den Vereinigten Staaten befinden, mit der Vorstellung von einer zweigeteilten Welt – sie nennen das judäo-christliche Zivilisation contra Terrorismus, gegen Barbarei. Das ist der strategische Rahmen, in dem in Israel heute gedacht wird. Die israelische Regierung sieht sich in gewisser Weise als Avantgarde im Krieg der Zivilisationen gegen die muslimische Barbarei.


F: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Zunahme des jüdisch-religiösen Fundamentalismus?

Er ist offensichtlich Teil eines Doppelphänomens. Zu allererst ist da das Phänomen eines interkulturellen Kriegs und die neue Entscheidung innerhalb des jüdischen Fundamentalismus, sich mit fundamentalistischen Christen gegen den Islam zu verbünden. Das ist etwas ziemlich Neues in der jüdischen Tradition. In der Geschichte hat es mehr muslimisch-jüdische Allianzen gegen das Christentum gegeben als anders herum. Aber weil wir uns in diesem globalen Krieg befinden, angeführt von den Amerikanern und besonders von dieser Koalition aus Neokonservativen und protestantischem Fundamentalismus, sieht der neue jüdische Fundamentalismus, der mit dem messianischen Krieg in Eretz Israel und Palästina seine eigene Agenda verfolgt, die Notwendigkeit sich dieser weltweiten Allianz anzuschließen.

Aber ich glaube, er ist auch Teil eines anderen Phänomens, das zur neoliberalen Globalisierung insgesamt gehört. In Frankreich wird es Kommunitarismus genannt. Das bedeutet, dass die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft sehr betont wird, sei sie ethnisch oder religiös. Dies gibt ganz offensichtlich dem Fundamentalismus Nahrung, dem muslimischen Fundamentalismus ebenso wie dem jüdischen oder anderen Fundamentalismen. Zum Teil erleben wir diese Art der, wie ich es nenne, „Vergemeinschaftung“ auch in Europa, die Verstärkung muslimischer Identität genau wie jüdischer Identität und auch lokaler, nationaler oder quasinationaler Zugehörigkeiten.


F: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie in Israel zunächst als Talmudschüler in Merkaz HaRav, der Yeshiva des Rabbi Kook, dem verstorbenen Gründer von Gush Emunim und der nationalreligiösen Bewegung Israels, studiert haben. Wie sind Sie von dort zur radikalen Linken gelangt?

Vorweg: Mein Buch „An der Grenze“ ist keine Autobiographie und es will auch keine sein. Denn wenn es eine Autobiographie wäre, dann hätte sie große Löcher. Jeder fragt mich, warum hast Du aufgehört religiös zu sein. Darüber habe ich nicht geschrieben, weil es nicht mein Leben ist, über das ich erzähle. Es ist eher eine Art von Zeugnis über die Erfahrung an der Grenze. Was das ist: die Grenze, was es bedeutet an der Grenze oder allgemein an den Grenzen zu kämpfen. Es ist also meine persönliche Erfahrung, aber nicht meine Autobiographie. Und darauf bestehe ich.

Merkaz HaRav war keine Wahl. Ich wollte in einer Talmudschule den Talmud studieren. Ich habe den Talmud in Merkaz HaRav studiert, weil sie auf eine Art moderner war als andere Talmudschulen. Die politische Ideologie dieser Schule war mir weder bewusst noch hat sie mich interessiert. Als ich sie bemerkte, habe ich die Schule gewechselt. Nicht, weil ich antizionistisch war oder irgendeiner anderen Ideologie angehangen hätte. Es bedeutete einfach nichts für mich. Ich war gekommen um den Talmud und nicht um israelische Politik zu studieren oder Teil irgendeiner Form israelischer Politik zu sein. Obwohl ich zugeben muss, dass diese Art der Verehrung von Boden, die Heiligkeit des Bodens, meiner religiösen Erziehung sehr fremd war. Für mich gehört die Heiligung von Blut und Boden eher zum Christentum als zum Judentum. In meiner Erziehung – ich behaupte nicht, dass das der richtige Judaismus ist, denn ich glaube nicht, dass es nur einen Judaismus gibt – aber der Art Judaismus, in der ich erzogen wurde, widerstrebte jegliche Form der Heiligung von Blut und Boden. Die Verehrung von Blut und Boden war für mich Faschismus und in der christlichen Tradition verankert.

Der Beginn meines politischen Engagements hat nichts mit Religion zu tun und zunächst auch nichts mit Israel. Ich habe diese Geschichte in meinem Buch erzählt: Ich bin kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, nach dem, was in meiner Kindheit bei uns Besatzung, Deportation hieß. Shoah war damals noch kein Konzept, wir sprachen von Deportation und Besatzung, die anderen Konzepte kamen später.

Meine direkte Familie, meine Eltern, meine Großeltern, lebte in Frankreich während der Besatzung durch die Nazis. Mein Vater hatte in der Resistance gekämpft, meine Mutter war eine jüdische Studentin in Paris gewesen – und sie haben überlebt. Aber meine ganze Kindheit und die meiner vielen Brüder und Schwestern waren sehr von den Erinnerungen an diese Besatzung beeinflusst. Wenn wir unseren Spinat nicht essen wollten, sagte meine Mutter: „Während der Besatzung hätten wir viel dafür bezahlt etwas zu Essen zu haben.“ Alles wurde mit der Besatzung verglichen. Sie war extrem präsent in unserer Erziehung, in der uns umgebenden Vorstellungswelt. Für uns war die Besatzung die Essenz alles Bösen: Rassismus, Tod, Angst, Ausschluss – und plötzlich im Juli 1967 stellte ich fest, dass ich mich in einer Besatzung befand und dass ich der Besatzer war. Nicht intellektuell – offen gesagt, damals war ich wie die meisten Israelis überzeugt, dass die Araber uns angegriffen hatten, dass wir uns verteidigten, dass wir ins Meer geworfen werden sollten. Sie waren schuld und wir schützten uns nur – das war alles Teil meines – ich würde sagen: natürlichen - Verständnisses der Lage. Ich wollte gar nicht mehr erfahren. Aber ich fühlte die Besatzung. Und in dem Buch erzähle ich von einem ganz bestimmten Moment im Juli 1967. Wenige Wochen nach dem Beginn der Besatzung, ging ich zu meinem Vater und sagte: „Wir befinden uns in einer Besatzung – und diesmal sind wir nicht die Unterdrückten, wir stehen auf der anderen Seite.“ Und bei einer Besatzung auf der anderen Seite zu stehen, war unerträglich. Das hatte nichts zu tun damit, wer verantwortlich war, schuldig, wer angefangen hatte, sondern mit dem Verhältnis zueinander. Ich bin meinem Vater sehr dankbar dafür, dass er mich unterstützt hat. Er sagte: „Du hast Recht. Es ist furchtbar. Und wir müssen diese Besatzung beenden, denn ein Besatzer zu sein, ist nicht unser Platz in der Geschichte.“ Das hat mir die Augen geöffnet. Ich begann zu lernen, wollte wissen, verstehen, was man tun muss.


F: Verlief dieser Prozess parallel zu Ihren Studien? Konnten Sie das damals in Verbindung bringen?

Nein, das hatte keine Verbindung, außer mit dem Problem der Besatzung, des Rassismus und der Herrschaft, mit Antirassismus und die Unterstützung der Unterdrückten, wo immer sie sich befinden. Ich erinnere mich, dass wir in meiner Kindheit auf der Seite der Algerier standen. Wir wussten nicht viel. Aber es war klar: Sie kämpfen für ihre Freiheit wie unser Vater gegen den Nationalsozialismus gekämpft hat. Das war ziemlich einfach, eher emotional als analytisch. Und ich glaube, 1967 war das dieselbe Ebene.


F: Sie haben sich dann in Mazpen organisiert. Welche Unterschiede sehen Sie zwischen der internationalistischen Politik der Mazpen in den 70ern und der heutigen radikalen Friedensbewegung  in Israel?

Es gibt zwei Hauptunterschiede, die aber nicht israelspezifisch sind. Ich glaube, das betrifft die gesamte Art der Mobilisierung der jungen Generation im Vergleich zu der alten Generation, dem Unterschied zwischen den 60ern und den 90ern oder 2000.

Die alte Bewegung war und wollte damals mit einer Tradition, einer ideologischen Tradition verbunden sein. Wir waren sehr ideologisch. Sie war Teil einer Bewegung, in der Realität und in der Vorstellung: Teil der Geschichte der Arbeiterklasse, ihrer Bewegung und Ideologie, Teil der langen Kette politischer Auseinandersetzungen zwischen Reform und Revolution, zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie, zwischen Stalinismus und kritischem Kommunismus und das war zentraler Teil unserer Identität. Es war nicht nur eine Bewegung „Eine andere Welt ist möglich“ und in diesem Sinn basierte sie auf dem sehr starken Gefühl, dass wir fast alles wissen und dass wir sehr bald siegen werden. Meine Söhne zum Beispiel haben – wie viele andere Kinder von Menschen meiner Generation – dafür einen hohen Preis gezahlt. Wir hatten nicht viel Zeit für sie, denn wir wussten, dass wir ihnen in Kürze das Paradies schenken würden. Es stimmte, wir hatten keine Wochenenden, keine Ferien, wir fuhren nicht ans Meer, denn wir machten politische Aktionen. Aber sie würden es uns danken, denn bald würden sie ein wunderbares Geschenk bekommen.

Noch etwas – und das ist eher typisch für Israel: In meiner Generation war die regionale und die internationale Dimension sehr wichtig. Wir fühlten uns als kleine Front, kleine Einheit in einer großen Armee, die im Irak kämpfte, in Ägypten, in Palästina, in Frankreich, in Afrika, in Kuba, überall. Der strategische Rahmen war sehr international und auch die Beziehungen.

Wenn wir über die neue Generation in Israel sprechen: Die jungen Männer und Frauen, 20, 25 Jahre alt, die in Israel das Rückgrat der Bewegung gegen die Besatzung sind, sind sehr radikal. Sie haben ein starkes Gefühl für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Aber zum größten Teil sind sie unideologisch und auf gewisse Weise auch antiideologisch. Sie sind sehr international, aber nicht internationalistisch, würde ich sagen, es ist nicht ganz fair, das zu sagen. Sie haben das Gefühl Weltbürger zu sein und Teil einer globalen Bewegung. Aber weniger in einem organisierten Sinn und ganz definitiv setzen sie sich nicht in Beziehung zu einer Tradition, zu einer Bewegung – einer Bewegung im Sinne historischer Bewegungen. In gewisser Weise haben sie kein Gedächtnis.

In Israel findet jedes Jahr ein Treffen statt, bei dem Tausende junger Leute aus allen möglichen Organisationen - ökologischen, sozialen, feministischen - drei Tage lang miteinander diskutieren. Und jedes Mal werde ich eingeladen, als der Erzähler der Erinnerungen sozusagen. „Erzähl uns von der ersten Intifada!“ Das erste Mal war es zu Beginn der zweiten Intifada als ich gebeten wurde, einen Vortrag oder ein Seminar über die erste Intifada zu halten. Man sprach über die zweite, also hatte es eine erste gegeben. Danach sollte ich über die Geschichte der Linken in Israel sprechen usw. Es gibt keine Erinnerung. Das heißt nicht, dass diese jungen Menschen sie nicht entwickeln wollen.


F: Sie betonen in Ihrem Buch die Notwendigkeit unbedingter Solidarität mit den Palästinensern, unabhängig von den Methoden und Waffen, die sie einsetzen. Halten Sie diese Position auch in Anbetracht des zunehmenden Fundamentalismus und Antisemitismus in der palästinensischen Widerstandsbewegung aufrecht?

Ja, ich vertrete ja nicht, dass es einem gleichgültig sein soll, ob sie säkular oder fundamentalistisch ist, sozialistisch oder liberal. Wenn ich von unbedingter Solidarität spreche, meine ich, die Widerstandsbewegung als solche, als eine Bewegung, die gegen Unterdrückung kämpft. Unabhängig von ihrer Führung oder Ideologie verdient sie unsere Unterstützung. Und wir werden die Besatzer und sie nie gleichsetzen. Auch wenn die Führung der Palästinenser reaktionär ist, kämpfen sie um Befreiung von unserer Besatzung. Das ist meine Position.

Das bedeutet überhaupt nicht, dass ich dem Klassencharakter, der politischen Linie, dem sozialen Charakter und der Perspektive der Bewegung gleichgültig gegenüber stehe. Das "Alternative Information Center" hat mit allen säkularen, nichtreligiösen Bewegungen zusammen gearbeitet. In unserem Team sind Leute aus der palästinensischen Linken, das ist kein Zufall. Das war eine Entscheidung, denn wir sprechen von unserer Vision, von dem was wir wollen, nicht nur von dem, was wir nicht wollen. Wir wollen keine Besatzung, keine Unterdrückung. Aber es gibt auch etwas, was wir wollen, vielleicht weniger klar als vor dreißig Jahren, als alles klar schien. Aber wir wissen, was für einen neuen Nahen Osten wir wollen. In diesem Kampf sind unsere Verbündeten nicht beliebig.

gs / tacheles-reden.de / 2004-03-31