Culture Watch:
Welche Grenzen braucht der Nahe Osten?

Dieser Frage ging die erste Veranstaltung einer neuen, gemeinsam von der Akademie der Künste und dem Goethe-Institut organisierten Veranstaltungsreihe mit einem Film und einer Podiumsdiskussion nach. Die Initiative Culture Watch will mit künstlerischen Beiträgen und Diskussionsrunden Themen aus und zu Krisen- und Kriegsgebieten aufgreifen...

Gudrun Schroeter - tacheles reden


Um die Trennmauer zwischen Palästina und Israel ging es an diesem Abend, doch auch generell um Grenzen und Mauern, innere oder äußere. Einleitend wurde ein Teil des Films „Route 181 – Fragmente einer Reise in Israel-Palästina“ von Michel Khleifi und Eyal Sivan gezeigt. Im Sommer 2002 reisten die beiden Filmemacher, der eine in Palästina geboren, der andere in Israel, zwei Monate lang durch die Region entlang der virtuellen Linie, die die Grenze der UN-Resolution 181 aus dem Jahr 1947 markiert. Michel Khleifi erklärte vor der Vorführung zu dem Filmprojekt, das ein viereinhalbstündiges Werk geworden ist und aus drei Teilen – Süden, Zentrum und Norden – besteht, dass es die Idee gab, die Linie abzufahren und  bei jedem Stopp mit einer Person, die dort lebt, zu sprechen. Entstanden ist ein Kaleidoskop, das die unterschiedlichsten Herkünfte, Lebensentwürfe, Meinungen, Hoffnungen und Enttäuschungen von Männer und Frauen, jüdischen und arabischen Israelis und Palästinensern, Zivilen und Militärs zeichnet. Und deutlich wurden die vielfältigen Grenzen, die gegenüber der jeweils „anderen Seite“ aufgebaut wurden: die einseitigen aus Beton und Stacheldraht und auch die zynischen, humoristischen, gleichgültigen – die physische Mauer über Hügel und Täler, aber auch die psychologischen, die sich in das Denken Einzelner innerhalb der beiden Gesellschaften eingegraben haben.

Route 181 - Norden

Vorgeführt wurde der dritte Teil des Films – Norden. Zum Zeitpunkt des Drehs war in dieser Region der Bau der Trennmauer am weitesten fortgeschritten, der Mauer, die eine neue faktische Trennung und drastische Veränderung im Alltag der dort lebenden Menschen bedeutet und für die Thematik des Abends nicht nur Symbolfunktion hat. Die Kamera scannt die hohen, im Abendlicht Schatten auf die Landschaft werfenden Mauerplatten, die Landschaft – Natur und riesige Baustelle, der Weg führt über Straßen und Feldwege. Die Stopps erfolgen an der Straße, in Dörfern, an Checkpoints: palästinensische Arbeiter auf dem Weg zurück in die Enklave Qualquila, ein säkularer jüdischer Israeli an einer Baustelle, ein ehemaliger Soldat in Farud, eine marokkanische Jüdin in Kfar Shanei, israelische Soldaten am Checkpoint  …

Es gelingt den beiden Regisseuren in den kurzen Gesprächen mit gezielten und sensiblen Fragestellungen eine Atmosphäre zu schaffen, die Einblicke sowohl in die Gegenwart als auch in die jeweiligen Geschichten der Gesprächspartner öffnet. Die Fragen richten sich auch an die Erinnerung, an das Wissen um die Geschichte – und drehen sich damit auch um das Wissen um die Schicksale der beiden Gruppen – der palästinensischen wie der israelischen Seite. Die Filmemacher – und die Kamera – blicken dem Gegenüber in die Augen, und das ist bei allen wichtigen und spannenden Detailaussagen und –zusammenhängen eine Hauptaussage des Films: die Bereitschaft, sich zu begegnen und sich verstehen zu wollen, sich anzusehen.

Diese Position zu verdeutlichen, war für die beiden Filmemacher ein zentrales Anliegen in der nachfolgenden Podiumsdiskussion mit Esther Shapira (Filmemacherin), Amnon Raz-Krakotzkin (Historiker, Modern Jewish Studies) und Adolf Muschg (Schriftsteller, Akademie der Künste). Die Moderation führte Gudrun Krämer (FU, Institut für Islamwissenschaften).

Äußere und innere Mauern

Schon in der Eingangsrede zu diesem Abend hatte Adolf Muschg mit einer Reflexion über den Namen der Veranstaltungsreihe eine Spur für die folgende Diskussion gelegt: culture watch – Kulturwächter, dass es unerlässlich sei zu bestimmen, um welche Kultur es sich handle, aus wessen Perspektive diese Kultur beobachtet werde. Im Zusammenhang mit dem Konflikt im Nahen Osten betonte er, sich vor dem Hintergrund der deutschen historischen Verantwortung „vor falschen Zungenschlägen zu hüten“.

Das breite Feld der möglichen Ausgangsdefinitionen im konkreten Kontext des Nahost-Konflikts und der zu thematisierenden Mauer riss die Moderatorin zu Beginn der Diskussion kurz an: Soll es Mauer oder Zaun genannt werden, was dort entsteht, bzw. schon gebaut ist? Welche Bedeutungen hat diese Mauer, welche Auswirkungen? Welche Relation besteht zwischen äußeren und inneren Mauern, den unterdrückten und den erhaltenen? Der immer wieder auftauchende, und auch hier aufgeführte Vergleich mit der Berliner Mauer, dass vielleicht die Berliner und Berlinerinnen einen spezifischeren Zugang zu dem Problem Mauer hätten, erschien allerdings wieder einmal eher verzerrend.

Eyal Sivan ging darauf ein, dass die Geschichte der Berliner Mauer aus der gegenwärtigen Perspektive insofern optimistisch stimmen könne, denn sie zeige, dass keine Mauer ewig stehen müsse und konkretisierte im Folgenden noch einmal die grundsätzliche Idee des Filmprojekts, die auf die Bereitschaft insistiere, Verantwortung zu übernehmen und sich dem, auch in hochgradig traumatisierten Gesellschaften nicht zu verweigern. „Das eigene Trauma steht nicht gegen ein anderes Trauma. Wir müssen versuchen miteinander zu leben.“ Michel Khleifi führte weiter aus, dass dies auch impliziere, über den Krieg in den eigenen Köpfen nachzudenken. Es müsse der Versuch ernst genommen werden, das zu verstehen, was in den unterschiedlichen Geschichten passierte, um Brücken bauen zu können und Möglichkeiten einer zukünftigen pluralistischen Gesellschaft ermöglichen. Das Entstehen der inneren Mauern gehe weit zurück. Die Geschichte der Trennung begann für ihn nicht mit dem Bau der Mauer, sondern war gegenüber der arabischen Bevölkerung angelegt schon in den ersten Jahren der zionistischen Bewegung.

Mauern als Zeichen der Systemschwäche

Noch einmal allgemein den Aufhänger Berliner Mauer aufgreifend, wertete Eyal Sivan den Bau dieser Mauer als Schwäche totalitärer Systeme, dass mit dem Bau ganz andere Probleme verdeckt wurden. Auf der Ebene des Alltags der Menschen vermeide die Konstruktion einer Mauer erst einmal den Kontakt. Und im konkreten Fall der israelischen Mauer demonstriere ihr Bau, dass die Regierung nicht mehr in der Lage ist, das zu gewährleisten, was sie zu gewährleisten dachte.

Esther Shapira wandte ein, dass die Mauer nicht zu thematisieren sei, ohne die Opfer des Terrors zu benennen. Keine Diskussionen seien mehr zu führen über das Existenzrecht Israels, das außer Frage stehe. Doch wenn über die Gegenwart geredet werde, müsse auch das Recht auf Verteidigung und das wie der Verteidigung diskutiert werden. Die Zweistaatlichkeit sei ursprünglich keine Idee der Rechten gewesen, sondern von eher linker Seite vorgeschlagen worden. Eine Bedeutung, die der Mauer zum jetzigen Zeitpunkt zukomme, sei es, dass sie demonstriere, dass die Siedler de facto nun auf der falschen Seite leben.

Eine kurze heftige Debatte entspann sich nach ihren weiteren Ausführungen, in denen sie sich generell gegen jegliche Kollektivschuldzuweisungen aussprach, anmerkte, dass es das Wissen um gemachte Fehler der Regierungen gebe, auch um die der israelischen. Fehler der palästinensischen Seite sei es gewesen, die Osloer Verträge schließlich nicht akzeptiert und bisher dem Terrorismus eine klare Absage erteilt zu haben. Michel Khleifi wehrte sich gegen die ihm zu einfache Systematik der Darstellung, für die es kein Schwarz und Weiß gebe. Es könne nicht darum gehen, allgemein über Verantwortlichkeiten zu reden: „It´s me and you, we must understand each other. What is my humanity, what´s yours? That must be the principle of the debate. “

Spirale des Scheiterns der Politik <-> Verantwortung

Diese kurze, auf dem Podium nicht weiter geführte, doch immer wieder aufflammende Kontroverse machte einen Aspekt der unterschiedlichen Perspektiven auf den Konflikt deutlich. Die beiden Filmemacher fordern eine neue Sicht, die nicht mehr in den Dichotomien der Krieg führenden Parteien denkt und Vorwürfe von Schuld und Fehlern von einer zur anderen Seite katapultiert, den Kreislauf der Gewalt reproduzierend.

Amnon Raz-Krakotzkin bezeichnete es als eine große Stärke des Films, dass er ermögliche, Fragen anders anzugehen, etwa in einer binationalen Terminologie zu sprechen. Seine generelle Ablehnung der Mauer richtete sich nicht nur gegen die physische Mauer, sondern auch gegen sie als eine Mauer gegen die Erinnerung. Wenn das Wort Apartheid vor einigen Jahren im Sprachgebrauch verpönt war, sei es heute ein Bestandteil des Diskurses. Wenn man an die Logik der Mauer glaube, folge man der Logik der Ideologie der Trennungen. Der Film zeige weiter auf, dass es um die direkte Verantwortung gehe. Ein historischer Prozess der Versöhnung, der eingeleitet werden müsse, sei etwas, was kein Friedensprozess erreiche. Auch er betonte, dass die Initiierung dieses notwendigen Prozesses, der die Trennung in den Köpfen einbeziehe, zu führen sei unter dem Blickwinkel der Verantwortung und nicht der Schuld.

Viele weitere Aspekte des Konflikts wurden angerissen und wieder einmal wurden seine Vielschichtigkeit und die Probleme, darüber zu sprechen offensichtlich, zumal darüber in Deutschland zu sprechen. – Was bedeutet Demokratie, welche Rolle spielen Ideen und Kulturen? Was sind Identitäten? Wie heterogen sind die Gesellschaften? Welche Rolle spielt die Angst? Auf jeden Fall kann der Film „Route 181“ einen Impuls geben, vielleicht auch hier andere Perspektiven wahrzunehmen.

Der Film

Route 181 – Fragmente einer Reise in Israel-Palästina, von Michel Khleifi und Eyal Sivan, F/GB/D/B 2003, 270 Minuten, arabisch, hebräisch mit englischen Untertiteln

ist in der langen Fassung am Sonntag, den 2. Mai 2004, um 11.00 Uhr in Berlin im Eiszeit-Kino zu sehen. Weitere Vorführungen, auch der einzelnen Teile, sind zu erfahren:
www.eiszeit-kino.de

gs / tacheles-reden.de / 2004-03-24