"Enthalte deinem Nächsten nichts vor (den Lohn) und
verübe keinen Raub und der bei dir erarbeitete Lohn eines Tagelöhners soll
bei dir nicht bis zum Morgen übernachten" (Waj. 19, 13).
Der Talmud diskutiert die Definition der obigen Begriffe:
"Was bedeutet Vorenthalten und was heißt Raub? Rabbi Chisda erwiderte: Sagt
er: 'Geh und komm wieder, geh und komm wieder' (Mischle 3, 28), so
heisst dies Vorenthalten. Sagt er aber: 'Du hast den Lohn gut bei mir und
ich gebe dir nichts', so heißt dies Raub" (Baba Mezia).
Rawa hält schließlich fest, dass Vorenthalten und Raub
identisch sind. Die Tora führt nur deshalb dieses Vergehen unter zwei
verschiedenen Begriffen auf, um klarzumachen, dass bei einem Zuwiderhandeln
gleich zwei Verbote übertreten werden! Wie sehr unsere Weisen sich für die
prompte Lohnauszahlung einsetzten, geht ferner aus der zitierten
Talmudstelle hervor. Dort wird postuliert, dass beim Zurückhalten des Lohnes
eines Tagelöhners insgesamt fünf Verbote und ein Gebot übertreten werden!
Drei Verbote sind im obigen Vers unserer Parascha aufgeführt. Hinzukommen:
"Du sollst den Lohn eines Armen und Bedürftigen nicht zurückhalten, von
deinen Brüdern oder von dem Fremden, der in deinem Land wohnt, in deinen
Toren" (Dew.24,14). Ferner: "Am selben Tag gib ihm seinen Lohn und
lasse die Sonne nicht darüber untergehen; denn er ist arm und er verläßt
sich mit ganzer Seele darauf. Dass er nicht wegen dir zu Gott schreie und
Sünde an dir sei"
(Dew.24,15). Vergleichen wir die Forderungen der Tora zum Beispiel
mit der noch heute ziemlich rechtlosen Stellung südamerikanischer
Tagelöhner, so hat die Tora gewerkschaftliche Forderungen unseres
Jahrhunderts bereits vor mehr als 3000 Jahren vorweggenommen!
Die mündliche Lehre führt diese Vorschriften genauer aus:
"Ein für den Tag Gemieteter kann die ganze Nacht (die auf den Tag folgt) den
Lohn einkassieren. Ein für die Nacht Gemieteter kann den ganzen Tag (nach
der Nacht) den Lohn einkassieren. Ein auf Stunden Gemieteter kann entweder
den ganzen Tag oder die ganze Nacht den Lohn einziehen. (Wenn seine
Mietszeit am Tag zu Ende ist, so ist der Rest des Tages die Zeit seiner
Lohnzahlung, endigt seine Arbeitszeit in der Nacht, so ist der Rest der
Nacht als Zahlungszeit zu betrachten.) Ein auf eine Woche, einen Monat, ein
Jahr oder sieben Jahre Gemieteter kann, wer bei Tag herausgeht, den ganzen
Tag den Lohn einkassieren. Geht er bei Nacht heraus, so kann er die ganze
Nacht und den ganzen Tag (nach Rabbi Schimon) den Lohn einkassieren. Sowohl
hinsichtlich des Lohnes für Menschen, als für Vieh oder für Geräte gelten
die Vorschriften: 'An seinem Tag sollst du seinen Lohn geben' und 'der Lohn
eines Tagelöhners soll bei dir bis zum Morgen nicht übernachten.' Wann gilt
dies? Wenn er von ihm den Lohn gefordert hat. Hat der Tagelöhner von ihm
nichts gefordert, so übertritt der Arbeitgeber nicht die Vorschriften... Ein
Tagelöhner, der in der oben bestimmten Zahlungszeit den Lohn fordert (und
der Arbeitgeber behauptet, denselben bereits ganz oder zum Teil ausbezahlt
zu haben), schwört und erhält die Zahlung. (Von Rechts wegen hatte der
Arbeitgeber seine Aussage beschwören müssen, um sich von der Zahlung zu
befreien. Allein, da er wegen seiner vielen Geschäfte oft irrtümlich glaubt
bezahlt zu haben, läßt man den Tagelöhner schwören.) Ist seine Zeit vorbei,
so kann er nicht schwören und gezahlt nehmen (sondern der Arbeitgeber
schwört und ist frei; denn am Ende des Zahlungstermins überlegt es dieser
genau und erinnert sich, ob er bezahlt hat oder nicht, da er nicht das
Verbot des 'Lohnübernachtens' übertreten will.) Sind Zeugen vorhanden, dass
der Tagelöhner ihn zur Zeit gefordert hat (und dass der Arbeitgeber zu ihm
gesagt hat, er werde ihm später zahlen), so schwört er und bekommt gezahlt"
(Baba Mezia 9, 11-12).
In der Regel kann man durch Ablegen eines Schwurs eine
Geldforderung nicht eintreiben. Es gilt namlich das Prinzip: Wer eine
Forderung hat, muss den Beweis dafür antreten - Hamozi Mechawero, alaw
Hara'aja (Baba Kama 35a). Im Fall des Tagelöhners macht die Halacha
eine Ausnahme, weil sie den sozial schwacher Gestellten in seinen Rechten
stärken will.
Im Sefer Haparschijot erfährt das "Enthalte deinem Nächsten
nichts vor" eine weitergehende Deutung. Auch ein Gebet, das man für seinen
Nächsten sprechen könnte, es aber nicht tut, fällt unter diese Kategorie.
Denn so spricht der Prophet Schmuel: "Auch ich, fern sei es von mir zu
sündigen gegen den Ewigen, es zu unterlassen, für euch zu beten..."
(Schmuel 112, 23).