Tohaw et Re'acha - kamokha!
Bewusst übersetzt Rabbiner S.R. Hirsch die Torah nicht
mit "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", wie der berühmte Vers der Torah
(und nicht des Neuen Testaments!) oft wiedergegeben wird. Hirsch kann sich
auf Ramban berufen, der in seinem Kommentar uns darauf aufmerksam macht,
dass die Tora im Hebräischen nicht formuliert "et Re'acha" (deinen
Nächsten), sondern "le'reacha" (für deinen Nächsten).
Das Wörtchen "et" wird in der Regel einem Akkusativobjekt
vorangestellt, während die Vorsilbe "le" den Dativ wiedergibt. Daher
kommentiert Hirsch zu Recht:
"Le'reacha ist aber nicht die Persönlichkeit des
Nebenmenschen, sondern sind alle die Verhältnisse, das Wohl und das Weh, die
seine Lebensstellung auf Erden gestalten. Dies, sein Wohl und Weh, sollen
wir lieben, wie das eigene, sollen uns freuen mit seinem Glück wie mit dem
eigenen, sollen uns betrüben über sein Leid, als hätte es uns getroffen,
sollen mit derselben Freudigkeit zu seinem Wohl beitragen, als gelte es das
eigene Wohl, sollen Leid von ihm abwenden, als wären wir selber davon
bedroht. Das ist eine Forderung, die wir selbst in Beziehung auf den uns im
hfichsten Grade antipathisch widerstehenden Menschen erfüllen können,
erfüllen sollen. Denn diese Liebesforderung sieht völlig ab von der
Persönlichkeit des Nebenmenschen, gründet sich auf keine seiner
Eigentümlichkeiten, sondern 'Ich Gott' heißt das Motiv dieser Forderung, im
Namen Gottes wird sie von uns für alle unsere Mitmenschen erwartet."
Was die Tora hier positiv formuliert, hat der
Mischna-Gelehrte Hillel verneinend ausgedrückt, als er einem Nichtjuden das
wichtigste Prinzip des Judentums kurz und bündig mitteilte: "Was dir
verhasst ist, tue deinem Nächsten nicht an. Dies ist das ganze Gesetz, alles
andere ist nur seine Erläuterung, nun gehe und lerne" (Schabbat 31a).
Originell ist, wie Raw Jakow Zwi Meklenburg das "kamocha"
(wie deines) interpretiert. Er verweist auf einen Vers in Tehilim: "... nach
Dir durstet meine Seele, nach Dir sehnt sich (kama) mein Körper..." (63,
2). Er liest unseren Passuk so: "Liebe deinen Nächsten, so wie du es für
dich ersehnst (kamocha)". Eine weitere Lesart geht auf den Baal Schem Tow,
den Begründer der chassidischen Lehre zurück: "Liebe deinen Nächsten - so
wie du es tust (kamocha) - so verhalte Ich Mich, sagt Gott (Ani Haschem)".
In dem Masse, in dem wir dem Mitmenschen Gutes tun, lässt Gott auch uns
Gutes zukommen. Rabbi Levi Jizchak von Berditschew hält dazu fest, dass, so
wie wir uns mit all unseren Fehlern selbst akzeptieren, wir auch den anderen
mit seinen Mängeln akzeptieren müssen. Seine Unvollkommenheit darf uns nicht
vom korrekten Verhalten ihm gegenüber abhalten.
Rabbi Mosche Leib von Sasow lernte die wahre Bedeutung der
Nächstenliebe aus einer Unterhaltung zweier betrunkener Bauern. "Sag mir,
liebst du mich oder nicht", fragte der eine. "Ich liebe dich sehr",
antwortete der andere. "Dann sag mir, was mir fehlt!", sagte der Erste. "Wie
kann ich wissen, was dir fehlt?", antwortete der Zweite. "Wenn du nicht
fühlst, was mir fehlt, wie kannst du dann behaupten, dass du mich liebst?",
lautete die Antwort.
Rabbi Awraham von Trisk verweist auf den Zahlenwert des
hebräischen Wortes für Liebe, Ahawa, der 13 beträgt. Wenn zwei Menschen sich
gegenseitig Liebe entgegenbringen, erhalten wir den doppelten Wert, 26.
Genau dies ist der Zahlenwert des Gottesnamens in unserem Vers! Gott ist der
Dritte im Bunde. Rabbi Mosche Jechiel Halevi Epstein von Osarow erwähnt in
seinem zehnbändigen Kommentar zur Tora "Be'er Mosche", eine erstaunliche
Gimatrija. Der Zahlenwert der Worte "Liebe deines Nächsten Wohl wie deines,
Ich bin Gott - we'ahawta le'reacha kamocha, Ani Haschem" entspricht
demjenigen der Worte des Kriat Schma "Und du sollst deinen Gott lieben
-we'ahawta et Haschem Elokecha" (Dew. 6, 5). Die Liebe zu Gott muss
der Liebe zum Mitmenschen entsprechen und umgekehrt.
"Räche dich nicht und grolle nicht
liebe deines Nächsten Wohl wie deines,
Ich bin Gott" (Waj. 19, 18).