Die Barrieren sind fast
unüberwindlich:
Warum wird das Judentum so oft missverstanden?
Von
Meir Seidler
Das größte Hindernis auf dem Wege
zum Verständnis des Judentums ist das Missverständnis. Kaum eine historische
Erscheinung ist so dem Missverständnis ausgesetzt wie das Judentum. Dies hat
mehrere Ursachen, deren jede einzelne an und für sich schon eine starke,
fast unüberwindliche Barriere zum Verständnis des Judentums darstellt.
Da ist zum ersten die innere
Abgeschlossenheit des Judentums selbst. Es ist historische Tatsache,
dass das Judentum und seine Vertreter kein Bedürfnis und schon gar keinen
inneren Drang verspürten, sich nach außen (der nichtjüdischen Welt
gegenüber) oder auch nach innen hin zu erklären. Nach innen hin, das heißt
für die Juden, war das Judentum eine Selbstverständlichkeit, die die Frage
nach einem allumfassenden
Warum Judentum eigentlich gar nicht so richtig aufkommen ließ. Wo sie
dennoch gestellt wurde, war sie mehr Ausdruck der Zeit, meistens einer
geistig-politischen Krisenzeit (Eroberung, Auseinandersetzung mit einer
anderen Religion, kultureller Vermischung), als einem inneren Drang der
jüdischen Denkart entspringend. Die Juden sind eben (abgesehen von einer
geringen Anzahl von Gerim, zum Judentum Übergetretenen, die es immer
gab) nicht "Juden geworden", sind nie zum Judentum bekehrt worden, sie waren
Juden, so wie Deutsche Deutsche, Franzosen Franzosen und Eskimos Eskimos
sind. Dass dazu (im Gegensatz zu Deutschen, Franzosen und Eskimos) auch eine
höchst-differenzierte spirituelle Ordnung gehörte, die sich bis in die
abgelegensten Winkel des Alltagslebens bemerkbar machte, war Teil ihres
Judeseins, ihrer natürlichen Volkszugehörigkeit.
Die Juden wurden also nie zum Judentum
missioniert, und ihre Religion gehörte daher in einer Art und Weise zu ihrem
Wesen, die ein grundsätzliches Hinterfragen im Sinne von "Warum gerade
Judentum" eben alles andere als selbstverständlich erscheinen ließ, denn man
mag durchaus sein eigenes So- oder Anderssein hinterfragen, jedoch nur
äußerst selten sein eigenes Dasein!
Und wie nach innen, so nach außen. So
wie die Juden nicht durch Missionierung zum Judentum gelangt sind, so haben
sie auch (mit einer einzigen untypischen Ausnahme zur Zeit der Makkabäer)
nie selbst missioniert. Der jedem christlichen oder islamischen Gläubigen
mit dem Verständnis der eigenen Religion als Weltreligion unauflöslich
verbundene Begriff der Mission ist dem Judentum fremd. Judentum ist
Weltreligion nur in dem Sinne, dass es Anspruch auf Allgemeingültigkeit der
in ihm verkündeten Wahrheiten erhebt. Die Moral des Judentums ist absolut,
weil sie für alle Menschen verbindlich ist, es ist jedoch weder erwünscht
noch notwendig, dass alle Menschen Juden werden.
In diesen beiden Charaktermerkmalen des
Judentums, in der Wesensverbundenheit und Wesensselbstverständlichkeit nach
innen und dem Fehlen jeder Mission nach außen, liegt mithin der Grund für
das relativ geringe Bedürfnis des Judentums, "sich zu erklären".
Das Christentum
verstellt den Blick
Ein insbesondere für die christliche Welt weit
bedeutenderes Hindernis zum Verständnis des Judentums ist jedoch
historisch-ideologischer Art. Das aus dem Judentum hervorgegangene
Christentum hat so viel vom Judentum übernommen und mit einer abweichenden
Bedeutung belegt, dass viel Jüdisches jedem in der christlichen Welt
aufgewachsenen noch so unvoreingenommenen Menschen von vornherein sonderbar
"bekannt" vorkommt. Pessach ist eben das jüdische Osterfest, der Schabbat
ist der jüdische Sonntag, ein Rabbiner ist eine Art jüdischer Pfarrer, und
die jüdische Kirche heißt Synagoge. Dieses Pseudo-Vorwissen erschwert das
Verständnis des Judentums ganz beträchtlich, und es muss immer erst mühevoll
entfernt werden, was oftmals schwieriger ist als die eigentliche
Informationsvermittlung selbst.
Als Beispiel mag hier das "Alte Testament"
dienen. Wem fällt schon auf, dass vom jüdischen Standpunkt aus der Begriff
"Altes Testament" bereits in einem sehr aufdringlichen Masse wertend ist.
Die christliche Bibel, die zu drei Vierteln aus traditionellen heiligen
jüdischen Schriften besteht und zu einem Viertel aus Berichten über einen
gewissen Jesus aus Nazaret, hat die heiligen jüdischen Schriften schlicht
als "Altes", die Berichte über Jesus als "Neues" Testament definiert. Für
die Juden kann es ein "Altes Testament" jedoch gar nicht geben, weil sie ein
"Neues Testament" nicht kennen. Das "Alte Testament" ist somit die Bibel der
Juden, die ist aber
— schon allein durch den christlichen
Sprachgebrauch — im kollektiven abendländischen Bewusstsein eben etwas
"veraltet".
Die christlichen Feste, Ostern und
Pfingsten, sind den jüdischen Festen entlehnt, jedoch mit einer anderen
Bedeutung belegt worden. Und die christliche Zeit- und Jahresrechnung, die
mit dem 1. Januar anfängt, hat inzwischen die ganze Welt erobert, während
keiner weiss, dass er mit dem Neujahrsfeuerwerk eigentlich die Beschneidung
eines jüdischen Knaben feiert, der da — wie in der Tora vorgeschrieben — am
achten Tag nach seiner Geburt (Weihnachten) beschnitten und den sich bei
dieser Gelegenheit eingefundenen ausschließlich jüdischen Festgästen als
Jesus Ben Josef vorgestellt wurde. Wir befinden uns also im Jahre
Zweitausend nach einer Beschneidung. Letztere wiederum wurde von den
Christen gänzlich verworfen und wird durch den fröhlichen "Rutsch ins neue
Jahr" mehr verdrängt als erinnert. An ihre Stelle trat der
"Initiationsritus" der Taufe. Diese basiert ihrerseits auf dem rituellen
jüdischen Tauchbad, das im Christentum eine neue Funktion annahm, eben die
des Initiationsritus, eine Funktion, die es im Judentum nicht hat. Somit
haben wir es bei der christlich-abendländischen Kultur mit einem bunten
Jahrmarkt von ehemals jüdischen Bräuchen, Begriffen und Handlungen zu tun,
die aber mit anderen Inhalten belegt wurden. Und diese, wie gesagt,
erschweren ein Vordringen zu den ursprünglichen jüdischen Inhalten ungemein.
Doch die Missverständnisse und
Neuinterpretationen haben sich im Laufe der fast zwei Jahrtausende seit
Bestehen des Christentums ja nicht bloß automatisch angesammelt, sie sind
oft durchaus gezielt in polemischer Absicht in der christlichen (und mit
anderen Schwerpunkten auch in der islamischen) Welt verbreitet worden. Denn
neben der Belegung jüdischer Begriffe mit christlichen Inhalten, die sich
dann — will man die jüdischen Begriffe wieder ihrem ursprünglichen jüdischen
Sinn entsprechend erklären — wie ein Schleier dazwischen legen, ist ja auch
absichtlich verzerrt und verfälscht worden.
Als Beleg soll hier nur ein Beispiel
dienen: Würde man heute einen x-beliebigen, selbst überdurchschnittlich
gebildeten, Bürger nach der Bedeutung der Bezeichnung Pharisäer
fragen, hieße die prompte und eindeutige Antwort: Heuchler. Dabei ist
Pharisäer
(auf Hebräisch Peruschim) eine Sammelbezeichnung für die zu allen
Zeiten verehrten jüdischen Weisen der talmudischen Zeit. Wie kann man aber
dieses Wort jemals in einem Kontext benutzen, ohne beim "unvoreingenommenen"
Leser sofort Negativassoziationen hervorzurufen?
Geschichte und Gegenwart
verstellen den Blick
Und als ob damit noch nicht genug
Gründe vorhanden wären, die ein wirkliches Verständnis des Judentums von
vornherein extrem erschweren, richtet sich vor dem überwiegenden Grossteil
der deutschsprachigen Leser — den Deutschen und Österreichern — eine weitere
Barriere auf: die jüngste deutsch-jüdische Vergangenheit. Die mit dem am
jüdischen Volk verübten, von Deutschen geplanten, dirigierten und
schließlich ausgeführten Völkermord verbundenen Emotionen, sowie die große
Ansammlung des jüdischen Volkes in einem eigenen Staat, dem Staat Israel,
der in der aktuellen Gegenwart immer wieder Gegenstand heftiger und
leidenschaftlicher Auseinandersetzungen ist, verknüpfen sich oft zu einem
Gefühls- und Gedankenkomplex, den zu entwirren eigentlich Sache des
Psychologen wäre, eines Kulturpsychologen, sollte es diesen Beruf einmal
geben. Erst dann könnte man mit einer gewissen Hoffnung auf Erfolg an den
Anfang einer unvoreingenommenen Informationsvermittlung in Sachen Judentum
herangehen.
Aus dem "Vorwort des
Übersetzers" zum Werk "Talmud für Jedermann" von Raw Adin Steinsaltz,
erschienen beim Verlag
Morascha.
Meir Seidler ist einigen unserer
Leser sicher noch aus dem
Chat zum Thema "Schabath"
in Erinnerung.
Alle Rechte
vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit Genehmigung des Verlages gestattet.

In 12 Bänden:
Der Babylonische Talmud
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Judentum / Jahaduth
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