
[NE'ILAH]
Jom Kipur:
Das jährlich wiederkehrende himmlische Gericht
In Israel
In Israel ist die Erde noch trocken,
das Licht hart, die Hitze drückend. Vollkommene Ruhe herrscht an diesem Tag,
als halte das Leben inne: Kein Geschäft ist geöffnet, weder Kino noch
Lebensmittelladen, kein Auto fährt, auch der öffentliche Verkehr steht
still, aus keinem Fenster dröhnt laute Musik. Junge nicht-religiöse Juden
nutzen die Gelegenheit, um auf den leeren Straßen spazieren zu gehen oder
Rad zu fahren.
Draußen ist sengende Sonne, und in
den Synagogen steht man dicht an dicht, Männer und Frauen getrennt. Manche
blieben die ganze Nacht über im Bethaus. Gott kennt ja die Schuld, nun muß
sie der Mensch auch selbst erkennen. Die Enge bedrückt, das Fasten schwächt,
man hält sich am Wort fest. Alles Bangen und Hoffen hält am Wort fest,
vertraut seiner Kraft, das Gebet in den Himmel zu tragen. Wie oft wurde
schon, wie oft wird noch Widduj gesprochen, für jeden Buchstaben des
hebräischen Alphabets ein Vergehen genannt, 22 Buchstaben, 22 Vergehen, ein
vollständiges Bekenntnis aller Vergehen in alphabetischer Reihenfolge.
Das Widduj-Gebet
Unser Gott und Gott unserer Väter.
Laß unser Gebet vor dich kommen, entzieh dich nicht unserm Flehen.
Sieh, wir sind nicht so voll Hochmut
und so verstockt, daß wir vor dir sprächen:
Ewiger, unser Gott und Gott unserer Väter, wir sind gerecht und
haben nicht gesündigt — denn wir haben gesündigt.
Wir haben die Treue gebrochen. Wir haben Unrecht getan. Wir haben böse
geredet. Wir haben den Weg des Rechts verlassen. Wir haben zur Sünde
verleitet. Wir haben in Übermut gehandelt. Wir haben Gewalt geübt. Wir haben
uns durch Lüge entwürdigt. Wir haben Böses geplant. Wir haben falsche Reden
geführt. Wir haben gespottet. Wir haben gemurrt. Wir haben gelästert. Wir
haben das Gute verschmäht. Wir haben uns schwer vergangen. Wir haben uns
tief verschuldet. Wir haben gehaßt. Wir haben in Verstockung verharrt. Wir
haben gefrevelt. Wir haben zerstört. Wir haben Unwürdiges verübt. Wir haben
geirrt. Wir haben in die Irre geführt...
Was sollen wir dir sagen,
Hochthronender? Was können wir dir erzählen, Allwaltender? Sieh, alles
Verborgene ist dir vertraut... Du durchforschst alle Kammern unsers
Innern und prüfst Herz und Nieren, nichts ist dir verhüllt, nichts
deinem allsehenden Auge verborgen.
Franz Rosenzweig
Franz Rosenzweig (1886-1929)
kommentierte in seinem 1921 erschienenen religionsphilosophischen
Hauptwerk "Der Stern
der Erlösung" das Widduj-Gebet: "Und so können die Wir, in
deren Gemeinschaft der Einzelne also in seiner nackten und bloßen
Menschlichkeit vor Gott an seine Brust schlägt und in deren bekennendem
Wir er sein sündiges Ich fühlt wie nie im Leben, keine engere Gemeinde
sein als die eine der Menschheit selbst. Wie das Jahr an diesen Tagen
unmittelbar die Ewigkeit vertritt, so Israel an ihnen unmittelbar die
Menschheit".
An Jom Kipur trägt mancher Beter in
der Synagoge sein Sterbekleid und steht, obwohl mitten in der Gemeinde, doch
als Einzelner vor Gott. So wie Gott ihn einst nach seinen eigenen Taten,
Worten und Gedanken richten wird, so tritt er jedes Jahr an Jom Kippur vor
das göttliche Gericht, um seine Schuld vor Gott zu bekennen und Gnade zu
erfahren. Das Gericht, das sonst in die Endzeit gelegt wird, ist hier
Gegenwart. Der einzelne, als habe er das Leben hinter sich gelassen und
stehe vor dem Tod, legt jeden Schatten seiner Existenz offen, läutert sich
und weiß sich angenommen und erhört. In diesem Sinne ist Jom Kippur der
jährliche Tag der Erlösung. Und als Erlösungsfest vereint er Momente
tiefster Erschütterung und höchster Seligkeit.
Der Satan an Jom Kipur
Einer alten Legende zufolge vermag
der Satan an diesem Tag nichts auszurichten: Das ganzeJahr über kann der
Satan täglich gegen Israel sprechen, außer an Jom Kippur.
Der Heilige, gesegnet sei Er, sagt zu ihm: »Du darfst sie nicht anrühren,
aber geh trotzdem zu ihnen und schau, was sie tun.« Da der Satan sie
aufsucht, findet er sie fastend und betend, weiß gekleidet und eingehüllt
wie die Dienstengel. Also kehrt er zutiefst beschämt zurück. Der Heilige,
gesegnet sei Er, sagt zu ihm: »Was hast du an meinen Kindern auszusetzen?«
Sagt der Satan: »Sie sind wie die Dienstengel, und ich kann sie nicht
anrühren.« Sofort fesselt ihn der Heilige, gesegnet sei Er, und verkündet
seinen Kindern: »Ich habe vergeben.«
(Midrasch Tehillim, 27)
Ne'ilah
Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang — das Fest dauert schon 24 Stunden —
beginnt man mit dem Schlußgebet, N'eilah, der fünften und letzten
Gebetszeremonie des Tages. Sie entspricht dem Gebet, das vor dem Schließen der
Tempeltore gesprochen wurde. In dieser Stunde, da der heilige Tag zu Ende geht,
kommt der Augenblick der Vergebung und der Besiegelung des Kommenden. Ein
letztes Mal gibt man alle Selbstherrlichkeit auf und bekennt sich unwissend, arm
und leer. Ein letztes Mal fleht man, daß die Gebete erhört werden, die Umkehr
beantwortet wird:
...öffn' uns das Tor,
Eh' das Tor sich uns schließt,
Eh' die Nacht uns grüßt,
Denn schon neigt sich der Tag.
Da der Abend schon winkt
Und die Sonne versinkt —
Eh' sie schwindet dahin
In dein Tor laß uns ziehen!
Am Ende des heiligen Tages sprechen
Vorbeter und Gemeinde noch einmal mit lauter Stimme »Höre Israel, der Ewige
unser Gott, der Ewige ist Einer« (Deuteronomium
6:4), dreimal den Vers »Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines
Reiches in aller Ewigkeit« und zum Schluß siebenmal den Vers »Der Ewige —
Er ist Gott« (1.Könige 18:39), um die Sch'chinah,
die nun wieder hinaufsteigt, zu begleiten. Dann wird das
Qaddisch
vorgetragen und ein letztes Mal der Schofar
geblasen. Der aushallende Stoßton beendet den Festtag. Vielleicht gemahnt sein
Klang an die letzten Dinge.
Der lange Tag ist zu Ende. Man ist
hungrig und erschöpft, und doch verweilt man noch einen Augenblick in der
Synagoge, bricht nicht gleich auf, geht nicht gleich essen, damit die Heiligkeit
des Tages noch einen Augenblick bei einem weilt.
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Das Fest der Läuterung
-
Ritual und Gebet
-
Umkehr und Vergebung
- Viduj und Ne'ilah
Quelle:
Das Buch der jüdischen Jahresfeste
von Efrat Gal-Ed
Rosch haSchanah und Jom Zom Kipur

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