 
Der gute Katholik vom Vernichtungslager
Zum Schluß wurde er dort hingerichtet, wo er waggonweise
seine Opfer in den Tod schickte. Als Lagerkommandant von Auschwitz war
Rudolf Höß für die Ermordung von 1,5 Millionen Menschen verantwortlich.
Dennoch erhielt er vor seiner Hinrichtung die Sterbesakramente der
katholischen Kirche - die rituelle Freisprechung von Schuld und Sünde.
Vergeben und vergessen - eine Methode, nach der der Vatikan auch die eigene
Verstrickung in den Mord an den europäischen Juden zu händeln pflegt.
Gabriele Lesser
"Jesus liebt dich", predigen katholische und
evangelische Pfarrer 1946 in dem Nürnberger Gefängnis, in dem die
Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs inhaftiert sind. Dankbar nehmen
die Hauptkriegsverbrecher den seelsorgerischen Beistand in Anspruch.
"Jesus liebt dich", predigt der österreichische Titularbischof Alois
Hudal in Rom und verhilft nach 1945 zahlreichen Ex-Nazis zur Flucht nach
Südamerika. In der Päpstlichen Hilfskommission widmet sich der
bischöfliche Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP "in erster
Linie den sogenannten Kriegsverbrechern", wie er seinem Tagebuch
anvertraut. "Jesus liebt dich", predigt im April 1947 auch der polnische
Jesuitenpater Wladyslaw Lohn in Wadowice bei Krakau. Er betreut dort
einen Gefangenen, der vom Kriegsverbrechertribunal in Krakau zum Tode
verurteilt wurde. Rudolf Höß, der ehemalige Kommandant des
Konzentrationslagers Auschwitz, sinkt auf die Knie. "Ego te absolvo",
zeichnet der Pater über seinem Kopf das Kreuz in die Luft: "Ich vergebe
dir deine Sünden."
In der jüngsten Erklärung des Vatikans mit dem Titel
"Wir erinnern. Eine Reflexion über die Shoah" fehlt nicht nur das "Mea
culpa" für die Erfindung des Ghettos, des Judenflecks, der
Bücherverbrennung, es fehlt auch das Geständnis der Fluchthilfe für
Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg. "Papst Pius XII. und seine
Repräsentanten" haben versucht - so steht es in der Erklärung -,
"Hunderttausenden von Juden" das Leben zu retten. Solange allerdings der
Vatikan seine Archive nicht öffnet, bleibt dies reine Behauptung. Sicher
ist hingegen schon heute, daß die christlichen Kirchen nach dem Zweiten
Weltkrieg die Arme weit ausbreiteten und Millionen von ehemaligen
Nationalsozialisten als zuvor "verlorene Söhne und Töchter" wieder in
ihren Schoß zurückholten. Dies sieht die Kirche aber bis heute nicht als
ihren Fehler an. Ganz im Gegenteil: Das ist tiefster Inhalt des
christlichen Glaubens an die "Liebe des Erlösers".
Pater Lohn versichert denn auch dem Massenmörder Höß
kurz vor der Hinrichtung: "Der größten Zuneigung des barmherzigen
Erlösers erfreuen sich die Sünder, denn ihr Unglück ist am größten." Als
der "Henker von Auschwitz" am 16. April 1947 selbst an der Stelle seines
unheilvollen Wirkens unter dem Galgen steht, ist er sicher, im Jenseits
auf einen gnädigen Gott zu treffen. Jesus liebt ihn und wird ihm den
Judenmord vergeben. Nach der Beichte und dem Glaubensbekenntnis hat Höß
das "Viatikum", die katholische "Wegzehrung auf dem Weg in die
Ewigkeit", erhalten. Versöhnt - nicht mit der Welt, aber mit Gott -
steht der ehemalige Kommandant auf dem Hinrichtungsplatz vor dem
KZ-Gelände. Vor ihm liegen die Baracken und die Lagerstraße, die
elektrisch geladenen Stacheldrahtzäune, die Flutlichtanlage, die
Wachtürme, der Laufweg für die scharfen Hunde. Links vom Galgen, in nur
fünfzig Meter Entfernung, steht eine luxuriöse Villa - hier hatte Höß
als Lagerkommandant mit seiner Familie gewohnt. Im Garten hatten die
Kinder "Juden und SS" gespielt. Rechts ragen Krematorium und Schornstein
in den Himmel. Im Mund hat Höß den Geschmack der Hostie.
Rudolf Franz Ferdinand Höß ist wie die meisten der
später führenden Nationalsozialisten und SS-Funktionäre religiös erzogen
worden. In seiner Autobiographie, die er im Januar 1947 im Krakauer
Untersuchungsgefängnis schreibt, notiert er für die Nachwelt: "Es stand
für mich fest, daß ich unbedingt Missionar würde. Mein Vater war
fanatischer Katholik. Er legte das Gelübde ab, wonach ich Geistlicher
werden sollte." Das Kind dient als Ministrant bei der Messe, geht
regelmäßig zur Beichte, betet auch zu Hause viel. Der Erste Weltkrieg
wird für den Sechzehnjährigen zum prägenden Erlebnis. An der Irakfront
erschießt er im Nahkampf einen Inder. Noch dreißig Jahre später jubelt
der Massenmörder in seiner Autobiographie: "Mein erster Toter!" Im
Tornister des halbwüchsigen Soldaten liegt immer auch eine Bibel. Als
der Junge nach dem Krieg ins heimatliche Mannheim zurückkehrt, sind die
Eltern tot, die Schwestern im Kloster, das Haus ist aufgelöst. Der noch
immer Minderjährige schließt sich dem Freikorps Roßbach an, kämpft im
Baltikum, begeht einen Fememord, landet im Gefängnis. Wie Hitler nutzt
er die Zeit, sich mit Literatur, Philosophie und Religion zu
beschäftigen. Das Wichtigste für ihn ist jedoch die Arbeit. Höß ist
überzeugt, einen "gerechten Mord" begangen zu haben und wird im
Gefängnis von Rachegefühlen und Haß getrieben. Die Arbeit hilft ihm,
einen "freien Kopf" zu bekommen.
Später, schon als Leiter des KZ Auschwitz, wird er über
dem Eingang des Lagers den "erzieherischen Leitspruch" der Nazis
anbringen: "Arbeit macht frei". Für die Kinder und die meisten Frauen in
Auschwitz ist aber nicht einmal diese "metaphysische Freiheit"
vorgesehen. Sie erhalten erst gar keine Arbeit. "Sie kommen hierher, um
zu sterben", erklärt Höß seinem Schwager bei dessen Verwandtenbesuch in
Auschwitz.
Nach der Entlassung aus dem Gefängnis, 1929, will Höß
ein "geordnetes Leben" führen. Er zieht aufs Land, gründet eine Familie,
begegnet aber immer wieder den "alten Kameraden". Schließlich, 1934,
tritt er in den aktiven Dienst der SS ein. Im KZ Dachau absolviert er
eine Lehre als künftiger Lageraufseher, in Sachsenhausen die
Gesellenzeit. Als er zum nationalsozialistischen "Meister-Mörder"
aufgestiegen ist, erhält er von Heinrich Himmler den Auftrag, Auschwitz
als Gefangenen- und Arbeitslager aufzubauen. Der Befehl, dann auch
Gaskammern zu bauen, um dort die Juden Europas umzubringen, erfüllt ihn
mit Stolz. Er fühlt sich als ein Auserwählter, als Mann, der die
"heiligen" Befehle Hitlers ausführen darf. Gewissensbisse oder Schuld
kennt er nicht. Höß glaubt nach dem Ersten Weltkrieg, der wilden
Freikorpszeit und den Jahren im Gefängnis an "den Führer" wie zuvor an
Jesus Christus.
In einer vor kurzem erschienenen Dissertation zeichnet
Manfred Deselaers, seit einigen Jahren Pfarrer in Oswiecim/Auschwitz,
die "Umkehr des Sünders" nach. Er versucht, fundamentaltheologisch zu
begründen, warum Christus den Judenmörder Höß liebt. Es gibt - aus Sicht
des Autors - nur ein Problem: Höß hat in all seinen Schriften nie ein
Schuldbekenntnis abgelegt. Da aber Pater Lohn das "Ego te absolvo"
gesprochen und Höß wieder in den "Schoß der katholischen Kirche"
aufgenommen hat, muß die Umkehr in der Beichte erfolgt sein. Doch die
wurde nie veröffentlicht. Das Beichtgeheimnis sorgt für ewiges
Schweigen.
Deselaers meint aber nachweisen zu können, daß Höß
zumindest "auf dem richtigen Weg" war. So sieht Höß beispielsweise ein,
daß die "Judenvernichtung falsch, grundfalsch war", nicht aber weil Mord
Mord ist, sondern weil sich die Deutschen "durch diese Massenvernichtung
den Haß der ganzen Welt zugezogen" hätten. "Dem Antisemitismus war damit
gar nicht gedient", schreibt Höß. "Im Gegenteil, das Judentum ist
dadurch seinem Endziel viel nähergekommen." Deselaers gibt zu, daß dies
noch nicht ganz im Sinne des christlichen Herrn sei. Aber immerhin, ein
Anfang sei gemacht. Im Abschiedsbrief an seine Frau bekennt Höß endlich,
daß "die ganze Ideologie, die ganze Welt, an die ich so fest und
unverbrüchlich glaubte, auf ganz falschen Voraussetzungen beruhte. So
war auch mein Handeln im Dienste dieser Ideologie völlig falsch."
Allerdings weist er gleich darauf alle individuelle Schuld von sich:
"Was nützt alles Abwägen, ob falsch ob richtig. Nach meiner Anschauung
sind unser aller Lebenswege vom Schicksal, von einer weisen Vorsehung
vorbestimmt und unabänderlich."
Juden, die möglicherweise nicht ganz einsehen können,
weshalb ausgerechnet Höß vom christlichen Erlöser so geliebt wird,
schreibt die Vatikan-Erklärung ins Stammbuch, daß "das Bewußtsein der
Sünden der Vergangenheit" auch bei den Juden dazu führen müsse, daß es
unter ihnen "niemals mehr antichristliche Ressentiments" gebe. Höß, dem
die Kirche den Massenmord an den Juden vergeben hat - "Ego te absolvo"
-, gebührt demnach auch von den Juden Respekt. Er nämlich gehört zu
jenen Gläubigen - Christen wie Juden -, "die den einzigen Schöpfer und
Herrn verehren und einen gemeinsamen Vater im Glauben haben, Abraham."
Dieser Artikel erschien im taz-magazin,
13./14.6.1998
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