Chaim Frank im Gespräch mit Helmut
Kindler in Zürich FRANK:
Sehr geehrter Herr Kindler, Sie waren für das Theater tätig, arbeiteten
für Zeitungen, waren später selbst Herausgeber der Zeitschrift REVUE und
schließlich Gründer eines bedeutenden und hervorragenden Kulturverlages. Sie
sind ein liebevoller Ehemann und Vater zweier Töchter, heute Pensionär. Ihr
Leben haben Sie in dem Buch "Zum Abschied ein Fest" beschrieben und es ist
dies ein interessanter Lebenslauf, den man nicht bei vielen Persönlichkeiten
unserer Zeit finden kann.
Wenn Sie Rückschau halten auf Ihr Leben, war es das, was Sie sich in Ihrer
Jugendzeit erträumt hatten, oder wollten Sie etwas ganz anderes werden, z.B.
im Theater Bereich?
KINDLER:
Ja, ich wollte eigentlich Regisseur werden.
FRANK:
Was hat Sie dazu bewogen, bzw. wodurch wurde diese Entscheidung geprägt?
KINDLER:
Das war im Jahr 1928, am 2.12., ein Tag vor meinem 16.Geburtstag, als
das Theaterstück ''Revolte im Erziehungshaus'' von Peter Martin Lampel (1894
1965) im Thalia Theater in Berlin seine Uraufführung hatte, das mich stark
beeindruckte. Die Folge war, daß ich den Autor aufsuchte und mit ihm nicht
nur über die Mißstände in Erziehungsheimen sondern auch in höheren Schulen
diskutierte. Ich litt damals sehr unter dem reaktionären Unterricht. Ich
machte Lampel den Vorschlag, ein Stück zu schreiben, und es entstand das
Stück ''Pennäler'', das ein Jahr später, 1929, im Theater am Schiffbauerdamm
zur Uraufführung kam. Lampel wurde von mir mit Material versorgt, und als
'Honorar' dafür durfte ich als Regie Volontär und Schauspieler unter der
Regie von Hans Hinrich mitwirken. Das Bühnenbild schuf, soweit ich mich
erinnere, Wolfgang Böttcher. So begann der erste Teil meiner Berufslaufbahn.
FRANK:
Mit 16 Jahren spielten Sie an der Volksbühne in Berlin neben Ernst
Ginsberg und Peter Lorre in Wedekinds ''Frühlingserwachen'', später z.B. in
Horvaths Uraufführung ''Italienische Nacht'' im Theater am Schiffbauerdamm.
Können Sie etwas über diese Jahre erzählen?
KINDLER:
Das waren kleinere Rollen, die ich spielte. Mein Bestreben war nicht
Schauspieler, sondern Regisseur zu werden. In den Jahren 1929 bis 1932 war
ich an verschiedenen Theatern Regieassistent. Beeindruckend und prägend
wirkten vor allem jene Stücke auf mich, von denen eine aufklärerische,
gesellschaftskritische Tendenz ausging. Dabei denke ich besonders gern an
Ödön von Horvath's Stück ''Italienische Nacht'', im Jahre 1931, bei dem ich
unter Francesco von Mendelssohn als Regie Assistent und Schauspieler
mitwirkte. Die Bühnenmusik stammte von Bernhard Eichhorn, das Bühnenbild von
Nina Tokumbet, und die Tänze studierte Cläre Eckstein ein.
FRANK:
Wie Sie sagten, wollten Sie eigentlich Regisseur werden. Wieso
entschieden Sie sich dann für den Journalismus und wie kam es dazu?
KINDLER:
Als Hitler 1933 an die Macht kam, wo dann jüdische Intendanten,
Regisseure und Schauspieler ausgeschlossen und entlassen wurden, wollte ich
als Nichtjude kein Nutznießer dieser Situation sein, obwohl ich mir nichts
sehnlichster gewünscht hatte endlich selbst Regie zu führen. Sie müssen
wissen, ich war erst 20 Jahre alt, und ich bewegte mich zwischen
Journalismus, Literatur und Theater. Meine Interessen schwankten und so
entschied ich mich schließlich für den Journalismus. Möglicherweise war es
ein Fehler, denn im Theater hätte ich mich auf dem Gebiet der Unterhaltung
leichter durch die NS Jahre mogeln können; jedenfalls besser als ein
Journalist.
FRANK:
Sie schrieben in den ersten NS Jahren als freier Journalist für
verschiedene Zeitungen, insbesondere für das BERLINER TAGEBLATT und die
FRANKFURTER ZEITUNG. Seit 1938 wurden Sie durch die Empfehlung Sebastian
Haffners, Redakteur im Ullstein Verlag, der wenig später von den Nazis in
DEUTSCHER VERLAG umbenannt wurde.
KINDLER:
Das ist richtig. Ich schrieb aber keine politischen oder
wirtschaftlichen Beiträge, sondern ausschließlich im Feuilleton, was ich
ebensogut vor oder nach den Hitler Jahren hätte schreiben können. Mit meinem
Eintritt im Ullstein Verlag 1938 wurde das schon schwieriger, auch wenn ich
versuchte, mit so wenigen Kompromissen auszukommen, wie nur irgend möglich.
FRANK:
Während der NS Zeit waren Sie auch im Widerstand tätig und wurden
schließlich durch die Gestapo, ich glaube ab 1943, inhaftiert.
KINDLER:
Die Arbeit als Redakteur war nur dadurch erträglich, daß ich im
Widerstand war. Meine Verhaftung im Herbst 1943 in Warschau erfolgte auf
Grund meiner Zugehörigkeit zur Widerstandsgruppe ''Europäische Union'', die
Dr. Robert Havemann und der Arzt Dr. Georg Groscurth, der leider
hingerichtet wurde, leiteten.
FRANK:
Nach dem Krieg gründeten Sie mit Heinz Ullstein als Partner einen
Zeitschriftenverlag. Durch die US Lizenz, ich glaube es war die Nummer B
206, kamen 1947 die ersten Bücher in diesem Verlag heraus, wie z.B. White's
''Ich adoptierte Margaret'', dann das bedeutende Buch von Kantorowicz
''Verboten und Verbrannt'', Grindel's ''Ethos der Freiheit'', Peter de
Mendelssohn's ''Der Zauberer'' und weitere.
Wie kam es zu dieser 'Partnerschaft' mit Ullstein?
KINDLER:
Heinz Ullstein kannte Feuilletons von mir, die ich geschrieben hatte und
erklärte der US Militär Regierung in Berlin er würde sich für die Lizenz
einer Frauenzeitung als Mitverleger Helmut Kindler wünschen.
Es entstand die wöchentlich erscheinende ''SIE''. Aus dem Programm dieser
Wochen Zeitung entwickelten sich die ersten Buch Veröffentlichungen,
insbesondere der Band ''verboten und verbrannt'', der aus einer Sondernummer
der SIE entstanden ist, die ich mit Hilfe meiner Frau und anderen
Mitarbeitern der Zeitschrift publiziert habe.
Diese Sondernummer war ein Erfolg und die Buchausgabe, für die die US
Militärregierung eine Papier Zuteilung bewilligt hatte so war das damals
noch, war in wenigen Tagen vergriffen.
FRANK:
Wie hoch war die Auflage z.B. für diese Buchausgabe?
KINDLER:
Die Auflage des Buches ''verboten und verbrannt'', für die ich Drews und
Kantorowicz gewinnen konnte, war sechzigtausend Exemplare.
FRANK:
Sie übersiedelten später nach München. Warum gerade München, zumal Sie
ja doch ein 'waschechter' Berliner sind?
KINDLER:
Die Übersiedlung nach München, das war circa Ende 1947, hatte einen
privaten Grund. Unsere kleine Tochter Georgette hatte TBC, die in der
Trümmerstadt Berlin nicht ausgeheilt werden konnte. In München wurde das
Kind gottlob wieder gesund. Heinz Ullstein blieb mit der Zeitschrift SIE in
Berlin. Ich verlegte den Erscheinungsort der ''REVUE'' nach München.
FRANK:
Die ''REVUE'', war Ihre zweite Zeitschrift, die Sie nach der ''SIE'' in
Berlin gründeten.
KINDLER:
Das ist richtig. Die ''REVUE'' erschien in Berlin vom Herbst 1946 an
neben der SIE zweimal monatlich als illustrierte Zeitschrift und hatte den
Charakter einer Kunstzeitschrift. Die geringe Papierzuteilung reichte
allerdings nur für eine Auflage in Berlin. Infolge der Blockade Berlins im
Sommer 1948 wurde das Erscheinen in Frage gestellt. So kam unsere
Übersiedlung der Zeitschrift zugute, die sich bald zu einer aktuellen
Illustrierten entwickelte und seit März 1949 wöchentlich erscheinen konnte.
Seit 1952 stieg die Auflage von 600 tausend ständig. Im Sommer 1958 zählte
die REVUE Auflage 950 tausend Exemplare und überstieg dann die
Millionengrenze. Unseren Slogan ''Mittwoch früh... die REVUE'' konnte man in
vielen Städten lesen.
Mitte der Fünfzigerjahre kam eine neue Kultur Zeitschrift, DAS SCHÖNE hinzu,
die sich mit Kunst und Literatur beschäftigte.
FRANK:
Wir wollen aber auch nicht vergessen, daß Sie eine Zeitschrift für
Jugendliche geschaffen haben. Die gibt es heute noch, jedoch leider nicht
mehr mit jenem Niveau, wie Sie es damals boten: die BRAVO.
KINDLER:
1955 kam ich durch meine Tochter, ihren Schulfreundinnen und
Schulfreunden auf den Gedanken, eine Zeitschrift für junge Leser
herauszubringen.
Mein damaliger Berater in der Planung war Peter Boenisch, ein
Redaktionsmitglied unserer REVUE. Der Titel dieser Jugend Zeitschrift
stammte von meiner Frau, denn wie oft hatten wir im Theater 'Bravo' gerufen.
Als Boenisch zur REVUE zurückkehrte, konnte ich 1959 noch Liselotte Krakauer
für die Chefredaktion der BRAVO gewinnen. Durch sie erhielt das Blatt einen
Touch ins Mädchenhafte, was sich als außerordentlich erfolgreich erwies.
Das Titelbild nahm stets Bezug auf den Inhalt. Dieser bestand nicht nur aus
Flimmern und Glitzern, sondern ging auch auf Probleme und Interessen junger
Menschen ein, vor allem auch auf Fragen, die von Jugendlichen gestellt, und
von einem Psychologen und Theologen das war der bekannte und populäre
Pfarrer Sommerauer, beantwortet wurden. 1955 benannte ich den Buchverlag zur
Unterscheidung vom Zeitschriftenverlag, dem KINDLER und SCHIERMEYER Verlag,
in KINDLER Verlag um.
FRANK:
Im Laufe der folgenden Jahre gaben Sie eine größere Anzahl von Werken
jüdischer Autoren heraus, wobei Wasserman, Peter de Mendelssohn, Maurois,
Richler, Uris, Brod, Ikor nur als Beispiele genannt werden sollen. Ferner
erschienen Bücher, die sich mit der 'Vergangenheitsbewältigung'
auseinandersetzten. Es wäre interessant zu erfahren, wieso. Schließlich muß
man bedenken, daß diese Bücher gerade in einer Zeit erschienen sind, in der
sich die 'Lesermasse' kaum für diese Thematiken interessieren wollte. Wurden
Sie hier von persönlichen Gründen geleitet?
KINDLER:
Ich war geprägt von den schon erwähnten, Theaterstücken in den letzten
Jahren der Weimarer Republik, nicht zuletzt auch von der Piscator Bühne in
Berlin. Ich hatte erlebt, wie schöpferische Künstler, nur weil sie Juden
waren, 1933 vom Theater und der Literatur ausgestoßen wurden und mußte
außerdem in den Nazi Jahren den mörderischen Rassismus erleben, der sechs
Millionen Juden den Tod brachte. So knüpfte ich also als Verleger einerseits
an die Theater Stücke und die Literatur der Weimarer Republik an, setzte
andererseits meine Widerstandsarbeit während des Dritten Reiches in unser
verlegerisches Programm um. Es war für mich selbstverständlich, dem
Jüdischen einen bevorzugten Platz im Rahmen der Programmgestaltung
einzuräumen.
FRANK:
Als eine wortwörtliche 'Meisterleistung' Ihrer Verlagstätigkeit muß man
die Herausgabe der Taschenbuch Reihe ''GEIST und PSYCHE'' sehen, ein
weitgefächertes Psychologie Programm, das seit der Mitte der Sechzigerjahre
bis zum Jahr 1982 fortbestand. Woraus entstand dieses Vorhaben, das sich
eigentlich an einen spezifizierten Leserkreis wandte?
KINDLER:
Dieser Programmteil ist ausschließlich meiner Frau zu verdanken. Als
Tiefenpsychologin und Graphologin machte es ihr Freude, die Taschenbuchreihe
''GEIST und PSYCHE'' zu entwickeln, an die sich dann ein weiteres
Psychologie Projekt, die fünfzehnbändige Enzyklopädie ''Psychologie des XX.
Jahrhunderts'', anschloß. Daß Herausgeber und Beitragsverfasser dieses
Programmteils vielfach Juden waren, erklärt sich aus der Tatsache, daß mit
Sigmund Freud die Psychoanalyse im Dritten Reich verboten worden war, und
die Mehrzahl der jüdischen Psychoanalytiker gezwungen gewesen waren, ins
Exil zu gehen.
FRANK:
Großes Ansehen und bis heute andauernden Ruhm erwarben Sie dadurch, daß
Sie im deutschen Sprachraum das 'Wissen greifbar gemacht hatten'. Walter
Jens rühmte Sie: ''Wenn einem Verleger unserer Zeit die Demokratisierung des
'Großbetriebs der Wissenschaft' gelungen ist, dann Helmut Kindler!''
Schließlich gelten heute die KINDLER Reihen wie z.B. das ''Malerei
Lexikon'', das ''Literatur Lexikon'', oder Enzyklopädien wie die eben
genannte ''Psychologie des XX. Jahrhunderts'' sowie die außerordentliche
Anthropologie ''Der Mensch'' immer noch sowohl für öffentlicher wie auch
privater Bibliotheken als riesige 'Schätze'. Dies bezeugt, daß Sie über
einen hervorragenden Mitarbeiterstab verfügt haben mußten; wenn man einmal
auch davon absieht, welch ein Aufwand die Vorfinanzierung solcher 'Mammut'
Projekte bedeutet.Ich frage mich wie es möglich war, z.B. Alfred Neumeyer
für die Mitarbeit am MALEREI LEXIKON, und so viele andere bedeutende
Wissenschaftler für Ihre Enzyklopädien zu gewinnen.
KINDLER:
Daß ich, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, Prof. Alfred Neumeyer für die
Herausgabe und als Autor für unser Malerei Lexikon gewinnen konnte, verdanke
ich dem britischen Verleger Walter Neurath, ein Wiener, der nach seiner
Emigration in London den Thames & Hudson Verlag aufbaute. Neurath, der ein
Freund von mir wurde, hatte mich in kunstgeschichtlichen Fragen beraten.
Neuraths Sohn und Tochter sind heute für das bedeutende Programm dieses
Londoner Verlages verantwortlich. Bei den anderen mehrbändigen Enzyklopädien
unseres Verlages war es für mich selbstverständlich, auch jüdische
Wissenschaftler hinzuzuziehen.
FRANK:
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Abschluß unseres Gespräches noch
einiges 'Persönliches' mitteilen könnten, wie z.B. etwas über Ihre Familie.
Ihre Tochter schrieb meines Wissens im Kindesalter schon Bücher, wie z.B.
''Papi ist an allem schuld''. Ihre Gattin ist, soweit ich erfahren konnte,
die bekannte Schauspielerin Nina Raven, die sich später der Psychologie und
Graphologie zuwandte.
KINDLER:
Nun, was soll ich sagen? Meine Frau gab 1945, schweren Herzens, ihren
Beruf als Schauspielerin auf, um mir bei meiner Arbeit und auf meine Bitte
hin zu helfen. Viele Jahre später nach tiefenpsychologischer Lehranalyse und
graphologischen Studien sollte sie die psychotherapeutische Praxis ihrer
mütterlichen Freundin und Lehrmeisterin Hilde Supan in München übernehmen.
Doch verzichtete sie darauf, um, wie gesagt, mich in meiner verlegerischen
Arbeit nicht allein zu lassen. So teilten wir unser Leben nicht nur privat,
sondern gleichzeitig auch beruflich. Die Tochter meiner Frau aus erster Ehe,
Manon Hoffmeister, ist Psychoanalytikerin geworden und lebt heute in
Tübingen.
Unsere Tochter, Georgette Skalecki derentwegen wir seinerzeit Berlin
verließen und in München den heutigen Kindler Verlag gründeten, ist
Übersetzerin. Das von Ihnen erwähnte kleine Buch ''Papi ist an allem
schuld'' schrieb Georgette, als sie elf Jahre alt war und es erschien im
Frühjahr 1956 in meinem Verlag. Es war ihr Werk und ist ohne unsere Beratung
oder gar unseren Einfluß entstanden. Lediglich die Interpunktion und die
Rechtschreibung wurde da, wo es mir unerläßlich erschien, richtiggestellt.
Georgettes Tochter, Jessica, die in Istanbul lebt, hat uns im Oktober vor
vorigen Jahres zu Urgroßeltern gemacht und unserer Urenkeltochter den Namen
Sarah gegeben.
FRANK:
Herr Kindler ich bedanke mich für dieses Interview. Gleichzeitig möchte
ich Ihnen aber auch im Namen der Leser der JÜDISCHEN KULTURBÜHNE und von
haGalil onLine, unter welchen sich mit Sicherheit auch Besitzer von Kindler
Bücher befinden, für Ihr jahrzehntelanges Engagement als deutscher Verleger
Dank und Anerkennung aussprechen.
Mögen alle Ihre weiteren Wünsche und Zielsetzungen in Erfüllung kommen,
'Masl Tov'!
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