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Henryk Broder über jüdischen Antisemitismus, Selbsthass und Judenfragen:
"Wir sind alle traumatisiert"

Interview in tachles v. 14. Juli 2006

Henryk Broder hatte Anfang Jahr über den Verleger Abraham Melzer und dessen Autor Hajo Mayer jenen Satz geschrieben, der einen seit Monaten dauernden Gerichtsfall nach sich zog: "Holo mit Hajo – Wie zwei Juden für die Leipziger den Hitler machen". Dies, nachdem die beiden an der Leipziger Universität im Rahmen eine Anlasses aufgetreten sind. Das Frankfurter Landgericht befand Broders Satz für zulässig. Inzwischen wurde die Berliner Staatsanwaltschaft aktiv und sendete Broder einen Strafbefehl. Gegen diesen legte der Publizist Widerspruch ein. Vor einigen Tagen kam es zur Verhandlung in Berlin, die Anklage wurde von einem Oberstaatsanwalt vertreten. Die Verhandlung endete mit einem Freispruch für Broder. Der Fall hat im Frühjahr grosses Medieninteresse bewirkt, da letztlich ein Gericht über die Frage zu befinden hatte, was nun Antisemitismus sei und was nicht.

tachles: Können Sie erklären, was jüdischer Antisemitismus ist?

Henryk Broder: Es gibt keine Formel, mit der man jüdischen Antisemitismus erklären könnte. Der Begriff ist uralt und meines Wissens von Theodor Lessing geprägt worden, und vermutlich ist das Phänomen noch älter als der Begriff selbst. Am Anfang war es, wie bei Theodor Lessing selbst, eine Form von Emanzipationsbewegung aufgeklärter, liberaler, gebildeter Juden und richtete sich gegen diese seltsamen, schwarz gekleideten jüdischen Untermenschen in Europa. Das gab es öfter bei Literaten; auch Karl Kraus verfasste eine solche Schrift. Dann kam Auschwitz, und nach Auschwitz waren solche Juden nicht mehr harmlos.

Also Selbsthass als Emanzipationsfaktor.

Früher gab es zwei Möglichkeiten, sich zu emanzipieren: Man wurde jüdischer Antisemit, um sich bei der Mehrheit einzuschleimen, oder Zionist, um sich von der Mehrheit abzusetzen. Heute haben Sie diese Optionen nicht mehr, denn Sie werden als Jude von der Mehrheit nicht benötigt, um sich vom Judentum zu distanzieren. Ganz im Gegenteil. Als Jude werden Sie als exotisches Wesen auf Händen getragen, solange sie Klezmer-Musik spielen, gefillte Fisch essen und sich ansonsten unauffällig benehmen. Sie sind erst dann nicht mehr willkommen, wenn Sie sich als Zionist zu erkennen geben. Das heisst für Juden, dass sie sich vom Judentum gar nicht mehr zu distanzieren brauchen, weil damit in der post-modernen und nachreligiösen Gesellschaft kein Problem da ist. Bleibt das Problem der zionistischen Emanzipation. Früher konnte man sich vom Judentum distanzieren, indem man Zionist wurde, heute kann man sich vom Judentum distanzieren, indem man Antizionist wird. Der Mechanismus ist derselbe, die Richtung ist eine andere.

Das heisst, ein antizionistischer Jude ist ein jüdischer Selbsthasser oder jüdischer Antisemit?

Ein antizionistischer Jude ist tendenziell ein Antisemit. Der Antizionismus ist für Nichtjuden wie für Juden nur eine Ausrede, ihren Antisemitismus sozusagen in einer politisch aseptischen Form präsentieren zu können. Kein Mensch geht hin und sagt: Ich bin Antisemit. Es gibt keinen Antizionismus, der seinen Ursprung nicht im Antisemitismus hätte.

Aber es gibt ja sich wandelnde Begriffe wie zum Beispiel Zionismus, Nationalismus oder Patriotismus, welche innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der aufgeklärten Diskussion durchaus kritisch thematisiert werden.

Dass in einer aufgeklärten Diskussion alle Positionen vertreten werden können, ist selbstverständlich. Kritik an Israel ist vollkommen selbstverständlich. Aber der jüdische Antisemit, als jüdischer Antizionist verkleidet, bestreitet erst mal das Recht der Juden, überhaupt dort zu sein. Zweitens macht er die Juden für alles verantwortlich, was dort passiert, er idealisiert die Araber und dämonisiert die Juden, und er schleicht sich damit in das Gemüt der Antisemiten ein. Obwohl er sozusagen beim nächsten Transport einen Platz am Fenster auf sicher haben würde.

Gemäss Ihrer Definition tritt der so genannte jüdischer Antisemitismus in den letzten Jahren öfter auf.

Ich halte es für keinen Zufall, dass sich dieses Phänomen in den letzten Jahren so entwickelt hat, und zwar ungefähr seitdem es im Nahen Osten so aussieht, als würde es schief gehen. Seit dann hat sich politisch und mental eine neue Situation eingestellt. Politisch wissen wir, was auf dem Spiel steht, mental merke ich, dass es plötzlich viele Leute für möglich halten, dass Israel diesen Konflikt nicht überlebt. Was für Folgen hätte das für die Juden in Europa? Diese sind der Meinung, dass sie Israel helfen müssen, weil es von ihnen abhängig ist. Das ist völliger Quatsch. Israel könnte wunderbar ohne die paar Millionen auskommen, die hier auf Partys gesammelt werden, weil die hiesigen Juden auch ein schlechtes Gewissen haben. Demgegenüber brauchen die europäischen Juden Israel. Ohne Israel wäre ihre gesicherte Existenz schwer gefährdet.

Nicht alle Juden in der Diaspora haben dieses schlechte Gewissen. Es muss also eine tiefere menschliche und nicht jedem ersichtliche Ebene angesprochen sein.

Jüdische Antisemiten haben eine besondere Antenne, die ihnen sagt, dass ihre Existenz als Juden gefährdet ist. Und um diese Gefährdung zu neutralisieren, sorgen sie vor, indem sie kapitulieren, bevor sie angegriffen werden. Sie liefern den Antisemiten Argumente gegen Israel, um damit zu zeigen, dass sie schon auf der richtigen Seite sind. Der Ernstfall ist noch nicht eingetreten, aber sie haben schon die Seite gewechselt; das Boot ist noch nicht untergegangen, aber sie sitzen schon im Rettungsboot.

Und wenn – um das Beispiel auch im Extremfall zu Ende zu führen – der Ernstfall eintreten sollte?

Wenn der Ernstfall eintritt, werde ich – leider – mit diesen jüdischen Antisemiten im selben Zug sitzen. Das einzige, was uns unterscheiden wird: Es kann sein, dass ich einen Stehplatz haben werde und sie einen Fensterplatz. Aber sie werden im selben Zug sein, es wird ihnen nichts nützen.

Eigentlich müsste das, was die anderen zu jüdischen Antisemiten werden lässt, ja auch Sie beunruhigen.

Ja. Ich glaube, dass aus allem, was ich von diesen Leuten lese, eine wahnsinnige Angst spricht. Die Angst kompensieren sie damit, dass sie sagen: Verschont mich, ich bin der Bessere, ich sehe ja ein, dass die Juden am Antisemitismus Schuld sind. Es spricht daraus die Angst, das Flehen: Verschont mich, ich bin anders. Nicht: Verschont uns, oder: Hört mit dem Quatsch auf. Da kämpfen ein paar Leute aus tiefer Angst ums eigene Überleben – was legitim ist.

Gegenüber jemandem, der in Auschwitz war, kann man wohl kaum so argumentieren …

Das würde bedeuten, dass Auschwitz sozusagen eine Besserungsanstalt war. Auschwitz bedeutet in dem Fall gar nichts. Es ist keine moralische Begründung für eine Art von Verhalten. Manche sind nach Auschwitz fromm geworden, meine Mutter ist nach Auschwitz unfromm geworden. Auschwitz hat weder einen Erkenntnisgewinn gefördert, noch zu moralischem Verhalten verpflichtet. Es ist doch eine Standardaussage der Antisemiten zu sagen: Wie können die Juden, die so viel gelitten haben, anderen Leid zufügen? Aber Auschwitz taugt nicht als Argument, weder für das eine, noch für das andere.

Gibt es also keinen Unterschied zu jenen, die Auschwitz nicht erlebt haben?

Nein. Es ist genau das Gleiche. Der eine ist so traumatisiert, der andere so.

Wollen Sie damit sagen, dass es sich insgesamt um eine etwas seltsame Diskussion zwischen Traumatisierten handelt?

Das ist mir noch gar nicht klar geworden. Das könnte man so sehen, ja. Offenbar sind wir alle traumatisiert. Glauben Sie, jemand, der in Jugoslawien im Bürgerkrieg war, ist nicht traumatisiert?

Ein jüdischer Antisemit ist also ein Selbsthasser.

Natürlich. Es gibt auch nicht jüdische Selbsthasser, es gibt genug Deutsche, die Deutschenhasser sind. Das Problem des Selbsthasses ist nicht neu, und es ist nicht auf die Juden beschränkt. Im Prinzip spricht auch nichts gegen Selbsthass. Ich finde, wenn man schon jemanden hasst, dann besser sich selber als andere. Dann tut man anderen weniger Unrecht, es ist also ganz in Ordnung so. Nur werden Sie einen jüdischen Selbsthasser wie Abraham Melzer oder Hajo Meyer nie dazu bekommen, zu sagen, dass sie jüdische Antisemiten oder Selbsthasser sind. Auch das ist kein aufregendes Phänomen. Versuchen Sie mal einen Kinderschänder dazu zu kriegen, zu sagen, dass er ein Kinderschänder ist. Nein, er liebt Kinder – wenn auch auf seine Weise.

Aber beim Kinderschänder kann man seine Tat meist beweisen und es gibt Zeugen bzw. Opfer. Beim jüdischen Antisemiten ist das schon schwieriger.

Richtig. Weil sozusagen der unmittelbar Geschädigte fehlt. Das Objekt fehlt, und der Akt liegt nicht im Vollzug, nicht in der kriminellen Handlung. Der Akt liegt in einem kontinuierlichen Verhalten. Aber es gibt ein ultimatives Kennzeichen, an dem sie jeden Antisemiten erkennen können, egal ob Jude oder nicht, egal ob er es zugibt oder nicht. Das Kennzeichen ist, wenn Juden dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie verfolgt werden. Wenn also der Grund für den Antisemitismus im Verhalten der Juden gesucht und gefunden wird, dann liegt Antisemitismus vor. In einem Leserbrief im «Spiegel» habe ich dafür mal ein schönes Beispiel gefunden. Da stand: «Seit 2000 Jahren verfolgt, und immer ohne Grund?» Und das ist es. Der Antisemit hat prinzipiell eine defensive Einstellung, übrigens etwas, was Hitler und Ahmadinejad gemeinsam haben. Sie verteidigen sich gegen die Juden; sie sind die Aggressoren, aber sie müssen sich gegen die Juden verteidigen. Dazu gehört auch, dass der Antisemit den Grund für seine Abneigung den Juden gegenüber im Verhalten der Juden sucht, und dafür ist es egal, was die Juden im Laufe der Geschichte gemacht haben. Den Antisemiten hat es nie gestört, wie der Jude ist. Es hat ihn immer nur gestört, dass er da ist. Und dieses Muster finden Sie heute auch bei jüdischen Antisemiten. Israel kann machen, was es will, es kann Gaza besetzen oder räumen, es ist dafür verantwortlich, was dort passiert. Es kann den Palästinensern jedes Angebot machen, es ist immer Schuld. Wer das Haniyeh-Interview im «Spiegel» liest und dann immer noch dafür ist, dass man mit der Hamas redet, ist nicht ganz bei Trost.

Dann würden Sie jeden, der für Gespräche mit der Hamas ist, als tendenziellen jüdischen Antisemiten bezeichnen?

Nein, das nicht. Aber irgendwann beginnt es im Kontinuum doch etwas komisch zu werden. Es gibt auch viele Narren und Leute, die glauben, wenn sie zu den anderen nett seien, seien diese auch nett zu ihnen. Das ist zwar ein menschliches Verhalten, aber irgendwann wird es dann kritisch. Man kann es von Fall zu Fall entscheiden. Es gibt Fälle, die eindeutig sind, es gibt Fälle, die zwiespältig sind, und es gibt Fälle, die auf der anderen Seite eindeutig sind.

Ändert denn die ganze Diskussion, auch wenn sie wichtig ist, etwas daran, dass der Antisemitismus – jüdisch oder nicht – nicht ausgerottet werden kann?

Es ändert sich nie etwas daran, ob man sich damit beschäftigt oder nicht. Denn die ganze Diskussion ist völlig albern. Die Welt ändert sich nicht durch die Debatten, die Sie oder ich führen. Die Welt ändert sich dadurch, dass irgendwo ein 17-jähriger Jugendlicher in einer Garage einen neuen Chip erfindet. Interessant finde ich nur, dass dieses Phänomen Konjunkturen hat, dass es auf und ab geht. Hätten Sie mich noch vor 15 Jahren gefragt, wer ein jüdischer Antisemit ist, hätte ich lange nachgedacht und vielleicht gesagt: Erich Fried. Aber zu der Zeit war er schon tot.

Trotzdem sitzen Sie mit 59 Jahren nicht in der Garage und erfinden einen Chip. Diese Frage bewegt Sie doch enorm.

Ich habe mich damit eine ganze Weile nicht beschäftigt, und plötzlich werde ich damit von einigen Seiten konfrontiert. Da sind Noam Chomsky und Norman Finkelstein in Amerika, zwei absolute Psychos. In einem Interview im libanesischen Fernsehen verbeugt sich Chomsky tief vor der Hamas – es ist unfassbar. Chomsky, der als Intellektueller gilt. Und wenn Finkelstein kein jüdischer Antisemit ist, dann gibt es keinen. Und in London taucht Gilad Atzmon auf, ein guter Saxophonspieler, der jetzt auch seine Antisemitismus-Witzchen macht. Dann haben sie einen Mann in Zürich namens Shraga Elam. Dann den berühmten Hajo Meyer. Wann hat man je etwas von Hajo Meyer gehört? Für viele Leute ist das die einzige «Hall of Fame», die Möglichkeit, das zu kriegen, was Warhol als die 15 Minuten Ruhm bezeichnet hat. Es ist nicht sehr viel, aber es häuft sich, und ich bin nicht der einzige, dem dies auffällt.

Können Sie auch einen Namen eines kritischen jüdischen Intellektuellen nennen, von dem Sie sagen würden, dass er kein jüdischer Antisemit ist?

Das würde ich von den meisten sagen, von Alain Finkielkraut bis zu mir selbst. Finkielkraut hat mit «Le juif imaginaire» ein wunderbares Buch geschrieben, das mein Leben verändert hat. Er haut den Juden allerhand um die Ohren, dass es nur so knallt, aber er ist kein Antisemit.

Sie haben ja ein ähnliches Buch geschrieben, «Die Irren von Zion».

Man kann über Israel alles sagen, nur muss man auf zweierlei achten. Erstens wird die Grenze dann überschritten, wenn es zur schlichten Verweigerung des Existenzrechtes kommt. Das zweite ist: Ist es Kritik an dem, was Israel macht – und ich halte im Prinzip jede Kritik für erlaubt, auch die ungerechte, die überzogene und die gemeine –, oder ist es Schleimerei, der Versuch sozusagen, die eigene Position den Antisemiten gegenüber klar zu machen?

Könnte man nicht auch Ihren eigenen Artikel über Ahmadinejad als Schleimerei betrachten? Man kann so etwas schnell einmal sagen …

Ja, das kann passieren. Komischerweise ist es mir selten passiert. Ich sage ja: Es gibt keine zuverlässige Formel. Aber es gibt trotzdem Sachen, die völlig eindeutig sind, wenn es natürlich bei Grenzfällen auch Spielräume bei der Beurteilung von Tatbeständen gibt, die sich im Philosophischen abspielen. Trotzdem glaube ich, dass ich Recht habe. Es gibt einen jüdischen Antisemitismus, und er speist sich aus dem Wunsch, den Antisemiten die Botschaft zu übermitteln: Verschone mich.

www.tachles.ch

Ein dickes Ding:
"Damit tun Sie den Juden keinen Gefallen!"
Ich stand vor dem Amtsgericht Tiergarten, angeklagt wegen Beleidigung. Klingt schlimmer, als es ist. Mein alter Freund Abi Melzer, der größte Verleger alle Zeiten (GRÖVAZ), wollte es mal wieder wissen...

hagalil.com 15-07-2006

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