
"Tygodnik Powszechny" Nr. 8/2004, Seiten 1 und 5
(Übersetzung aus dem Polnischen)
Die zwölf Aktenordner
der Gabriele Lesservon Tomasz Potkaj
Ende Februar wird vor dem Hamburger Landgericht
ein Präzedenzfall verhandelt: Der Bund der Vertriebenen (BdV) und
seine Präsidentin haben eine in Warschau lebende Korrespondentin
verklagt, die in ihren in Deutschland publizierten Artikeln das in
Berlin geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" und den destruktiven
Einfluss Erika Steinbachs auf deutsch-polnische Beziehungen
kritisiert hatte.
Akribisch legt Gabriele Lesser für jedes Thema, mit dem sie sich
beschäftigt eine Hängemappe an. Die Mappen sind alphabetisch und
nach Sachgruppen geordnet: "Patriotismus", "Stereotypen" und
"Traditionen" hängen ebenso hintereinander wie politische Parteien
"Solidarnosc" und "Samoobrona", oder Andrzej Wajda und Lech Walesa.
Diese Ordnungsliebe ist ihr aus dem Geschichtsstudium geblieben.
"Ein gutes Archiv ist das Alpha und Omega der Arbeit eines
Historikers oder Journalisten", ist sie überzeugt, "Da gibt es
keinen Unterschied".
Besonders umfangreich ist das Thema "Vertreibung". Es hat längst
keinen Platz mehr in den Hängeordnern. Und so stehen zwölf gelbe,
prall gefüllte Aktenordner auf dem Fußboden ihrer Warschauer
Wohnung. In diesen Ordnern findet sich auch ein Dossier zum Bund der
Vertriebenen (BdV) und seiner Präsidentin Erika Steinbach. Wegen
eines dieser Steinbach-Zitate wird Gabriele Lesser Ende Februar in
Hamburg vor Gericht stehen.
Obwohl das Gericht ein deutsches ist, so ist die Sache, um die es
geht, doch ganz und gar polnisch. Und dies nicht nur deshalb, weil
der Kommentar mit diesem Zitat in Warschau abgeschickt wurde.
Ein merkwürdiges Land inmitten Europas
Oktober 1985, kurz vor dem Wintersemester. Die
junge Deutsche, eine Stipendiatin an der Geschichtsfakultät der
Jagiellonen-Universität, war gerade in Krakau eingetroffen. Sie
wollte so viel wie möglich über dieses merkwürdige Land in der Mitte
Europas erfahren. Auf dem Krakauer Hauptmarkt stehend, baute sie in
Gedanken einen polnischen Satz, wählte die richtige grammatische
Form, und erst dann fragte sie. "Alle haben mich verstanden, das war
eine Freude! Aber dann antworteten sie in einem Tempo, dass ich wie
ein Esel dastand und gar nichts verstand".
Das waren die ersten Tage in einem fremden Land.
Aber es gab noch ein zweites Problem: jede zweite Antwort war: "Ich
weiß nicht". Lesser: "Ich konnte einfach nicht begreifen, dass so
viele Leute so wenig wissen konnten. Im Stillen begann ich zu
argwöhnen, dass diese Krakauer vielleicht ganz einfach ein bisschen
dumm waren...?".
Sie hatte sich auf die Reise hinter den Eisernen
Vorhang gut vorbereitet. Shampoo solle sie mitnehmen, hatte man ihr
gesagt, Toilettenpapier und Gummistöpsel fürs Waschbecken. Außerdem
solle sie sich nicht wundern, dass die Regale in den Läden leer
seien und man Lebensmittelkarten brauche, wenn man Fleisch kaufen
wolle. Lesser: "Aber als ich in Krakau zum ersten Mal mit der
Straßenbahn fuhr, sah ich, dass die Leute gewaschene Haare hatten,
obwohl es in den Läden tatsächlich kein Shampoo zu kaufen gab. Wie
machen die das bloß, wunderte ich mich".
Polen war ein Land voller Paradoxe, stellte sie
mit der Zeit fest. Dass sie einmal für länger hier leben könnte,
hätte sie damals nicht für möglich gehalten. Im Gegenteil: "Warum
verlassen die Polen nicht massenhaft dieses Land in Richtung
Westen?", fragte sie sich damals. "Immerhin war Krakau schmutzig und
die Luft so schwefelhaltig, dass man kaum atmen konnte".
Im Studentenheim lernte sie junge Polen kennen, die das jährlich
stattfindende Studentenkabarettfestival PaKA vorbereiteten. Mit
ihnen fuhr sie durch das Land, zu allen Universitätsstädten, in
denen es Kabarettgruppen gab. "Alle hielten sich den Bauch vor
Lachen, nur ich verstand keinen einzigen der politischen Witze".
Geduldig erklärten ihr die Kommilitonen die politischen und
historischen Hintergründe. Sie gaben ihr Bücher zum Lesen, ohne
dessen Lektüre ein Ausländer weder den polnischen Humor, noch die
Geschichte oder Gegenwart Polens verstehen könne. "Sie brachten mir
das Zwischen-den-Zeilen-Lesen bei", erzählt sie, "Und zeigten mir
Kabaretttexte vor und nach der Zensur. Als ich dann zum ersten Mal
mitlachte, wusste ich, dass ich die Chance hatte, Land und Leute
eines Tages zu verstehen".
Während ihres ersten knapp einjährigen
Aufenthaltes in Polen sammelte sie Material für ihre Magister-Arbeit
über die Untergrunduniversität in Krakau im Zweiten Weltkrieg. 1990
erhielt sie für das Buch "Leben als ob" den renommierten
Fritz-Theodor-Epstein-Preis des Verbandes der Osteuropa-Historiker.
Kurz darauf kam die junge Frau erneut mit einem
Stipendium für ein Jahr nach Krakau und Warschau. Danach fuhr sie
weiter, nach Israel und England. Lesser: "Ich habe ein völlig
anderes Polen vorgefunden, als das aus den früheren Jahren, und
Menschen die sagten: Was haben wir von der Freiheit, wenn wir keine
Arbeit haben?".
Damals, Anfang der 90-er Jahre, kam Gabriele
Lesser wegen Hans Frank, dem "Generalgouverneur" im besetzten Polen,
der nach dem Krieg hingerichtet wurde. Sie wollte ihre Dissertation
über die Karriere eines Nazi-Funktionärs in Polen schreiben.
Rückkehr in die Gegenwart
Zurück in Deutschland, nahm sie die
Lehrveranstaltungen an der Universität Köln zur Geschichte des
Zweiten Weltkrieges in Polen wieder auf. Sie setzte den Studenten
die deutsche und sowjetische Besatzung Polens auseinander, die
Geschichte der Ghettos und KZs, und schrieb die Biographie Hans
Franks.
Sie erinnert sich: "Da ich ein lebendiges Buch schreiben wollte,
eines, das beim Leser Bilder hervorrufen würde, ein >Kino im Kopf<
also, musste ich zunächst die Geschichte wieder zum Leben erwecken.
Ich musste wissen, wie die Leute damals sprachen, wie sie sich
bewegten und kleideten. Was sie lasen, und welche Nachrichten aus
der Welt bei ihnen ankamen. Ich sah mir alle alten Filmchroniken aus
dem Reich und dem Generalgouvernement an, alle Dokumentarfílme, die
ich finden konnte. Stundenlang hörte ich mir Radiosendungen aus
jener Zeit an".
Eines Tages stellte sie entsetzt fest, dass sie
Gegenwart und Vergangenheit nicht mehr richtig auseinanderhalten
konnte. Dass sich die Zeit-Grenzen verwischten und sie mehr über das
Jahr 1942 wusste, als über das gerade laufende.
Sie begann für den Rundfunk zu arbeiten, das
schnellste von allen Medien. "Das war so eine Art Autotherapie",
erinnert sie sich, "Ich beschleunigte ganz bewusst mein Leben,
musste ich doch über das, was heute geschah, auch heute berichten,
nicht erst 50 Jahre später. Ich war gezwungen, mich auf die
Gegenwart zu konzentrieren, so dass der Zweite Weltkrieg dann auch
tatsächlich in den Hintergrund rückte".
Zunächst sollte die Pause drei Monate dauern. Aber
die Albträume hörten nicht auf. "Irgendwann wurde mir klar, dass ich
nicht in Deutschland bleiben kann. Dass ich wegfahren muss". Bücher
und Notizen über Hans Frank wanderten aufs Regal. Einige Monate
später bot ihr die "Tageszeitung" (taz) in Berlin an, für sie als
Korrespondentin nach Warschau zu gehen.
Die dritte Polenreise erwies sich als die längste. Sie dauert bis
heute. Gabriele Lesser verkaufte ihre alten Möbel in Köln und zog
nach Polen um. Ende 1995 kam sie in Warschau an – mit 88 großen
Bücherkisten.
Zunächst hatte sie erst einmal Pech: Nach einem
Zeckenbiss landete sie mit einer schweren Hirnhautentzündung im
Krankenhaus. Ärzte bekamen die Krankheit nicht in den Griff, so dass
die Entzündung auf die Augen- und Hörnerven übergriff, ja sogar auf
den Gleichgewichtssinn. Am Ende saß sie im Rollstuhl, sah und hörte
kaum noch etwas.
Der Genesungsprozess zog sich über Jahre hin. Sie
lebte weiterhin in Warschau, fuhr zwischendurch aber immer wieder
nach Berlin zur Behandlung. Mit der Hilfe von drei Studenten, die
ihr Zeitungen vorlasen und Interviews für sie führten, schrieb sie
ihre Korrespondentenberichte aus Polen. "Es hat damals wohl kaum ein
Leser meiner Berichte bemerkt, dass die Autorin fast nichts sah und
hörte", erinnert sie sich, "Ich bin der >taz< bis heute dafür
dankbar, dass sie mich damals nicht im Stich gelassen haben".
Heute schreibt sie nicht nur für die "taz",
sondern auch für eine Reihe Regionalblätter und ein halbes Dutzend
jüdischer Zeitschriften. Sie berichtet über die große Politik in
Polen, wie auch den kleinen Mann (und Frau) auf der Straße und deren
Probleme im Alltag, über Zwergschulen auf dem Lande, Bergleute in
Oberschlesien, über ökologische Landwirtschaft in Masuren. Einen
besonderen Schwerpunkt in ihrer Berichterstattung nimmt der Wandel
der polnischen Mentalität in den letzten Jahren ein.
Dabei spart sie nicht mit Kritik an uns. Sie geht
heikle Themen an, wie z.B. die innenpolnische Diskussion über den
Mord an den Juden von Jedwabne im Juli 1941, oder den Einsatz
polnischer Soldaten im Irak. Es kommt auch vor, dass polnische
Fachkollegen und sogar Politiker ihren Ansichten widersprechen und
dies mit ihr offen diskutieren.
Gabriele Lesser verfolgt auch die deutsch-polnischen Beziehungen.
Als Erika Steinbach, CDU-Abgeordnete und seit Mai 1998 Präsidentin
des BdV, mit der Idee auftrat, in Berlin ein "Zentrum gegen
Vertreibungen" einzurichten, begann ihr Name häufiger in den
Berichten der Warschauer Korrespondenten aufzutauen. Auch in denen
von Gabriele Lesser.
Die Flugzeuge der Erika Steinbach
Die erste Idee Erika Steinbachs im September 1998
war der so genannte "Berliner Appell". Darin stellte die neue
BdV-Präsidentin Bedingungen für Polen und Tschechien auf, die diese
zu erfüllen hätten, wenn sie der Europäischen Union beitreten
wollten. Es tauchten Worte auf wie "Entschädigung" für die
Vertriebenen und "Rückkehr" der Vertriebenen und ihrer Nachkommen in
die einstige Heimat.
Ein Jahr später, nach dem Kosovo-Krieg und den
zahlreichen Bildern der von Milosevic vertriebenen Albaner, begannen
sich die Deutschen zunehmend an die eigene Vertreibung nach 1945 zu
erinnern.
In dieser Zeit forderte Erika Steinbach in der "Süddeutschen
Zeitung" die Regierungen Deutschlands und anderer EU-Staaten auf,
die Aufnahme Polens und Tschechien in die EU davon abhängig zu
machen, dass diese zunächst zur Heilung der Wunden, die durch das
Verbrechen der Vertreibung geschlagen worden seien, einen Beitrag
leisteten.
In diesem Text Steinbachs findet sich auch die
vielfach von der deutschen und polnischen Presse zitierte Passage,
dass es im Interesse aller Europäer liege, die hohe Wertschätzung
der Menschenrechte nicht durch Länder wie Polen und Tschechien
entwerten zu lassen. "Es bedarf keiner Kampfflugzeuge", schrieb sie
wörtlich. Ein schlichtes "Veto" in Brüssel zur Aufnahme dieser
Kandidaten sei ausreichend.
Ein Teil der deutschen Öffentlichkeit machte sich
die Argumentation Erika Steinbachs zu Eigen und sah im Schicksal der
deutschen Vertriebenen eine Parallele zu dem der Albaner und
Bosniaken. "In Wirklichkeit ist es doch ganz anders", überzeugt
Gabriele Lesser, "Denn die treffendere Analogie ist die zwischen
Serben und Deutschen. Denn Deutsche wie Serben sind Opfer einer
Politik der Aggression, die ihre Regierungen vom Zaun gebrochen
hatten".
Die deutsche Öffentlichkeit ist für die Argumente Steinbachs wohl
auch deshalb empfänglicher geworden, weil Steinbach andere Töne
anschlägt als ihre Vorgänger im BdV. Sie beruft sich oft auf die
Menschenrechte und ist im Gegensatz zum Sprachduktus älterer
BdV-Aktivisten tunlichst bemüht, die politische Korrektheit zu
wahren.
Aufgrund dieser Forderungen und einer
Vertriebenenbiographie, die eher der Dichtung denn der Wahrheit
verpflichtet ist, erlangte Steinbach schnell eine starke politische
Position. Dabei hatte die "Rzeczpospolita" schon im Jahre 2000 die
Wahrheit über die "Vertreibung" von Erika Steinbach aufgedeckt: Sie
kam als Tochter eines deutschen Besatzungssoldaten zur Welt, noch
dazu in einem Gebiet, auf dem zuvor die Deutschen die Polen
vertrieben hatten. Heute gilt Erika Steinbach als eine der
einflussreicheren Personen innerhalb der CDU.
Steinbach versus Lesser
Nachdem im Frühjahr 2003 die Abstimmungen über den
Beitritt zur EU in Polen und Tschechien ein positives Ergebnis
gebracht hatten, griff Erika Steinbach erneut die Idee auf, ein
"Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten. Diese Vision eines
Mahnmals, das in erster Linie den Deutschen gewidmet sein sollte,
die infolge des verlorenen Krieges aus dem Osten vertrieben wurden,
stieß in Polen auf eindeutige Ablehnung. Die in dieser Frage
schwankende Haltung der deutschen Regierung trug zur weiteren
Verschlechterung der – ohnehin nicht mehr guten – deutsch-polnischen
Beziehungen bei. Auf Steinbach war man in Polen nicht gut zu
sprechen.
Im August 2003 schickte Gabriele Lesser einen
Kommentar zu den polnischen Reaktionen auf das geplante "Zentrum" an
ihre Redaktionen in Deutschland. Darunter waren auch die "Kieler
Nachrichten", die den Artikel – allerdings in abgewandelter Form –
unter dem Titel "Von Versöhnung noch weit entfernt"
veröffentlichten.
Lessers Ton war scharf und ironisch, wie in
Kommentaren üblich. Die These war klar: Der fatale und überflüssige
Streit um das geplante "Zentrum" hatte den deutsch-polnischen
Beziehungen geschadet und dazu geführt, dass unter den Polen längst
tot geglaubte antideutsche Phobien wieder auflebten. Ein Beispiel
dafür war das Titelblatt-Collage des Nachrichtenmagazins "Wprost",
auf dem Steinbach in SS-Uniform und auf Kanzler Schröder reitend
dargestellt wurde. Lesser zitierte auch den ehemaligen polnischen
Außenministers Bronislaw Geremek, der sagte: "Das Zentrum gegen
Vertreibungen wird ein Denkmal des Hasses für die junge Generation
sein". Abschließend fragt Lesser in ihrem Kommentar: "Es kann nicht
sein, dass die Vertriebenen, so verständlich ihr individuelles Leid
ist, die deutsch-polnische Versöhnung der letzten zehn Jahre in
einen neuen Hass-Dialog verwandeln. Denn – wo soll das alles
enden?".
Es war dies nicht der erste kritische Text aus der
Feder von Gabriele Lesser über den BdV und dessen Präsidentin. Doch
auch die meisten der übrigen deutschen Korrespondenten in Polen
sowie zahlreiche Publizisten in Deutschland schrieben kritische
Kommentare zu Erika Steinbach. Dennoch wurde die Klage Steinbachs
nur an eine Warschauer Adresse versandt: an die Gabriele Lessers.
Zunächst hatte der Anwalt Steinbachs die
Journalistin aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben, in der
sich Lesser verpflichten würde, einige ihrer kritischen Äußerungen
über das geplante "Zentrum" und über Erika Steinbach in Zukunft zu
unterlassen, weil diese der Wahrheit nicht entsprechen würden – nach
Ansicht des Anwalts, der auf den medialen Bereich spezialisiert und
für seine hohen Honorare bekannt ist.
Lesser weigerte sich, eine solche Erklärung zu unterschreiben. Mit
der nächsten Post bekam sie schon die Klage und eine Vorladung zum
Gerichtstermin. Den "Streitwert" hatten Steinbach und ihr Anwalt auf
60.000,- Euro festgelegt. "Die Summe ist absurd hoch", lacht Lesser
ironisch, "Jeder Satz 20.000 Euro? Vielleicht fordere ich demnächst
Honorare in vergleichbarer Höhe und berufe mich dabei auf Erika
Steinbach, die meine Texte so hoch schätzt...".
Selbstverständlich, so führt der Anwalt von
Steinbach in seiner Klage an, gehe es nicht darum, der Beklagen zu
verbieten, sich kritisch zum BdV, seiner Präsidentin und dem
"Zentrum gegen Vertreibungen" zu äußern.
"Selbstverständlich", sagt indes Gabriele Lesser,
"selbstverständlich geht es genau darum! Man will mir den Mund
verbieten".
Zu Gericht über die Geschichte
Die erhobenen Vorwürfe erwecken in der Tat den
Eindruck, an den Haaren herbeigezogen zu sein. So bezeichnete Lesser
das "Zentrum" als "Mahnmal", was in der deutschen Sprache mehr ist
als ein Denkmal. Ein Mahnmal ist beispielsweise Yad Vashem, die
Gedenkstätte an die Shoah in Israel. Auch das Holocaust-Museum in
Washington hat Mahnmalscharakter.
Erika Steinbach meint nun, dass das Wort "Mahnmal" falsch sei, da
das geplante "Zentrum" allein der Information dienen solle. "Aber
dort sollen die Leute doch in der so genannten >Requiem-Rotunde<
beten können", wendet Lesser ein, "Ich habe noch nie ein
Informationszentrum gesehen, in dem die Menschen beten".
Die Vorwürfe Erika Steinbachs lassen sich auf zwei
Fragen reduzieren, die von historischer und politischer
Schlüsselbedeutung sind.
Zum einen stellte Lesser fest, dass es eine Verbindung zwischen dem
zu errichtenden "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin und dem in
Bau befindlichen Holocaust-Mahnmal – ebenfalls in Berlin – gebe.
Genauer, dass das "Zentrum", ob dies nun jemandem gefalle oder
nicht, als Pendant zum Holocaust-Mahnmal und als dessen Gegengewicht
wahrgenommen werde. Die deutschen Kriegsopfer würden den Opfern der
deutschen Verbrechen gegenüber gestellt.
Der Steinbach vertretende Anwalt erklärt nun, dass
der BdV niemals die Absicht gehabt habe, das "Zentrum" in diesem
Zusammenhang zu sehen. Dabei gibt es aber frühere Äußerungen der
Präsidentin des BdV, in denen sie den Wunsch äußert, das "Zentrum"
solle doch in deutlich erkennbarer "geschichtlicher und räumlicher
Nähe" zum Holocaust-Mahnmal lokalisiert werden.
Sie begründete diese Forderung damit, dass in der
ersten Phase der Verfolgung die Juden auch Vertreibungsopfer gewesen
seien. Wörtlich heißt es in der "Leipziger Volkszeitung" vom 29. Mai
2000: "Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden und
Vertriebene miteinander. Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie
dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum sein".
Zum zweiten hatte Lesser in ihrem Kommentar
geschrieben, dass der BdV niemals positiv auf die
Versöhnungsbotschaft der polnischen Bischöfe vom November 1965
geantwortet hatte. In diesem Brief an das deutsche Episkopat hatten
die polnischen Bischöfe mit dem – inzwischen berühmten – Satz "Wir
vergeben und bitten um Vergebung" die Hände zur Versöhnung
ausgestreckt.
Der Anwalt von Erika Steinbach wendet nun ein,
dass der damalige Vorsitzende des BdV den Brief der polnischen
Bischöfe 1965 als "begrüßenswerte Geste" bezeichnet habe, was nun
vom Gericht als "positive Antwort" gewertet werden solle. Nach dem
Willen des BdV soll nun also das Gericht entscheiden, ob der BdV
damals einen positiven Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung
geleistet hat.
Was aber heißt hier "positiv"?
Tatsächlich haben einige BdV-Mitglieder – nicht
nur der vom Anwalt angeführte Wenzel Jaksch – auf die
Versöhnungsbotschaft der polnischen Bischöfe mit Freude reagiert.
Allerdings nicht aus jenen Gründen, die die Bischöfe beim Schreiben
des Briefes im Sinn hatten. Die BdV-Funktionäre bewerteten diesen
Brief als "positiv", weil sie darin eine Chance sahen, die Grenze zu
Polen erneut in Frage stellen zu können. Doch darum war es den
Bischöfen mit ihrer Bitte um Vergebung für die Vertreibung der
Deutschen natürlich nicht gegangen.
Ähnlich "positiv" bewertete auch die neonazistisch
geprägte "Deutsche National- und Soldatenzeitung" den Briefwechsel
zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen: Den polnischen
Bischofsbrief könne man zum Anlass nehmen, um die Oder-Neiße-Grenze
erneut in Frage zu stellen.
Es ist bezeichnend, dass die kommunistische Propaganda diese
"positiven" Reaktionen des BdV und der Neonazis geschickt nutzte, um
die katholische Kirche in Polen mit aller Macht anzugreifen und sie
des Landesverrats zu bezichtigen. Presseberichte, die dies belegen,
und die auch Reaktionen in Deutschland dokumentieren, füllen einige
pralle Mappen, die der Chefredakteur des "Tygodnik Powszechny",
Jerzy Turowicz, 1965 angelegt hatte. (Diese Mappen befinden sich
heute im Krakauer "Turowicz-Archiv", das den Nachlass des 1999
verstorbenen Gründers des "Tygodnik Powszechny" aufbewahrt).
Wenn also das Gericht der Klage Erika Steinbachs
stattgibt, und sie nicht als gegenstandslos zurückweist – wie Renate
Damm, die Anwältin Gabriele Lessers beantragt hat – dann wird es vor
einer schwierigen Aufgabe stehen: Es muss entscheiden, was in den
vergangenen Jahrzehnten als "positiver" Beitrag zur
deutsch-polnischen Versöhnung gewertet werden kann und was nicht.
Zentrum gegen Vertreibungen – trotz alledem?
Vielleicht hat es Erika Steinbach gerade darauf
angelegt? Vielleicht will sie einen Präzedenzfall heraufbeschwören,
bei dem ihr das Gericht helfen soll, ihre politischen Ziele zu
verwirklichen und die Geschichte so umzuschreiben, dass der BdV sich
plötzlich als Förderer der deutsch-polnischen Versöhnung
präsentieren könnte?
Sollte es Erika Steinbach in diesem Prozess
gelingen, Gabriele Lesser den Mund verbieten zu lassen, wäre dies
ein Signal für alle anderen potentiellen Kritiker des BdV.
So wie Lesser denken in Deutschland viele Journalisten. Doch im
Unterschied zu ihr – die als so genannte freie Journalistin arbeitet
– stehen hinter ihnen meistens große Verlage, die im Falle eines
Prozesses die Kosten schultern können und selbst, wenn sie verlieren
sollten, nicht gleich ruiniert sind. Doch selbst ein gewonnener
Prozess verursacht Kosten.
"Im Grunde genommen ist dieser Prozess völlig
absurd", sagt Gabriele Lesser. "Vielleicht bringt er Erika Steinbach
eine gewisse Genugtuung? Ich weiß es nicht. Ich verstehe auch nicht,
wieso sie sich nichts von Marek Edelmann sagen lässt, von Bronislaw
Geremek oder Jerzy Holzer, wieso sie die vielen bekannten
polnischen, tschechischen und deutschen Intellektuellen einfach
ignoriert".
Erika Steinbach kündigte bereits an, dass sie das
"Zentrum gegen Vertreibungen" auf jeden Fall bauen werde, auch wenn
es Jahre dauern sollte – und trotz der Proteste aus Polen und
Tschechien.
"Erika Steinbach will mit aller Macht beweisen", so Gabriele Lesser,
"wie meisterhaft die Deutschen sich versöhnen können. Nur – eben
nicht mit den früheren Opfern, sondern gegen sie".
hagalil.com
16-02-04 |