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Jüdische Geschichtsschreibung:
Scholems "Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum"

Andrea Übelhack

Gershom Scholem untersucht in diesem Essay von 1944, das ursprünglich eine Rede war, die in dieser Form nie gehalten wurde, den momentanen Zustand der Wissenschaft vom Judentum. War noch die Gründung des Institutes am Har haZofim ein Symbol für die Erneuerung dieser Wissenschaft, häuften sich 20 Jahre danach bereits Kritik und Enttäuschungen. Was wurde also aus der Erneuerung, die verkündet wurde, aus der Vision, "die aus der Verbundenheit mit dem festen Boden der Nation erstand" (S. 10)?

Zur Klärung dieser Frage und als Antwort, sowohl auf Vorwürfen von außerhalb, wie auch auf die Differenzen unter den Vertretern der Wissenschaft selbst, erläutert Scholem ausgiebig Voraussetzungen und Ausgangslage.

Im historischen Rückblick teilt Scholem die Entwicklung der Wissenschaft vom Judentum in drei Phasen ein: die Gründungsphase, zu der Zunz und Steinschneider zählen, die Zeit des Verfalls der Erfolge des ersten Abschnittes und schließlich die glorreiche Erneuerung während des Zionismus. Die gesamte Entwicklung kann man, so Scholem, nur verstehen, wenn man sich der "tiefen Widersprüche" (S. 13) bewußt wird, die der Wissenschaft vom Judentum ihre besondere Spannung gaben.

Diese Widersprüche seien bereits von ihrer Geburt an ein unverkennbares Merkmal gewesen. Zunächst wollte die Wissenschaft vom Judentum eine objektive, reine Wissenschaft sein, nur zum Selbstzwecke existierend. Doch gleichzeitig verfolgte sie zu jeder Zeit einen politischen Zweck, eine politische Aufgabe, daher konnte es diese Objektivität nicht geben. Einen weiteren Widerspruch sieht Scholem in Herkunft und Programm ihrer ersten Vertreter. Sie alle kamen aus dem Rationalismus, sie waren rationalistische Aufklärer. Doch ihr Programm, dem sie sich verschrieben war eindeutig ein romantisches Programm, "wenn auch in einer etwas gemäßigten und verwässerten Form" (S. 16). Die späte deutsche Romantik war der Hintergrund, vor dem die Wissenschaft vom Judentum überhaupt erst entstehen konnte. Der entscheidende und wichtigste Widerspruch war die enge Bindung von Konstruktions- und Dekonstruktionstendenzen.

Die Vertreter der Gründungsphase konnten sich ein modernes und eigenständiges Judentum nicht vorstellen. Zunz zerbrach an der Dialektik Konstruktion vs. Dekonstruktion, Steinschneider wollte dagegen die untergehende Kultur ehrenvoll begraben (S. 29). Die Tendenzen zur Liquidation wurden innerhalb der jüdischen Aufklärung oft verschleiert, genauso auch jener Anteil der Wissenschaft vom Judentum. Die Juden wollten sich von sich selbst befreien, und die Wissenschaft vom Judentum sollte als geeignete Beerdigungszeremonie dienen (S. 23). Scholem würdigt im Besonderen Zunz und Steinschneider, sie seien die einzigen ihrer Generation gewesen, die sich nicht von Sentimentalität leiten ließen, sondern stets ihre Nüchternheit behielten.

Die zweite Phase in der Entwicklung der Wissenschaft vom Judentum bezeichnet Scholem als "Orgie der Mittelmäßigkeit" (S. 31). Sentimentalität, Spiritualisierung und Idylle gewannen die Oberhand, die Widersprüche versuchte man durch Vergessen und Vertuschen abzuschütteln. Scholem kritisiert hier besonders die Breslauer Schule und Graetz. Die Wissenschaft vom Judentum hatte lediglich einen gewissen Einfluß, weil sie sich auf den Mittelweg zurückgezogen hatte und sich im "bürgerlichem Gewande" (S. 33) zeigte. Übertriebene Theologisierung und Spiritualisierung, Idylle, d.h. Verfälschung der Vergangenheit, Sentimentalität und die Darstellung der Geschichte als Martyriologie ließen auch die Spannungen mittelmäßig werden. Negative und unangenehme Themen, die am idyllischen Geschichtsbild kratzen könnten, wie zum Beispiel jüdische Kriminalität, wurden aus dem Blickfeld verdrängt. Doch auch religiöse Themen, wie Halacha und Kabbala, wurden nicht "unter dem Aspekt der Problemgeschichte" (S. 40) untersucht.

Erst in der dritten Phase erfuhr die Wissenschaft vom Judentum einen Perspektivenwechsel durch die nationale Bewegung. Die neue Konstruktion, die auch die Voraussetzung für Scholems eigenes Schaffen stellte, arbeitete unter der Devise "die Dinge von innen sehen" (S. 41). Ihre Aufgabe war die Erfassung des ganzen Judentums, auch der negativ empfundenen Seiten. Zu diesem Zwecke mußte ein neues Gebäude der Wissenschaft vom Judentum erbaut werden, um dem "Aufbau der Gegenwart mittels der Beschwörung der Vergangenheit" (S. 10) zu dienen. Faktoren, die bisher positiv gewertet wurden, galt es, neu zu untersuchen und nicht beachtete Aspekte, neu zu erforschen. Scholem spricht von der Generation der Wiedergeburt (S. 43) mit dem Ziel eines neuen Gehäuses der Wissenschaft vom Judentum und der Erstellung eines neuen Geschichtsbildes. "Liquidation der Liquidation" (S. 44) ist Scholems Schlagwort, Erneuerung der Nation aus der Geschichte heraus.

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage kritisiert Scholem die jetzige Situation. Man hatte eine großartige Vision, man wollte die Rückkehr zur Wissenschaft mit ganzer Strenge und ohne Kompromißbereitschaft, es sollte kein Platz sein für Milde, um mangelndes Können zu vertuschen, ein Kampf mit dem "Satan des verantwortungslosen Dilettantismus" (S. 48). Aber wurden diese Ziele auch erreicht? Scholem gibt weder ein Ja noch ein Nein als Antwort. Man habe sich zwar von der Starrheit gelöst, aber keine großen Siege errungen, die Vision stockte auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung (S. 49). Der Neuansatz war nicht weitgehend genug, alles was verdammt wurde, Idylle, Sentimentalität etc., sei noch da, nur im nationalen Gewand versteckt.

Scholem lehnt jedoch die Bewegung der Wissenschaft vom Judentum nicht ab, sondern sieht sich selbst als ein Teil davon. Denn für ihn ist dies die letzte und vollendende Phase, die Möglichkeit das Judentum in seiner Gesamtheit zu erfassen. Doch die Wissenschaft vom Judentum braucht eine Reform. Scholem fragt sich jedoch abschließend, ob dies mit den alten Kräften überhaupt möglich ist, nachdem die Mehrheit der jungen Nachwuchswissenschaftler im Holocaust vernichtet wurde.

In Scholems breitangelegter Übersicht über die Entwicklung jüdischen Historiographie bleibt seine Auseinandersetzung mit dem Hebräischen ambivalent. Einerseits betont er deutlich, daß das Hebräische nicht unbedingt erforderlich sei für die Erneuerung der Wissenschaft vom Judentum. Es sei weder das Allheilmittel, noch sei der Sündenfall in die Mittelmäßigkeit mit der Abkehr von der Sprache zu begründen, wie es etwa Bialik tat (S. 34). Und doch gibt es seinen Ausspruch: "Das ist das Beste, was ich bis jetzt geschrieben habe. Es ist auch das beste Hebräisch, das es gibt." (FAZ, Friedrich Niewöhner, Der wahre Glaube ist verborgen) Ganz offensichtlich legte Scholem großen Wert auf die sprachliche Form des Essays, das mit zahllosen Wendungen aus der heiligen Schrift und dem Talmud gespickt ist. So unwichtig, wie er behauptet, scheint ihm die Sprache also doch nicht gewesen zusein, gerade im Hinblick auf eine Verbindung zur jüdischen Vergangenheit.

Scholem schließt sich, wie bereits gesagt, aus der Kritik an der Situation der Wissenschaft vom Judentum nicht aus: "Wir traten als Rebellen an, als Nachfolger finden wir uns wieder." (S. 49) Das Ziel, die Vision konnte also nicht verwirklicht werden, Scholem stellt sich in eine Reihe mit den Mittelmäßigen. Trotz seiner genauen Analyse, trotz der detaillierten Entlarvung der Mittelmäßigkeit und trotz einer entschlossenen Formulierung der Vision seiner Generation, steht er scheinbar hilflos vor der beschriebenen Situation. Es fehlt jeglicher Vorschlag, die jetzige Misere zu beheben, statt dessen klingt eher mutlos hinterher, daß auf "frische Kräfte" (S. 52) nicht zu hoffen ist. 

Gershom Scholem
Judaica 6.
Wissenschaft vom Judentum

Suhrkamp Verlag 1997
ISBN: 3518222694
Euro 11,80

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Stichwort:

haGalil onLine 21-03-2001

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