Gestern verstarb der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, eine wichtige jüdische Intellektuelle Stimme in Deutschland ist damit verstummt.
„Ich bin der Sohn von den Nazis verfolgter Juden, die die NS-Zeit im von Deutschen besetzten Europa erlebten – Gott sei Dank nicht in Konzentrations- und Vernichtungslagern, sondern ab 1938 bzw. 1942 in der Schweiz. Als fünfjähriges Kind empfand ich die Rückkehr nach Westdeutschland 1952 als traumatisch und – aber das ist eine andere Geschichte – den Wunsch, nach dem Abitur nach Israel auszuwandern, als geradezu lebensrettend“, schrieb er 2020 in einem Band über Antisemitismus.
In einem Beitrag zu „Universalismus, Selbsthass oder jüdischer Antisemitismus“ formulierte er 2007 Gedanken zur innerjüdischen Debatte, die aus heutiger Sicht erschreckend aktuell sind.
„Sind also radikale, jede ethnische Solidarität aufkündigende jüdische Kritiker des jüdischen Staates Antisemiten? In der Regel gewiss nicht, insoweit ist Julius beizupflichten, (…) bisweilen aber verführt sie ihre Empörung über die israelische Politik dazu, Antisemitismus herunterzuspielen bzw. mit einem Discount des Wohlwollens zu versehen. (…)
Die Gereiztheit der „innerjüdischen“ Debatte dürfte sich aber vor allem daraus erklären, dass der Staat Israel durch die Entwicklung des iranischen Atomprogramms, begleitet von den Eliminationsdrohungen nicht nur Präsident Ahmadinedschads, derzeit der einzige Staat auf der Welt ist, der von einem atomaren Holocaust bedroht ist. Der Hinweis darauf, dass Ahmadinedschads Drohungen nicht ernst gemeint seien, dass es bis zur möglichen Fertigstellung von iranischen Atombomben noch fünf Jahre dauern könnte und dass ein atomarer Angriff Irans auf Israel allen Kriterien politischer Vernunft widerspreche, verfängt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft im Ganzen kaum. Auch Adolf Hitler raunte schon 1933 vom Untergang der Juden; zudem lassen sich der visionäre Ahmadinedschad und seine Anhängerschaft auf keinen Fall mit den nüchtern kalkulierenden Machtpolitikern Breschnew, Tschernomyrdin und schließlich Gorbatschow vergleichen; und schließlich hat der Holocaust schon alleine deshalb, weil er tatsächlich stattgefunden hat, bewiesen, dass derlei im Grundsatz immer wieder möglich ist.
Man kann es auch nüchterner, in der Sprache der Sozialpsychologie und der Genozidforschung ausdrücken: Das jüdische Volk, der religiös-ethnische Konnex der Juden, hat vor etwas mehr als 60 Jahren einen Genozid erleiden müssen, wie ihn die Weltgeschichte zuvor nicht gekannt hat. Am 6. Januar d.J. hat der in Beer Sheva lebende Historiker Benny Morris, der als Erster der Vertreibung der Palästinenser durch die israelische Armee und Milizen im Krieg von 1948 eine seriöse und sorgfältige Studie gewidmet hat, in der „Welt“ einen Aufsehen erregenden Artikel unter dem Titel „Der zweite Holocaust“ veröffentlicht. „Aber die Iraner“, so Morris‘ erschreckende Vision, „werden von einer höheren Logik getrieben. Und sie werden ihre Raketen zünden. Und wie im ersten Holocaust wird die internationale Gemeinschaft nichts tun. Für Israel wird alles in ein paar Minuten vorbei sein. Wenn die Schihabs gefallen sind, wird die Welt Rettungsschiffe und medizinische Hilfe für die nur leicht Verbrannten schicken. Sie wird den Iran nicht nuklear auslöschen. Zu welchem Zweck denn und um welchen Preis? Eine nukleare Antwort der Amerikaner würde den Krieg der Kulturen noch schlimmer und umfassender machen. Und sie würde natürlich Israel nicht zurückbringen.“
Die politischen Ziele von Hamas, Hisbollah und gegenwärtiger iranischer Staatsführung sind derzeit auf eine Elimination nicht nur des jüdischen Staates, sondern auch der jüdischen Bevölkerung Israels ausgerichtet. Das mindestens wahrzunehmen fordert jede nüchterne politische Betrachtung, die mehr will, als lediglich wohlfeil und frei von allen Folgen universalistische Moral einzufordern. Indes: Einen zweiten Genozid – und sei er „nur“ auf Israels Bevölkerung beschränkt, deren Territorium nicht größer als Hessen ist – wird es 75 Jahre nach Befreiung der Konzentrationslager mit Sicherheit nicht geben, weil weder der jüdische Staat noch seine Parteigänger (jüdische und nichtjüdische) weltweit bereit sein werden, einer solchen Entwicklung tatenlos zuzusehen. Auch die düstere Vision von Benny Morris ist als Warnruf zu verstehen, und zwar so, dass es – wenn diplomatische Mittel in den nächsten Jahren nichts ausrichten – schließlich zur militärischen Zerstörung der iranischen Atomanlagen kommen wird. Über die mit dieser Bereitschaft verbundenen Risiken sollte sich niemand täuschen. Wer, wie gewiss nicht wenige wohlmeinende, universalistisch orientierte, dem Judentum und seiner Lebensform jedoch elitär entfremdete Jüdinnen und Juden dieses Grundgefühl genozidaler Bedrohtheit nicht versteht und die Wirklichkeit eliminatorischen Strebens nicht mindestens ernsthaft und nicht nur rhetorisch zur Kenntnis nimmt, wird auch weiterhin mit heftiger Feindschaft seitens der Mehrheit von Juden in Israel und der Diaspora rechnen müssen.“
Micha Brumliks Stimme wird fehlen. Jehi sichro baruch.



