Radikale Siedler greifen im Westjordanland seit Monaten immer wieder palästinensische Ortschaften und ihre Bewohner an. Dabei schrecken sie selbst vor Morden nicht zurück. Mittlerweile geraten sogar israelische Soldaten in ihr Visier.
Von Ralf Balke
Kaum ein Tag vergeht ohne Gewalt im Westjordanland, und das schon seit Monaten. Weil weiterhin der Krieg im Gazastreifen die Medien beherrscht oder wie dieser Tage der Konflikt mit dem Iran alle Aufmerksamkeit auf sich zog, gehen viele Meldungen über Angriffe marodierender israelischer Siedler, die palästinensische Ortschaften angreifen und dort die Menschen terrorisieren, schlichtweg unter. Doch was sich diese Woche in Kafr Malik ereignete, schockte dann doch viele Israelis. So hatten rund hundert israelische Siedler das Dorf nahe Ramallah angegriffen, dort Häuser und Fahrzeuge in Brand gesetzt. Daraufhin kamen israelische Soldaten und Polizeikräfte in den Ort, um beide Seiten voneinander zu trennen. Bei dem Versuch, der Gewalt irgendwie ein Ende zu setzen, wurde ein israelischer Offizier von einem Stein getroffen und verletzt. Nach Angaben der Armee eröffneten ebenfalls bewaffnete Palästinenser das Feuer auf die Soldaten, was zu einem Schusswechsel führte, woraufhin – so die Palästinensischen Autonomiebehörde – drei Palästinenser getötet und sieben weitere verletzt wurden. Festgenommen und der Polizei übergeben wurden aber auch fünf Israelis, die an dem Überfall auf das Dorf beteiligt waren.
Es war übrigens nicht der einzige Übergriff an diesem Tag. So hatten Siedler zudem ein Fahrzeug in Tayyibe, ebenfalls nahe Ramallah gelegen, in Brand gesetzt sowie Bewohner der Ortschaft Asira al-Qibliya mit Steinen beworfen und verletzt. Doch in der Nacht von Freitag auf Samstag eskalierte die Situation weiter. Erneut randalierten israelische Siedler in Kafr Malik, griffen diesmal aber auch israelische Soldaten an, darunter einen hochrangigen Offizier, als diese vor Ort erschienen, um sie daran zu hindern. Sechs Israelis wurden bei diesen Übergriffen auf Angehörige der Streitkräfte festgenommen, darunter zwei Minderjährige. Am Samstag dann wurde eine Polizeistation in der Siedlung Beit El verwüstet – offensichtlich eine Reaktion radikaler Siedler, worauf auch das Wort „Rache“ hindeutet, das dort auf das Gebäude gesprayt wurde. Die Ermittlungen wurden aufgenommen. „Dies ist ein schwerwiegender und gewalttätiger Vorfall, der ein klares Überschreiten einer roten Linie darstellt und sich gegen Rechtsstaatlichkeit und staatliche Souveränität richtet“, hieß es dazu in einer Erklärung der Polizei.
Der Kommandeur der am Freitagabend in Kafr Malik angegriffenen Einheit, der bei dem Einsatz verletzt wurde, namentlich aber nicht in den Medien genannt wird, kommentierte die grassierende Gewalt der Siedler folgendermaßen: „Sie haben uns in eine Situation gebracht, dass wir mittlerweile 90 Prozent unserer Zeit damit verbringen, die Hügeljugend daran zu hindern, ganze Gebiete in Brand zu setzen“, wobei er mit dem Begriff „Hügeljugend“, hebräisch „Noar HaGvaot“, auf die Tatsache verweist, dass es sich bei den marodierenden Siedlern um eine ganz spezifische Gruppe handelt, und zwar militante Jugendliche aus den illegalen Vorposten von bereits existierenden Siedlungen, die zumeist auf Hügelkuppen errichtet werden. „Sie haben uns gedroht, dass wir das Gebiet nicht lebend verlassen würden. Wir haben gesehen, wie sie einen der Soldaten gewürgt haben, ich selbst wurde geschlagen, eines der Fahrzeuge wurde mit Steinen beworfen, ferner haben sie die Reifen eines Fahrzeugs zerstochen.“
Militärangehörige berichteten gegenüber der Presse, die Siedler hätten etwa fünf Stunden bei Kafr Malik lang randaliert. All das habe sich in der Nähe eines neu errichteten Außenpostens in der Region Tall Asur, Ba’al Hatzor, nördlich von Ramallah ereignet. Die Armee geht deshalb davon aus, dass die Randalierer, die an dem Angriff auf Kafr Malik am Mittwoch beteiligt waren, ebenfalls aus dem Außenposten stammen, der nach den ersten Übergriffen von Sicherheitskräften geräumt wurde. Am Freitagabend bemerkten Soldaten, dass einige Siedler versuchten, in diesen Außenposten zurückzukehren. Etwa drei Soldaten, darunter der Bataillonskommandeur, trafen am Tatort ein. Bald schon waren es rund 70 Personen, die daraufhin die Armeeangehörigen attackierten, wobei einige auch versucht hätten, sie mit ihren Fahrzeugen zu überfahren. Vertreter der Siedler dagegen behaupteten, die Soldaten hätten auf sie geschossen, wobei ein Vierzehnjähriger verletzt worden sei. Dabei handelte es sich aber um einen anderen Übergriff auf Soldaten, der zeitgleich stattgefunden hatte. In den Auseinandersetzungen nahe Kafr Malik sei nicht auf israelische Zivilisten geschossen worden, so das Ergebnis einer ersten Untersuchung der Armee zu dem Vorfall.
Quelle: IDF
Entsprechend fielen die Reaktionen aus. Selbst Ministerpräsident Benjamin Netanyahu verurteilte am Samstag die Siedler, die am Freitag Reservisten der israelischen Armee im Westjordanland angegriffen haben. „Israel ist ein Rechtsstaat. Niemand darf das Gesetz in seine eigenen Hände nehmen“, erklärte er. „Die Ereignisse müssen gründlich untersucht werden, und alle, die das Gesetz gebrochen und gegen unsere Soldaten aktiv wurden, müssen vor Gericht gestellt werden.“ Zuvor hatte die Armee ein Statement veröffentlicht, in dem es hieß, Siedler seien „in eine geschlossene Militärzone eingedrungen (…) und haben die Sicherheitskräfte gewaltsam angegriffen“. Ferner bezeichnete man darin den Angriff als „Gewaltaktion einer radikalen Minderheit“. Ähnliches war von Verteidigungsminister Israel Katz und Generalstabschef Eyal Zamir zu hören.
Aber einer beließ es nicht mit einer Verurteilung der Übergriffe auf Armeeangehörige, sondern übte zugleich Kritik am Verhalten der Soldaten, weil sie bei ihrer Verteidigung scharfe Waffen eingesetzt hätten, und das war Finanzminister Bezalel Smotrich, der ebenfalls Minister im Verteidigungsministerium ist, eine absurde Doppelkonstruktion, die Kompetenzwirrwarr und Fehlentscheidungen mit sich brachte. In einem Beitrag auf der Social-Media-Plattform X schrieb er, dass „jeder, der Soldaten unserer Streitkräfte verletzt, gegen die Siedlungen kämpft, nicht für sie“, um dann Folgendes anzufügen: „Der Beschuss von Juden durch Streitkräfte ist eine verbotene und gefährliche Überschreitung einer roten Linie, die eine eingehende Untersuchung erfordert“, so der Vorsitzende der Partei der Religiösen Zionisten. „Der Vorfall muss unabhängig und gründlich untersucht werden. Es müssen Lehren gezogen werden, und die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“
Der Post von Bezalel Smotrich löste bei Vertretern der Opposition blankes Entsetzen aus. „Jüdische Terroristen schlugen Angehörige der israelischen Streitkräfte, prügelten auf einen Bataillonskommandeur ein, der sie verteidigte, und Smotrich erklärt, dass diejenigen, die >die Grenze überschritten< haben, nicht die extremistischen Kriminellen sind, sondern unsere Soldaten, die sie beschützen sollen“, schreibt Yair Lapid auf X. „Unser Leben ist in den Händen von Kriminellen.“ Und Dvir Kariv, ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, der für die Bekämpfung von jüdischem Terror zuständig war, sagte gegenüber „Ynet“, dass die gewalttätigen Siedler schon seit Monaten von Smotrich und seinem ebenfalls rechtsextremen Kabinettskollegen Itamar Ben Gvir, Minister für nationale Sicherheit, zu ihren Taten ermutigt werden. „Die Hügeljugend glaubt, dass sie die Rückendeckung der Regierung hat, also von Smotrich und Ben Gvir, weshalb sie zu mehr Gewalt übergegangen sind.“
Unabhängig davon ist es Fakt, dass radikale Siedler wenig Konsequenzen zu fürchten haben, wenn sie in palästinensische Ortschaften einfallen und ihre Bewohner terrorisieren. So hat Verteidigungsminister Israel Katz dafür gesorgt, dass Gewaltakte israelischer Siedler gegen Palästinenser nicht als Terrorismus zu bewerten seien. Genau deshalb gibt es auch nicht mehr die Option, eine Ordnungshaft gegen sie zu verhängen – sehr wohl aber weiterhin gegen Palästinenser. Das war Mitte Januar 2025 der Fall. „Angesichts der zu erwartenden Freilassung von Terroristen aus Judäa und Samaria im Rahmen des Geiselabkommens habe ich beschlossen, alle in Ordnungshaft befindlichen Siedler freizulassen“, sagte er in einer Erklärung, wobei er den biblischen Begriff für das Westjordanland verwendete. Damit wolle er „eine klare Botschaft der Stärkung und Ermutigung der Siedlungen vermitteln, die im Kampf gegen den palästinensischen Terrorismus an vorderster Front stehen und mit wachsenden Sicherheitsrisiken konfrontiert sind“. Ferner erklärte er: „Es ist besser für die Familien jüdischer Siedler, glücklich zu sein, als für die Familien freigelassener Terroristen.“ Ob die Armee über die Entscheidung des Verteidigungsministers glücklich war, darf bezweifelt werden. Denn unmittelbar danach setzten die Übergriffe radikaler Siedler gegen Soldaten ein. Sein Vorgänger, Yoav Gallant, hatte immerhin dafür gesorgt, dass 16 Israelis in Gewahrsam genommen wurden. Damit war jetzt Schluss – trotz zahlreicher Warnungen durch den Shin Bet.
Dass Siedler unsanktioniert Mord und Totschlag begehen können, zeigt ebenfalls der Skandal um eine Personalie im Polizeidienst. So hatte Avishai Muallem, Leiter der Ermittlungsbehörden im Westjordanland, entsprechende Verbrechen seitens der Siedler vertuscht oder Untersuchungen ins Leere laufen lassen, um sich so die Gunst von Itamar Ben Gvir zu sichern und befördert zu werden. Dafür wurde er für sechs Monate vom Dienst suspendiert, im Juni durfte er wieder bei der Polizei arbeiten, wenn auch nicht in seinem alten Job, und das, obwohl weiterhin gegen Avishai Muallem ermittelt wird. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wahrscheinlich, dass in Zukunft die Zahl der Übergriffe von radikalen Siedlern gegen Armeeangehörige nicht ab-, sondern eher zunehmen wird – ebenso die Morde und Brandstiftungen in palästinensischen Ortschaften.