Denis Scheck weiß, welch eine Art Tod Juri Felsen in Auschwitz gestorben ist
Von Karl-Josef Müller
Ein „Sensationsfund“ sei der Roman Getäuscht „des russischen Autors Juri Felsen.“ Denis Scheck ist mit seinem Urteil über das Werk des vergessenen Autors nicht alleine. Alles deutet darauf hin, dass der Verlag Kiepenheuer & Witsch mit seiner Ankündigung nicht übertrieben hat:
„Juri Felsen, der einst als ‚russischer Proust‘ galt, war einer der führenden Schriftsteller seiner Generation. Beeinflusst von Marcel Proust, James Joyce und Virginia Woolf ist Juri Felsen ein Autor von Weltrang. Juri Felsen wurde von den Nazis ermordet, sein Werk war lange vergessen, bis es in den letzten Jahren wiederentdeckt und nun zum ersten Mal auf Englisch und Deutsch veröffentlicht wird.“
Und natürlich belegt der Verlag die Bedeutung des Romans mit einem Zitat von Denis Scheck aus der Sendung Druckfrisch. Neue Bücher mit Denis Scheck vom 25. Mai 2025:
„Felsen legt das Seelenleben seines in Paris lebenden Exilanten unter das Vergrößerungsglas einer Sprache, die seine Gefühle und Gedanken noch bis in die letzten Ausfältelungen mit seelenzerfieselnder Präzision zu sezieren vermag.“
Eine andere Passage des Beitrags, die auf die Todesumstände von Felsen zu sprechen kommt, wird vom Verlag nicht zitiert. Man sollte es nicht dabei belassen, diese Passage zu lesen, man sollte sie sich anschauen. Zur Einführung bezeichnet Scheck Juri Felsen noch als „russischen Autor“. Schließlich zitiert Scheck aus Felsens Roman, um anschließend auf das Schicksal des Autors zu sprechen zu kommen:
„‚Das Ende der Verzweiflung wird kommen, in Form von Vergessen, Überdruss, einem Ersatz, meinetwegen auch dem Tod, einem dummen und bedauernswerten, aus Entkräftung. Vorerst treiben mich, ingrimmig und ichbezogen, immer noch dieselben Berechnungen von Ljoljas Gewogenheit um, wie es jetzt, genauestens und endgültig, darum steht.‘ Der russische Jude Juri Felsen selbst fand einen dummen und bedauernswerten Tod 1943 in Auschwitz, zuvor hatte er versucht, vor den Nazis aus Frankreich in die Schweiz zu fliehen.“
Worum geht es in dem Roman? Hierzu nochmals Scheck:
„Juri Felsen erzählt in ‚Getäuscht‘ von einer unerwiderten Liebe des namenlos bleibenden Ich-Erzählers zu der ebenso schönen wie unkonventionellen Emigrantin Ljolja.“
Erzählt wird eine Liebesgeschichte im weitesten Sinne, auf hohem literarischen Niveau, wenn wir Denis Scheck und anderen Rezensenten glauben dürfen. Im Vorwort der Übersetzerin Rosemarie Tietze mit dem Titel EIN RUSSISCHER GENTLEMAN IN PARIS. DER EXILAUTOR JURI FELSEN ist Genaueres zu erfahren über die Erstausgabe im Pariser Exil: „Der schon seit 1910 existierende Verlag von J. Powolozki gab ab Mitte der Zwanziger eine ‚Bibliothek zeitgenössischer Schriftsteller‘ heraus, dort erschienen, und zwar in dem selben Jahr 1930, zwei »erste Romane« von Nachwuchsautoren: Ein Abend bei Claire von Gaito Gasdanow und Getäuscht von Juri Felsen.“
Felsen ist auf dem Weg, ein anerkannter Schriftsteller zu werden. Doch die Zeiten meinen es nicht gut mit dem aufstrebenden Dichter. Wir zitieren erneut aus dem Vorwort:
„Bereits zu Kriegsbeginn war im russischen Milieu ein Rechtsruck zu spüren, der auch die Mereschkowskis erfasste. Und der neubelebte Antisemitismus bewirkte, dass man sich wieder an Felsens jüdische Herkunft erinnerte.“
Und dann schildert Rosemarie Tietze die Ereignisse, die zu dem führten, was Dennis Scheck „einen dummen und bedauernswerten Tod 1943 in Auschwitz“ nennt.
„Während des Versuchs, bei Annecy über die Grenze in die Schweiz zu fliehen, wurde Felsen von einer deutschen Patrouille entdeckt und in das Lager Drancy deportiert. Am 11. 2.1943 brach der Eisenbahnkonvoi Nr.47 mit ihm und Hunderten anderer Juden aus Paris auf. Noch am Tag der Ankunft in Auschwitz, dem 13. Februar 1943, wurde Juri Felsen ermordet.“
Was bedeutete Juri Felsen seine jüdische Herkunft? Einiges deutet darauf hin, dass sie ihm nicht sonderlich wichtig war, wie den Ausführungen von Rosemarie Tietze zu entnehmen ist:
„Nikolai Bernhardowitsch Freudenstein kam 1894 in St.Petersburg zur Welt. Seine jüdische Familie hatte aus Riga nach Petersburg ziehen können, da der Vater als erfolgreicher Arzt die im russischen Reich für Juden geltenden Siedlungsgrenzen überwand. 1916 schloss Nikolai ein Jurastudium an der Petersburger Universität ab, allerdings, wie er zuletzt in seiner Autobiografie schrieb, ‚ohne dazu die mindeste Berufung‘ verspürt zu haben. Als nach der Revolution letzte Beschränkungen für Juden fielen, trat er noch in eine Artillerieschule ein, um sich zum Offizier ausbilden zu lassen. Im Herbst 1918 emigrierte die Familie aber ins – jetzt unabhängige – Lettland.
Offenbar war Schreiben inzwischen zu Nikolais Lebensziel geworden, denn schon im Dezember erschienen Glossen von ihm in Rigaer Zeitungen. Ansonsten ist über seine Jahre in Riga wenig bekannt. Die Emigration in Richtung Westen ging weiter, nach einer Zwischenstation in Berlin lebte Nikolai Freudenstein ab Dezember 1923 in Paris. Hier wurde ‚Juri Felsen‘ geboren, unter diesem Namen veröffentlichte er ab 1926 Erzählungen, Artikel und Rezensionen in Zeitschriften. Und er stürzte sich ins literarische Leben der damaligen Welthauptstadt der Kultur.“
In seinem Essay Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein aus dem Jahr 1966 spricht Jean Amery zu Beginn davon was es ihm bedeutet, wenn „mich im Gespräch ein Partner hineinreißt in einen Plural – sobald er nämlich in einem beliebigen Zusammenhang meine Person einfaßt und zu mir sagt: ‚Wir Juden…‘ – fühle ich ein nicht gerade quälendes, aber doch tiefsitzendes Unbehagen. (…) Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, das ist es, was mir eine undeutliche Pein schafft.“
1935 erfährt Amery „in einem Wiener Café über einer Zeitung“ sitzend, was es mit den Nürnberger Gesetzen auf sich hat: „Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat (…) hatte mich soeben in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht, beziehungsweise sie hatte meinem früher schon vorhandenen, aber damals nicht folgenschweren Wissen, daß ich ein Jude sei, eine neue Dimension gegeben.“ Eine Dimension, die in Auschwitz endete, auch für Jean Amery.
Aus der freien Entscheidung, Jude oder nicht sein zu wollen oder zu können, ist eine fremd bestimmte Zuschreibung geworden, ihr Symbol die eintätowierte Nummern der Häftlinge in den Vernichtungslagern. Nicht allein die Tatsache, dass Denis Scheck die Ermordung von Juri Felsen „einen dummen und bedauernswerten Tod 1943 in Auschwitz“ nennt, zeugt von, ja, wie sollen wir uns ausdrücken, einer kaum zu überbietenden Gedankenlosigkeit. Dennis Scheck verwandelt den avantgardistischen russischen Dichter Juri Felsen, der er wohl sein wollte, in etwas, von dem er sich vielleicht längst verabschiedet hatte: in den russischen Juden Juri Felsen.
P.S. Eine Zuschauerin von Schecks Sendung hat sich die Mühe gemacht, einen Kommentar zu verfassen. Eine.
Juri Felsen, Getäuscht. Aus dem Russischen und mit einem Vorwort von Rosemarie Tietze. Mit einem Nachwort von Dana Vowinckel, Kiepenheuer & Witsch, Bestellen?
Pardon, falls die Verknüpfung fehlerhaft war:
https://docs.google.com/document/d/1_UVaM5LmEz7TO7H2OmerJPfTs2QAFidKQVNrkwU7JA8/edit
Danke für diese erhellenden Hinweise, deren Kontext mir kraft strikter TV-Abstinenz entgangen wäre.
„Dumm & bedauernswert“ – die Wortwahl eines Prahlhanses u.a. bürgerlich-deutschen Kultur-Populisten für die Ermordung des jüdischen Schriftstellers Juri Felsen im NS-Vernichtungsbetrieb der Nation von Hassern & Henkern, von Petzern & Schwätzern, legt offen, was man schlicht + unpolitisch abgrundtiefe Herzensblödheit nennen könnte. Mir schwant allerdings, auch dem Grösstmaul Scheck ist – wie zahllosen anderen Führungspersonen in den gesellschaftlichen Sektionen hierzulande – über die Ohren gewachsen, was ich provisorisch die jahrelange Salon-Quatarisierung nenne.
Stichproben dieser Transformation sind u.a. in dieser Chronik enthalten:
https://docs.google.com/document/d/1_UVaM5LmEz7TO7H2OmerJPfTs2QAFidKQVNrkwU7JA8/edi
Freundlichen Gruss / B.L.