Wenn Menschlichkeit über alles siegt

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Freiwillige mit Bewohnern im Rollstuhl, Foto: ADI Negev-Nahalat Eran

Jetzt, da die Waffen schweigen, lohnt ein Blick zurück: Wie verhält sich eine Gesellschaft unter extremem Druck? Wie reagieren Institutionen, wenn alles auf dem Spiel steht? Das Rehabilitationsdorf ADI Negev-Nahalat Eran im Süden Israels liefert bemerkenswerte Antworten auf diese Fragen.

Von Dina Rahamim, ADI Negev-Nahalat Eran

Der Test: Überleben unter Beschuss

Wenn Kriege ausbrechen, dann denken die meisten Menschen verständlicherweise an sich und den engsten Familien- und Freundeskreis: Sind alle in Ordnung, in Sicherheit, gibt es genug zu essen? Israel hat bereits viele Konflikte überstanden, doch der jüngste Krieg stellte eine der größten Bedrohungen für die Zivilbevölkerung seit Langem dar. Während die IDF strategisch Militärstützpunkte und Uran-Anreicherungsanlagen ins Visier nahm, zielte das iranische Regime bewusst auf Wohn- und Krankenhäuser.

Dass ADI Negev-Nahalat Eran, ein Rehabilitationsdorf bei Ofakim im Süden Israels, während des Krieges unbeschadet blieb, grenzt an ein Wunder. Raketen schlugen weniger als einen Kilometer entfernt von diesem besonderen Ort ein – einem Ort, an dem Menschen mit schwersten Behinderungen leben und Reha-Patienten ihre Therapien durchlaufen.

Foto: ydmphotography

Als ADI Negev-Nahalat Eran 2005 seine Türen öffnete, konnte niemand die Dimensionen vorhersehen, die dieses Projekt annehmen würde. Was einst als kleines Zentrum für Jugendliche und Erwachsene mit schweren Behinderungen begann, ist heute ein ganzes Dorf, das nicht nur Wohnanlagen für knapp 170 Bewohner beherbergt, sondern acht Kindergärten, eine Förderschule, ein Pferdegehege mit Streichelzoo, ein Hydrotherapiepool und das Harvey and Gloria Kaylie Rehabilitation Medical Center – das einzige Rehabilitationskrankenhaus im Süden Israels mit 72 Betten. Täglich kommen Bewohner sowie knapp 140 externe Schüler, rund 50 Kindergartenkinder und hunderte externe Patienten – unabhängig von Religion und sozioökonomischem Hintergrund – für ihre Therapien und die Zeit mit Freunden und Betreuern. Rehapatienten bezeichnen das Kaylie-Krankenhaus als „ein Zuhause“.

Die Reaktion: Kampf um Normalität

Der Kriegsausbruch versetzte das Dorf in einen Ausnahmezustand: Externe Kinder mussten zu Hause bleiben, Therapien für ambulante Patienten fielen aus. Ein Teil der Mitarbeiter konnte nicht kommen, weil die eigenen Kinder aufgrund landesweiter Schul- und Kitaschließungen betreut werden mussten, andere wurden in den Reservedienst eingezogen. Die verbliebenen Kollegen arbeiteten in 12-Stunden-Schichten.

Glücklicherweise leben einige Therapeuten und Freiwillige vor Ort im Residenzteil des Dorfes. Dennoch reichte das Personal nicht aus, weshalb Transportmittel für Kollegen organisiert werden mussten. Das Dorf ging an seine Grenzen – physisch, mental und finanziell. Überstunden, temporäres Zusatzpersonal und Transporte wurden nicht vom Staat bezahlt; man war auf die Großzügigkeit treuer Spender angewiesen.

Die Bewährungsprobe: Solidarität unter Feuer

In einer solchen Lage würde man erwarten, dass sich jede Einrichtung auf sich selbst konzentriert. Nicht in Israel. Nicht bei ADI.

Als während des Krieges eine Rakete im Soroka-Krankenhaus in Beer Sheva einschlug, wurden alle Patienten und Mitarbeiter rechtzeitig evakuiert und in verschiedene Krankenhäuser verlegt. Dass die Rehapatienten ins nur 25 Minuten entfernte ADI Negev-Nahalat Eran kommen würden, lag nahe – eine Selbstverständlichkeit war es dennoch nicht.

Oder doch? In Israel schon. Es gab keinerlei Zögern. „Wenn wir auch nur etwas Raum haben, geben wir“, fasst die Philosophie von ADI zusammen – und die der israelischen Gesellschaft.

Das Ergebnis: Therapie statt Notbehelf

Die 25 neuen Patienten wurden nicht einfach nur als Übergangslösung aufgenommen. Die Mitarbeiter erstellten sofort Therapiepläne und begannen mit der Behandlung – mit beeindruckendem Erfolg.

Shai Pinker, 42 Jahre alt und Vater von drei Kindern aus Dimona, war während des Krieges zweimal dem Tod entkommen: Erst bei einem Motorradunfall, der ihn ins Soroka-Krankenhaus brachte, dann als eine Rakete in sein Patientenzimmer einschlug – nur Sekunden nachdem er es verlassen hatte.

Bei seiner Ankunft im Kaylie-Rehabilitationskrankenhaus konnte Shai kaum stehen. Wenige Tage später machte er seine ersten Schritte. „Dank dem Team von ADI hier“, sagte er bewegt, während er vorsichtig, aber stetig auf dem Anti-Schwerkraft-Laufgerät lief.

Shai auf dem Anti-Schwerkraft-Laufgerät, Foto: ADI Negev-Nahalat Eran

Die Analyse: ADI als Spiegel Israels

Was ADI in diesen Wochen leistete, war außergewöhnlich – und doch für die Menschen in Israel selbstverständlich, denn so und nicht anders musste es sein. Mitarbeitende machten Überstunden, sprangen füreinander ein, fanden kreative Lösungen, um auch unter Dauerbelastung Menschlichkeit und Qualität zu bewahren.

ADI Negev-Nahalat Eran erwies sich als ein Ort, an dem Solidarität nicht propagiert, sondern gelebt wird – Tag für Tag, in jedem Therapieraum, auf jedem Flur, bei jedem Schritt zurück ins Leben. Ein Mikrokosmos dessen, was Israel im Kern ausmacht.

Die Lehre: Jeder Schritt zählt

Der Waffenstillstand bringt Ruhe, aber nicht das Ende der Herausforderungen. Die Aufnahme zusätzlicher Patienten während der Krise, die emotionale und fachliche Begleitung unter Extrembedingungen und das Aufrechterhalten einer sicheren, fördernden Umgebung für die Schwächsten der Gesellschaft – all das brachte das Dorf an seine Grenzen und hinterließ finanzielle Spuren, die noch heute spürbar sind.

Doch genau diese Grenzen zu überwinden, hat sich als das erwiesen, was ADI – und Israel – im Innersten antreibt. Jeder Schritt zählt – für Shai, für alle Bewohner und Patienten, für die Gesellschaft als Ganzes.

Diese Verhaltensstudie aus Krisenzeiten zeigt: Wahre Stärke erweist sich nicht darin, wie man siegt – sondern darin, wie man anderen hilft zu heilen.

Helfen Sie uns dabei.
Mehr Informationen und Spendenmöglichkeit: https://adi-il.de/

Über ADI Negev-Nahalat Eran

ADI Negev-Nahalat Eran wurde 2005 vom Generalmajor a.D. und heutigem Vorsitzendem der Jewish Agency Doron Almog gegründet – aus der tiefen Überzeugung heraus, dass auch Menschen mit schwersten Behinderungen ein Leben in Würde, Gemeinschaft und Entwicklung verdient haben. Inspiriert von seinem Sohn Eran, der mit schwersten körperlichen und kognitiven Behinderungen geboren wurde, schuf Doron Almog ein ganzheitliches Rehabilitationsdorf, das heute als international anerkanntes Modell für Inklusion, medizinische Innovation und gesellschaftlichen Zusammenhalt gilt.

Das Dorf im Süden Israels bietet umfassende, interdisziplinäre Pflege und Förderung für Menschen mit schweren körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen – vom Kleinkind bis ins hohe Alter. Es hat Wohnanlagen für Menschen mit schweren Behinderungen, acht integrative Kindergärten, eine staatlich anerkannte Förderschule, tiergestützte Therapiebereiche, einen hydrotherapeutischen Reha-Pool und das Kaylie Rehabilitation Medical Center, das einzige Rehabilitationskrankenhaus im Süden Israels.

ADI Negev-Nahalat Eran steht Menschen aller Religionen und Hintergründe offen und ist ein lebendiges Zeugnis dafür, was möglich ist, wenn Humanität, Expertise und Vision aufeinandertreffen.