Israel, 7. Oktober – Protokoll eines Anschlags

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Nach dem unmenschlichen und barbarischen Massaker des 7. Oktober 2023 vergingen nicht einmal Tage, bis Forderungen nach einer Kontextualisierung der Gräueltaten laut wurden. Gemeint war: Die Relativierung der Verbrechen im Sinne der antisemitischen Strategie der Täter-Opfer-Umkehr. In scheinbar harmlosen, subtilen Fragen wie „Was macht jahrelange Besatzung mit Menschen?“ bis hin zu eindeutigen Formulierungen wie: „Die Palästinenser haben keine andere Möglichkeit sich zu wehren“ offenbarte sich der deutsche und europäische Schulterschluss derer, die sich einig sind: Die Israelis sind schuld und selbst die Ursache und Urheber für die an ihnen begangenen Verbrechen und Untaten.

Von Eva M. Grünewald

Eine wirkliche Kontextualisierung im Sinne einer umfassenden Erzählung nahm die Theaterregisseurin und Journalistin Lee Yaron vor, deren Buch heute in Frankfurt und in den kommenden Tagen auch in München, Stuttgart und Berlin vorgestellt wird. In ihrer Dokumentation „Israel 7. Oktober. Protokoll eines Anschlags“ beschreibt sie, was weit über 100 Menschen an diesem grauenvollen Tag erlebten.

Yaron erzählt von den Orten entlang des Gaza-Streifens, von den Menschen, die an diesen Orten auf brutalste Weise missbraucht, gequält, misshandelt, entführt und ermordet wurden. Sie erzählt von Menschen, die ihre Angehörigen oft vergeblich suchten; Menschen, die zurückblieben. Sie erzählt von Menschen, die retteten und halfen; Menschen, die Zeugen unbeschreibbarer Grausamkeiten werden mussten. Sie erzählt, wie diese Menschen weiterleben.

Sie erzählt von menschlichen Monstern, die das barbarische Massaker begangen und von Menschen, die ihnen folgten, die mittaten, die jubelten.

Sie erzählt von Menschen und ihren Geschichten, von Orten und ihrer Geschichte.

Sie erzählt die Geschichten zu den Fotos von Opfern, die seit dem 7. Oktober durch die Social-Media-Welt geistern, Fotos, die Menschen zu namen-, geschichts- und wehrlosen blutüberströmten und bestialisch massakrierten Körpern und körperlosen Überresten machten. Zu anonymen Opfern, deren Lebensgeschichten von den Forderungen nach Kontext verdeckt und verschwiegen werden, nachdem ihr Leben selbst barbarisch und brutal beendet wurde.

So erzählt sie von der Familie Suissa in Sderot, deren drei- und sechsjährige Töchter blutüberströmt von einem Fremden auf der Straße gefunden wurden. Mit Hilfe der Aufnahme von Überwachungskameras wurde ihre Geschichte im Nachhinein rekonstruiert.

Am 7. Oktober um 6.29 Uhr wollten die Eltern Suissa, wie sie es immer bei Raketenalarm machten, ihre Töchter an einem anderen Ort in Sicherheit bringen. Bereits an einer der ersten Kreuzungen kamen ihnen zwei Pick-ups mit schwerbewaffneten Terroristen entgegen. Sie wurden angeschossen. Zwei vorbeikommende Helfer fuhren mit der Mutter und den Kindern zur Polizeiwache. Dort wurden die drei Erwachsenen erschossen, die Kinder von einem unbekannten anderen Familienvater in Sicherheit gebracht.

Den Vater Suissa fuhr ein weiterer Helfer ins Krankenhaus, wo er während einer Operation an seinem Bauchschuss verblutete. Die Mutter dieses Helfers wurde beim Joggen erschossen, nachdem sie sich fünf Stunden unter einem Abflussrohr versteckt hatte und ihrer Familie noch am Telefon sagen konnte, dass die Terroristen sie übersehen hätten. Der Vater eines weiteren beduinischen Helfers erfuhr erst nach Stunden von einem Fremden, der seinen Anruf auf dem Handy seines Sohnes beantwortete, dass sein Sohn vor der Polizeiwache von Sderot erschossen wurde. 17 Tage lang suchte er daraufhin täglich dessen Leichnam. Schließlich fragte er, ob sein Sohn versehentlich unter den Terroristen aufgebahrt worden sei. Am selben Tag noch wurde er darüber informiert, dass der Leichnam gefunden wurde.

Die Autorin schildert diese grausamen Ereignisse in sachlichen, nahezu lakonischen Worten und lässt die Frage, ob der Beduine für einen Terroristen gehalten wurde, kommentarlos offen. Wortlos steht damit die Frage nach einer stereotypen Wahrnehmung der Täter und Opfer durch staatliche Stellen im Raum.

Die schwierige Situation der Beduinen, deren Alltag oftmals durch staatlichen und strukturellen Rassismus geprägt ist, thematisiert sie ebenso in einem weiteren Zusammenhang: Eine beduinische Großfamilie lebt nahe der Grenze zu Gaza in Hütten, die als illegal gelten und verfügt über kaum allgemeine Infrastruktur, zudem weder Schutzräume noch Raketenwarnsystem. Der Angriff der Hamas überraschte sie ungeschützt. 19 Menschen, darunter sechs Kinder starben hier. (Vgl. S. 88) Aus dem Angriff der Hamas wurden jedoch keine Konsequenzen gezogen, die die Situation der Beduinen maßgeblich verbessert hätten. Einige Betonschutzräume wurden errichtet – beispielsweise für sechs Personen bei einer 56 Personen zählenden Familie – die ohne Alarm nicht rechtzeitig zu erreichen sind.

Yaron erzählt auch die Geschichte der Gruppe Seniorinnen und Senioren, die – zu sehen auf einem Foto im Internet – erschossen in ihrem Blut an einer Bushaltestelle in Sderot liegt. Dieses verpixelte Foto gehörte zu den wiederkehrenden Standardbebilderungen des 7. Oktober durch deutsche Medien. Unter den Senioren befindet sich die 75-jährige Nadezhda Sprebchikov-Tumiib, die mit ihrer Schwester Natalya mit dem Mini-Bus von „Alexei Tours“ einen Badeausflug ans Tote Meer unternehmen wollte. Sie stammten aus dem muslimischen Tadschikistan und waren ihr Leben lang persönlich und institutionell mit Antisemitismus konfrontiert.

Nadezhda war 1993 mit ihren drei Kindern nach Israel emigriert, wo Natalya bereits seit einigen Jahren lebte. Mit 45 Jahren war es ihr ohne Kenntnis der hebräischen Sprache nicht möglich, wieder in ihren Beruf als Chemikerin an der Universität einzusteigen. Zunächst arbeitete sie als Kassiererin, dann als Pflegerin russischsprachiger Seniorinnen, bevor Nadezhda in Rente ging. Auf dem Foto fällt sie besonders durch ihr grünes Kleid auf, das als Farbklecks unter dem Leichentuch und dem getrockneten Blut hervorsticht.

Yaron erzählt von den Kibbuzim im Süden Israels am Beispiel von Nahal Oz, der 1951 in dem drei Jahre alten Staat gegründet wurde. So wie die meisten Kibbuzim wurde auch Nahal Oz von in Palästina geborenen Jüdinnen und Juden sowie Zuwandererinnen und Zuwanderern und Schoah-Überlebenden gegründet. Sie schildert einen Überfall arabischer Angreifer aus dem Gazastreifen im Jahr 1956, als ein unbewaffneter Sicherheitskoordinator in ihre Falle ritt und von der Gruppe, unter der sich auch ein Polizist aus Gaza, zwei Soldaten und ein Armeeoffizier aus Ägypten befanden, getötet und nach Gaza verschleppt wurde. Am nächsten Tag wurde sein Leichnam geschändet zurückgebracht.

Dieser Rückblick liest sich wie ein bitteres Präludium. 

Die Trauerrede für jenen Roi Rotberg hielt Moshe Dayan, der selbst 1915 im ersten Kibbuz im späteren Norden Israels geboren und als Landwirtschafts- und Verteidigungsminister Israels bekannt wurde. Es erstaunt, Verständnis für die Mörder in dieser Rede zu lesen, wenn nicht gar Mitleid mit ihnen. Fast dieselbe Grabrede las Dayan auch einen Tag später öffentlich im Radio – hier jedoch strich er sein Verständnis. Denn, so erläutert Yaron, die Öffentlichkeit des Jahres 1956 erinnerte sich zu gut an das Bündnis der arabischen Nachbarn mit den deutschen Nazis, den Aufenthalt von Amin Al Husseini bei Hitler in Berlin, wo beide öffentlich erklärten, dass Araber und Deutsche „natürliche Freunde“ seien, deren gemeinsame Feinde, „die Engländer, die Juden und die Kommunisten“ seien (S. 104).

Dayan sagte stattdessen in seiner öffentlichen Rede: „Scheuen wir uns nicht, dem Hass ins Auge zu sehen, der in Hunderttausenden Arabern um uns herum brennt. Wenden wir nicht den Blick ab, damit unsere Kraft nicht nachlässt.“ (S. 103) Schon in den ersten Jahren des jungen Staates Israel starben etwa 1000 Israelis bei Hunderten von Terroranschlägen.

Am 7. Oktober waren die Opfer der brutalen Angriffe vor allem die südlichen Kibbuzim wie Nahal Oz, Nir Oz, Kfar Aza, Be’eeri und so viele weitere, in denen jene Menschen lebten, die auf Frieden hofften, die eine gute Beziehung zu ihren Nachbarn im Gaza-Streifen pflegten, die sie beschäftigten, mit ihnen arbeiteten, die sie in Krankenhäuser in Israel fuhren. Eben jene Menschen waren es, die zu Hunderten misshandelt, gequält, vergewaltigt und entführt wurden.

Yaron erzählt auch die Geschichte des Leiters der Spezialeinheiten von ZAKA, einer regierungsunabhängigen Hilfsorganisation, die während der ersten Intifada gegründet wurde, um Leichenteile nach Bombenanschlägen zu sammeln und Terroropfer zu identifizieren. Dieser wurde am Abend des 7. Oktobers nach Re’im gerufen, um sich um die Leichen der ermordeten Besucherinnen und Besucher des Nova Festivals zu kümmern. Er traf auf weit über 250 Leichen, überwiegend Frauenleichen. Frauen, denen die Kleider vom Leib gerissen waren, denen man die Kehle durchschnitten hatte, denen die Eingeweide aus dem Leib gerissen waren, denen man in die Vagina geschossen hatte, denen man die Brüste aufgeschlitzt hatte, deren Geschlechtsorgane verbrannt waren.

Yaron erzählt die Geschichte von DJ Kido, der das Festival auf der Hauptbühne des Festivals eröffnet hatte und am frühen Morgen zahlreichen Besucherinnen und Besuchern half. Wochen erst nach dem Massaker der Hamas wurden die Überreste seiner Leiche mit vier weiteren Leichen unter einem ausgebrannten Krankenwagen gefunden. Nur ein Ring mit violettem Stein von ihm blieb unversehrt.

Yaron erzählt von der Feier zur Erinnerung an die Gründung Be’eris am Abend des 6. Oktober, bei der zahlreiche der insgesamt 1108 Mitglieder des 1946 gegründeten Kibbutz zusammenkamen, unter ihnen Levy, einer der ältesten Bewohner des Kibbutz aus Algerien; Carmela und Yaakov, irakische Juden, die den Farhud-Progrom im Jahr 1941 überlebt hatten; Adi und Hadas, die wöchentlich palästinensische Patienten in israelische Krankenhäuser fuhren und Vivian Silver, eine Jüdin aus Kanada, die mit palästinensischen Frauen gemeinsam für den Frieden gekämpft und „Women Wage Peace“ gegründet hatte. Monatlich hatte dieser Kibbutz Tausende Schekel zur Unterstützung von Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza gespendet.

Yaron erzählt die Geschichte der nepalesischen Erntehelfer, die wenige Tage zuvor erst in Israel eingetroffen waren, um im Kibbutz Alumim Geld für ihre Familien in der Heimat zu verdienen. Schon Raketenalarm kannten sie nicht, doch dem Überfall der Hamas waren sie ahnungs- und hilflos ausgeliefert. Sie versteckten sich hinter einer Wand aus Reisbeuteln, die sie in der Küche aufschichteten. Sie konnte sie nicht schützen.

Yaron zitiert auch einen Gefangenen, der im Verhör seinen Auftrag erklärt: „Wir sollen sie töten, ihnen die Köpfe eintreten, ihre Beine abhacken, solche Sachen.“ Sie stellt die eiskalte Grausamkeit dar, die dem Horror zugrunde lag, die genau diesen Horror wollte.

Vor allem aber erzählt sie die Geschichten Vieler, die sie nicht mehr erzählen können, die ermordet wurden. Ausgelöscht – oft ganze Familien, die meist aus anderen Staaten kamen, in denen sie bereits verfolgt wurden, nicht selten aus arabischen Staaten, viele von ihnen stammten auch von Schoah-Überlebenden ab. Ihre Erzählungen enden nicht mit den Morden des 7. Oktober. Sie erzählt auch von denen, die überleben und weiterleben und manchmal mit dem Erlebten nicht weiterleben können.

Haim, der Busfahrer, der selbst einst in einer Siedlung im Gaza-Streifen gelebt hatte. Bereits 2004 waren enge Freunde seiner Familie bei einem Terrorangriff ermordet wurden; 2005 wurde er mit seiner Familie von der israelischen Regierung aus Gaza evakuiert und 2019 erst in einem Moschaw angesiedelt. Am 7. Oktober beauftragte seine Busgesellschaft ihn, die Überlebenden aus Be’eri in Hotels am Toten Meer zu bringen. Nachts kehrte er weinend nach Hause zurück und berichtete von dem Entsetzen und dem Grauen, das er gesehen hatte. Menschen ohne Kleidung, voller Blut, die sahen, wie ihre Eltern und Familien ermordet wurden. Doch auch Haim konnte den Schrecken, den er gesehen hatte, nicht verwinden. Knapp drei Wochen später nahm er sich selbst das Leben.

Sivan, eine Versicherungsangestellte, wurde nach dem 7. Oktober zur Trauerbegleiterin und Bestattungsplanerin. Sie organisierte 30 Trauerfeiern und Beerdigungen in einer Woche. Die meisten der Ermordeten, deren Beerdigungen sie organisierte, waren Jugendliche, kaum älter als ihre eigene Tochter. Dann brach Sivan zusammen aufgrund des Broken-Hearts-Syndroms mit einem Herzstillstand zusammen. Sie konnte gerettet werden, doch erinnerte sich nicht mehr an den Krieg.

Tamar, die Neunjährige, muss sich in Ashdod siebzehnmal am 7. Oktober in den Sicherheitsraum flüchten. Ebenso an jedem Tag in den folgenden Wochen, meist mehrfach. Tamar hat Angst, ihr Vater denkt, sie würde übertreiben. Am 20. Oktober bricht sie während eines Alarms mit Krämpfen im Schutzraum bewusstlos zusammen. Drei Tage später wird ein Hirnödem entdeckt, am 28. Oktober wird Tamar für tot erklärt.

Yaron legt ein klares Bekenntnis zugrunde: „Ich bin Tochter und Enkelin von Flüchtlingen und Überlebenden des Holocausts. Ich bin Jüdin. Ich bin Israelin.“ Damit betont sie die Notwendigkeit des jüdischen Staates als Refugium der Sicherheit für Jüdinnen und Juden. Sie fährt fort: „Und ich bin eine Frau, Feministin, Journalistin und gehöre aus tiefer Überzeugung zu jener Seite, die sich für die Rechte aller Völker zwischen Jordan und Mittelmeer einsetzt, jener Seite, die noch immer den Traum von zwei Staaten für zwei Völker träumt, die Juden und Arabern, Israelis und Palästinensern gleichermaßen Demokratie und Menschenrechte garantieren.“ Ob dieser Traum, als Wunsch und Vision trotz des geschilderten Grauens final postuliert, noch eine Chance hat, scheint immer schwerer vorstellbar.

Lee Yaron, Israel, 7. Oktober. Protokoll eines Anschlags, S. Fischer 2024, 320 S., Euro 26,00, Bestellen?

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