Die israelische Regierung plant eine weitergehende Besetzung des Gazastreifens als bisher. Deshalb ist eine neue militärische Bodenoffensive beschlossen worden. Doch über die langfristigen Ziele herrschen weiterhin Dissens und Ungewissheit. Aber nicht nur das.
Von Ralf Balke
Nach dem Reservedienst scheint vor dem Reservedienst zu sein. Genau diesen Eindruck müssen gerade Zehntausende von Israelis haben, die in diesen Tagen dazu aufgerufen wurden, bei ihren Einheiten zu erscheinen – wieder einmal. Schließlich war das bei einem großen Teil von ihnen seit den Ereignissen vom 7. Oktober bereits zum dritten und vierten Mal der Fall, bei manchen sogar noch öfter, weshalb zahlreiche Reservisten auf mittlerweile über 270 Tage und mehr in Uniform kommen. Unabhängig von den Gefahren und Risiken stellt all das eine enorme psychische Belastung dar. Erneut werden sie aus ihrem familiären, sozialen und beruflichen Umfeld gerissen, sodass sich langsam aber sicher Unmut und Ermüdungserscheinungen zeigen. Doch die Mehrheit von ihnen erscheint zum Dienst, das Verantwortungsgefühl und die Verpflichtung gegenüber den Kameraden überwiegen.
Noch möchte man sagen. Denn als am Wochenende bekannt wurde, dass wohl eine größere Offensive im Gazastreifen geplant sei, fragten sich viele nach dem Sinn des Ganzen und der Strategie dahinter. Einerseits sehen viele Israelis mittlerweile eher ein politisches als ein militärisch definiertes Kalkül hinter dieser Entscheidung und sind irritiert über die Tatsache, dass man nun zum wiederholten Male Gebiete besetzen soll, die bereits einige Male zuvor unter Kontrolle gebracht wurden. Danach erfolgte stets ein Rückzug, was wiederum die Hamas ausnutzen sollte und dort sich neu positionierte. Nun nochmal von vorne? Zudem werde das Leben der 59 noch im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Geiseln durch eine solche Offensive in Gefahr gebracht.
Das Militär erklärte, man wolle so schrittweise den Druck auf Hamas erhöhen. Die Einberufung der Reservisten sei Teil eines Stufenplans, da die Terrorgruppe sich weiterhin weigere, einem Abkommen zur Freilassung der Geiseln zuzustimmen. Außerdem werden die Reservisten wohl nicht in den Gazastreifen geschickt, sondern an andere Fronten, und zwar an die Grenze zum Libanon oder zu Syrien sowie in das Westjordanland. Dafür sollen die dort stationierten Soldaten ausgetauscht und in den Gazastreifen geschickt werden. Auf diese Weise reagiere man gleichzeitig auf die vielen Protestschreiben von Reservisten, die einer Rückkehr der Geiseln absolute Präferenz einräumen – selbst wenn dies eine längere Pause oder ein Ende der Kämpfe mit der Hamas bedeuten würde.
Nun aber erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Montag, dass das Militär in allen im Rahmen einer neuen Offensive eroberten Gebieten des Gazastreifens stationiert bleiben werde, und zwar so lange, bis sämtliche Ziele des Krieges erreicht seien. „Dies war die Empfehlung von (Generalstabschef) Eyal Zamir – um, wie er es ausdrückte, auf die Niederlage der Hamas hinzuarbeiten“, sagte er in einem Video auf der Plattform X, vormals Twitter. „Er ist der Meinung, dass uns dies auch bei der Rettung der Geiseln helfen wird. Ich stimme mit ihm überein. Wir werden in unseren Bemühungen also nicht nachlassen, und wir werden keine einzige Geisel aufgeben.“ Die Wortwahl des Ministerpräsidenten ist bemerkenswert. So basiere laut Benjamin Netanyahu die Entscheidung, im Gazastreifen eine neue Offensive zu starten, auf einer Empfehlung des Generalstabschefs. Zwischen den Zeilen gelesen bedeutet dies: Läuft bei der Operation etwas schief, kommen etwa die Geiseln zu Tode oder häufen sich die Gefallenenzahlen, dann ist der oberste Militär dafür verantwortlich und nicht der Regierungschef, schließlich habe Eyal Zamir ja die Offensive empfohlen. Unerwähnt bleibt, dass Zamir die Kabinettsmitglieder in der entscheidenden Sitzung ausdrücklich davor gewarnt hat, dass man „die Geiseln verlieren könnte“.
Auch der Verweis darauf, dass man keine einzige Geisel aufgeben würde, schien Benjamin Netanyahu diesmal wichtig. Denn sein Finanzminister Bezalel Smotrich, der zudem Minister im Verteidigungsministerium ist, hatte wenige Tage zuvor noch für reichlich Unmut gesorgt, weil er im Radio Folgendes gesagt hatte: „Wir müssen die Wahrheit sagen, die Rückkehr der Geiseln ist nicht das Wichtigste.“ Das Forum der Familien der Geiseln und Vermissten, das die Angehörigen der Mehrheit der in den Gazastreifen Verschleppten vertritt, schrieb in seiner Antwort an Bezalel Smotrich, dass man „heute Morgen keine Worte habe, sondern nur noch Scham“ empfinde. „Der Minister offenbart der Öffentlichkeit zumindest die harte Wahrheit, dass diese Regierung bewusst beschlossen hat, die Geiseln aufzugeben.“ Auch Benjamin Netanyahu persönlich war in die Kritik geraten, als er bei einem Auftritt im Vorfeld der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag die Geiseln beinahe vergessen hatte zu erwähnen und erst im letzten Moment nach einem Hinweis von Verkehrsministerin Miri Regev von ihnen sprach und sagte, dass noch bis zu 24 der 59 am Leben seien. Darauf intervenierte seine Frau Sara und flüsterte ihm zu „Weniger“. Das Entsetzen und die Empörung waren enorm, weil offensichtlich Informationen über den Zustand der Geiseln aus politischen Gründen zurückgehalten wurden und sogar die Gattin mehr wissen würde als die Angehörigen selbst.
Nun wurde 577 Tage nach dem 7. Oktober also erneut eine Offensive beschlossen. Laut israelischen Angaben will man den Norden des Gazastreifens unter seine vollständige Kontrolle bringen, weshalb die dort lebenden Palästinenser in den Süden ausweichen müssen. Auch soll der Hamas der Zugriff auf die Hilfsgüter genommen werden. Diese hatte in der Vergangenheit Wasser und Nahrungsmittel an ihre Gefolgsleute umgeleitet oder teuer verkauft, um so ihre Kassen zu füllen. Die Verteilung, die zuvor von internationalen Hilfsorganisationen und den Vereinten Nationen gemanagt wurde, wird an private Unternehmen übertragen und sich auf das südliche Gebiet rund um Rafah konzentrieren, sobald die neue Offensive an Fahrt gewonnen hat. All das soll zusätzlichen Druck auf die Terrororganisation erzeugen, damit sie endlich auch die letzten Geiseln aus ihrer Gewalt freigibt – so jedenfalls die offizielle Erklärung.
Trotzdem herrscht bei den politischen Entscheidungsträgern nicht unbedingt Einigkeit darüber, was genau im Kontext der neuen Offensive Präferenz haben sollte – schließlich existiert weiterhin kein Plan über eine zukünftige Neuordnung des Gazastreifen. Man repetiert nur, was man nicht will, also eine Beteiligung der Palästinensischen Autonomiebehörde, geschweige der Hamas, an einer künftigen Verwaltung und dass man das Vorhaben von US-Präsident Donald Trump, eine freiwillige Emigration von Palästinensern zu fördern, irgendwie unterstützt.
Sehr wohl aber gab es erneut deutliche Worte von Bezalel Smotrich, die in eine andere Richtung verweisen. So erklärte er am Montag, dass sich Israel nicht aus dem Gazastreifen zurückziehe werde – selbst wenn es ein weiteres Geiselabkommen geben sollte. Zugleich forderte der Finanzminister die Israelis dazu auf, den Begriff „Besatzung“ gefälligst zu akzeptieren. „Wir werden den Gazastreifen endlich besetzen. Wir werden aufhören, uns vor dem Wort >Besatzung< zu fürchten“, sagte er gegenüber dem TV-Sender Arutz 12. Verbale Schützenhilfe erhielt er dabei von Kultusminister Miki Zohar, der ebenfalls am Montag offen davon sprach, dass das eigentliche Ziel der erneuten israelischen Offensive gegen die Hamas „die vollständige Besetzung des Streifens“ sei. Gleichzeitig räumte er ein, dass „ein solcher Schritt diejenigen gefährdet, die in Gefangenschaft bleiben, aber es gibt keine andere Wahl“. Angesichts der Forderungen dieser Minister aus der Vergangenheit, im Gazastreifen wieder Siedlungen zu errichten, haben solche Sätze einen üblen Beigeschmack.
Auch scheint es reichlich Reibereien zu geben zwischen den Rechtsextremen im Kabinett und Vertretern der Armee. So waren Itamar Ben Gvir und Generalstabschef Eyal Zamir aneinandergeraten, weil der Minister für nationale Sicherheit gefordert hatte, dass Hilfsgüter nicht mehr in den Gazastreifen gelangen sollten, weil die Menschen dort ohnehin genug zum Essen und zum Trinken hätten. „Die Lebensmittellager der Hamas sollten bombardiert werde“, so wird Itamar Ben Gvir zitiert, „Ich verstehe nicht, warum jemand, der gegen uns kämpft, automatisch Hilfe bekommen sollte“, eine Meinung, mit der er im Kabinett wohl nicht alleine dastand. Der Generalstabschef hatte daraufhin erwidert, dass solche Ideen für Israel hochproblematisch seien und der Minister für nationale Sicherheit keine Kompetenzen zu dem Thema mit sich bringe. „Es gibt internationales Recht, dem wir verpflichtet sind“, so Eyal Zamir. „Wir können den Gazastreifen nicht einfach aushungern.“
Offen ist nun die Frage, ob die Rechtsextremen im Kabinett Oberhand gewinnen oder inwieweit sie der Ministerpräsident gewähren lässt. Fakt aber ist, dass die Familien der Geiseln nun noch weniger Hoffnung haben als vorher, ihre Angehörigen wiederzusehen. Als Reaktion auf den Kabinettsbeschluss und die Erklärungen der Minister attestierte das Forum der Familien der Geiseln und Vermissten der Regierung „die Herrschaft über das Gebiet über die Geiseln zu stellen“, und stellte fest, dass „dies gegen den Willen von über 70 Prozent der Bevölkerung geschieht“. Denn allen Umfragen zufolge präferiert die große Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit weiterhin ein Abkommen, das die Freilassung aller im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln vorsieht, selbst wenn dies ein Ende des Krieges bedeutet. Das aber, und so zeigen es die Ereignisse der vergangenen Tage, deckt sich nicht mit den Visionen von Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir, die ganz andere Pläne verfolgen – und das mit Rückendeckung des Ministerpräsidenten.