Die Bilder von Romi Gonen, Emily Damari und Doron Steinbrecher, die am 19.1. nach 471 Tagen auf eigenen Beinen stehend der Finsternis entstiegen sind und von ihren Liebsten in die Arme geschlossen wurden, lösten eine fast schon entgrenzte Euphorie in Israel aus. Nach einer Ewigkeit, in der Tod und politischer Zynismus die Nachrichten gefüllt haben und man immer nur das Schlimmste erwartet hat und dabei selten enttäuscht wurde, das volle Gegenteil: Leben, Freude, Hoffnung. Die Freilassungen fühlten sich trotz des sich auf ewig eingefressenen Horrors so an, als ob es eine Zeit danach geben kann, ein Aufstehen aus den Trümmern.
Von Oliver Vrankovic
Bis Ende Februar ’24 kamen im Rahmen eines Abkommens nach den drei jungen Frauen weitere 30 Geiseln frei, 20 davon lebendig (und zusätzlich wurden fünf thailändische Staatsbürger freigelassen). Das in drei Phasen unterteilte Abkommen zur Freilassung israelischer Geiseln lag seit Mai 2024 auf dem Tisch. Unterschrieben wurde es erst, nachdem Trump gewählt wurde, der Hamas mit der Hölle in Gaza gedroht hat und dessen Sondergesandter Witkoff Druck auf Netanyahu ausübte.
Bei den folgenden Freilassungen, die von den Terroristen als Demonstrationen der Stärke inszeniert wurden, mischte sich unter die Euphorie das Entsetzen über die Brutalität, die den Geiseln sichtbar angetan wurde und ihrer öffentlichen Erniedrigung vor Übergabe an das Rote Kreuz. Die Aussagen der Freigekommenen über ihre Gefangenschaft, die sie über Wochen und Monate hinweg zu Protokoll gaben, fügen sich derart zusammen, das kein Zweifel mehr daran besteht, dass die sich noch in Gefangenschaft befindlichen Geiseln hungern und schwer misshandelt werden.
58 Geiseln befinden sich auch 600 Tage nach dem 7.10. noch in palästinensischer Geiselhaft. Mehrheitlich befürworten die Israelis heute weitgehende Konzessionen für die Freilassung der in Gaza verbliebenen Geiseln.
Als Hersh Goldberg-Polin, Eden Yerushalmi, Carmel Gat, Almog Sarusi, Alexander Lobanov und Ori Danino im August ’24 in Geiselhaft ermordet wurden, wurde klar, dass militärischer Druck nicht zur Befreiung von Geiseln führt sondern zu deren Ermordung durch ihre Entführer.
In Israel gingen nach der Ermordung der sechs jungen Geiseln Hunderttausende für ein Abkommen auf die Straße und das Büro des Premiers reagierte damit, fingierter Dokumente an die ausländische Presse zu vermitteln, die vermeintlich aufzeigten, dass es wegen den Angehörigen der Geiseln und ihrem Protest kein Abkommen gebe. Auch vermeintlich seriöse Akteure der Israelsolidarität haben bei dem Spin mitgewirkt. Für die Angehörigen war dies selbstredend ein Schock, der bis heute zu den ärgsten Vorkommnissen ihrer Leidenszeit zählt.
In die Zeit (5.9.24) fiel eine Veranstaltung der DIG Stuttgart mit Gil Siegel, dem Neffen von Aviva und Keith Siegel.
Gil Siegel gab den Teilnehmenden der VA zu einem Zeitpunkt, als über das Schicksal von Keith nichts bekannt war, einen ergreifenden Einblick in das Innenleben der Angehörigen, ihren Schmerz, ihre emotionale Achterbahnfahrt und in ihren vielschichtigen Kampf. Bei der Veranstaltung wurde klar, dass der Kampf der Angehörigen für die Freilassung ihrer Liebsten v.A. ein Kampf für ein Abkommen ist, der gegen die eigene Regierung geführt wird.
Bei der dritten Ausgabe von „Stimmen in Israel“ der DIG Stuttgart haben am 6.10. Martin Sessler aus Magen, Ralph Lewinson aus Kfar Aza, Ricarda Louk, Dina Rahamim von ADI Negev und Chanan Cohen, der Bruder von Margalit Moses und Schwager von Gadi Moses, teilgenommen. Ein Jahr nach dem Massaker war das Schicksal von Gadi Moses völlig unklar. Chanan Cohen erzählte von seinem Engagement für die Freilassung seiner Angehörigen (sechs Mitglieder der Familie Moses wurden entführt), den Entführten aus Nir Oz und überhaupt aller Geiseln. Kooperationspartner bei dem Panel waren die DIG Köln und der Solidaritätsverein Nir Oz aus Bergisch Gladbach, der zu einem ganz wichtigen israelsolidarischen Akteur wurde und tatsächlich auch praktische Arbeit leistet.
Als Gadi Moses am 30.1. mit Arbel Yehud in Khan Yunis dem Roten Kreuz übergeben wurde, musste angesichts der Bilder des Mob das Schlimmste befürchtet werden.
Gadi Moses war sich sicher, dass Arbel und er gelyncht werden. Als sie sich schließlich in israelischen Händen befanden, erklärte Gadi, dass er alles tun wolle, um den Kibbutz Nir Oz wieder aufzubauen.
Zwei Tage später wurden Keith Siegel, Yarden Bibas und Ofer Kalderon freigelassen.
Keith kehrte zurück zu Aviva, die im November ’23 freigekommen war und Ofer kehrte zurück zu seinen Kindern, die im November ’23 freigekommen sind. Yardens Frau Shiri Bibas und ihre beiden Kinder Kfir und Ariel, die lebend aus Nir Oz entführt wurden, kehrten tot aus der Geiselhaft zurück.
Beim Trauerzug für die Bibas Kinder und ihre Mutter konnte man sich als Deutscher nur für Deutschland schämen, das Nichts für die Freilassung der deutschen Staatsbürger und überhaupt der Geiseln getan hat. Die DIG Stuttgart organisierte eine Mahnwache für die Bibas Kinder und ihre Mutter. Gleichzeitgig wurde klar, dass das Engagement, wenn es ehrlich gemeint ist, nicht bei symbolischer Anteilnahme stehen bleiben darf.
Um zu erfahren, was den Angehörigen als wirkliche Unterstützung gilt, hat die DIG Kontakt zur ehemaligen Abgeordneten Emiliy Moatti geknüpft, die sich im Forum der Angehörigen engagiert und (dank Petra Hemming) zu Efrat Machikawa, der Tochter von Chanan Cohen und Nichte von Margalit und Gadi Moses. Efrat ist eine der führenden Aktivist*innen im Forum der Angehörigen und Repräsentantin der Geiseln mit deutscher Staatsangehörigkeit. Efrat opfert sich seit dem 7.10. für die Geiseln auf, war mastermind hinter einer komplexen James Bond ähnlichen Aktion, um Medikamente für die Geiseln über verschiedene Länder hinweg in den Gazastreifen zu schmuggeln und an vielen anderen Aktionen beteiligt. Von großen Erfolgen war ihr Engagement nicht gekrönt, doch eine Mut machende Geschichte kann sie doch erzählen.
Als Keith zwei Tage nach Gadi aus der Gefangenschaft frei kam und im Krankenhaus die Familie Moses begrüßte, erkannte er Efrat. Keith hatte sie in Gefangenschaft im Fernsehen gesehen und so vom Kampf in Israel für die Geiseln erfahren und daraus Überlebensmut geschöpft.
Bei einem Rundgang durch Nir Oz mit Efrat und Renana Gome Yaakov durch Nir Oz wird das Versagen der Armee und der Politik, die „Nie Wieder“ versprochen und nicht gehalten haben, auf schmerzhafteste deutlich und ebenso wird deutlich, dass eine Zukunft für die Orte direkt an der Grenze nur schwer vorstellbar ist, so lange zwei Millionen Palästinenser in unmittelbarer Nähe leben. Die Söhne von Renana wurden entführt, ihr Sohn Yagil (12) von Zivilisten.

Im November 2023 kamen die Jungen im Rahmen eines Abkommens frei. Der Ex-Mann von Renana wurde am 7.10. ermordet und nach Gaza entführt, wo sich seine Leiche noch befindet.
Gadi Moses, dessen Partnerin Efrat Katz am 7.10. ermordet wurde, schilderte am Ende des Rundgangs in seinem Haus seine Entführung. Sinnbildlich mündete das Gespräch mit Gadi Moses in der Frage nach dem Wiederaufbau des Kibbutz und der Erinnerung.
Efrat, Chanan und Gadi zeigen sich beeindruckt vom Engagement des Nir Oz Vereins aus Bergisch Gladbach, der viele Spenden gesammelt hat und regelmäßig Freiwillige zum Wiederaufbau des Kibbutz schickt.
In Nir Oz wird klar, dass es keinen Neuanfang geben kann, solange das Versagen am 7.10. nicht durch einen staatlichen Untersuchungsausschuss aufgeklärt und v.a. ALLE Geiseln zurückgekehrt sind.
Nachdem die israelische Regierung nicht wie vereinbart über die zweite Phase des Abkommens verhandelt hat und Hamas sich einer Verlängerung der ersten Phase des Abkommens und weiteren Geiselfreilassungen verweigert hat, wurden Mitte März die Kampfhandlungen wieder aufgenommen.
Während nach dem 7.10. völlig klar war, dass Israel ein existentieller Verteidigungskrieg aufgezwungen wurde und das klare Ziel war, die Geiseln zurückzuholen, sind die Ziele seit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen unklar. Viele der Reservisten können nicht sagen, ob sie für das Land und die Geiseln oder für sektorale politische Interessen der Regierung nach Gaza geschickt werden. Von den meisten Familien der Geiseln wird die Wiederaufnahme der Kämpfe abgelehnt.
Zwei Drittel der Israelis sind bereit, für ein Abkommen zur Freilassung aller Geiseln einen Waffenstillstand zu akzeptieren, wenn explizit nach dem Ende des Krieges gefragt wird, liegt die Zustimmung bei 61%. Und tatsächlich scheint der Krieg keinem Plan und keinem Ziel zu folgen und v.a. Politischen Interessen geschuldet. Schon seit langer Zeit wenden sich ehemalige Geiseln und Angehörige von Geiseln mit ihrem Anliegen an den US-Präsidenten Trump.
Dies bedeutet für weite Teile der Israelsolidarität eine große Herausforderung. Eine Solidarität mit Israel, seiner Bevölkerung und den Streitkräften, die sich aus der Bevölkerung rekrutieren und deren Lebensversicherung sind und die Solidarität mit den Angehörigen schließt im Grunde eine Solidarität mit der Netanyahu Regierung aus.
Die israelische Regierung gilt den Angehörigen der Geiseln als größtes Hindernis für ein Abkommen zur Befreiung aller Geiseln. Der ständig angeführte militärische Druck zur Befreiung der Geiseln wird von ihnen als unzulässige Instrumentalisierung der Geiseln zurückgewiesen. Den Druck, den die Angehörigen fordern, ist Druck auf ihre Regierung, ihrer moralischen und auch gesetzlich festgeschriebenen Verpflichtung nachzukommen, die Geiseln zurückzuholen. Sie wollen ein Abkommen, bevor die Zeit für ihre Liebsten abläuft.
Die Angehörigen wollen nicht bestaunt werden oder Mitleid erregen und im Besonderen nicht in eine ihren Anliegen entgegengesetzte Agenda, wie die Besetzung des Gazastreifens, eingespannt werden. Ihre klar geäußerten Forderungen lauten Geisel-Abkommen und eine davon nicht zu trennende Waffenruhe.
Da die Zeit abläuft, ist die Frage, was der Teil der deutschen Israelsolidarität, der nicht blind Netanyahu gläubig ist, tun kann, außer die Forderungen nach einem Abkommen zu teilen.
Efrat Machikawa, die Repräsentantin der Geiseln mit deutscher Staatsbürgerschaft ist, kann von warmen und gleichfalls fruchtlosen Treffen mit den höchsten Repräsentanten des deutschen Staates erzählen und sieht zum Antritt der neuen Regierung die Notwendigkeit eines veränderten Ansatzes. Um Druck auf deutsche Entscheidungsträger*innen machen zu können, entschlossen sich die Familien der Geiseln mit deutscher Staatsangehörigkeit zu einer Kampagne. Um die deutsche Bevölkerung davon in Kenntnis zu setzen, dass es Geiseln mit deutscher Staatsangehörigkeit gibt und diese humanitäre Katastrophe die deutsche Politik tatsächlich direkt betrifft, wurde das Poster „Deutsche Hamas-Geiseln“ erstellt. Die vielen Nachfragen, ob es sich bei den acht abgebildeten Personen, die sich noch immer in Gaza befinden, tatsächlich um deutsche Staatsbürger handelt, zeigen deutlich, wie der direkte Bezug der Geiseln nach Deutschland bis dato verschleiert wurde.
Am 26.5., 598 Tage nach dem 7. Oktober hatte die DIG Stuttgart beim fünften Panel „Stimmen aus Israel“ Chanan Cohen, Efrat Machikawa, Ruby Chen und Yuval Bar On zu Gast, um zu diskutieren, was getan werden kann.
Yuval Bar On, Schwiegersohn von Keith Siegel, erklärte, dass viele der Freigekommenen und Angehörigen ihre Hoffnungen ganz auf Präsident Trump setzen, weil sie glauben, dass die israelische Regierung die Geiseln im Stich lässt.
Chanan Cohen berichtete, dass er sich über die Freilassung von Gadi freue, aber wirkliche Freude erst empfinden könne, wenn alle 58 frei sind. Die Dringlichkeit, alles zu tun, um die in Gaza verbliebenen 58 Geiseln frei zu bekommen, wurde auch von seiner Tochter Efrat betont. Diese wies dann auch auf das Plakat „Deutsche Hamas Geiseln“ hin, mit der Bitte, es möglichst oft zu teilen.
Deutschland, so der Tenor der Veranstaltung, muss mehr tun und schöpft bei weitem nicht seine Möglichkeiten aus. Dies wurde dann detaillierter von Ruby Chen erklärt, dessen Sohn Itay einer der acht noch in Gaza verbliebenen deutschen Staatsbürger ist. Ruby Chen ist ein Experte in Terrorfinanzierung und legte in Grundzügen dar, wie die Geldströme an die Hamas auch durch Deutschland geleitet werden und deutsche Behörden und Entscheidungsträger*innen dies unterbinden könnten. Ruby Chen fügte noch an, dass in diesem Zusammenhang auch darauf gedrängt werden müsse, Druck auf die Türkei auszuüben.
Allen TeilnehmerInnen am Panel war wichtig zu betonen, dass es sich bei den Geiseln in palästinensischer Gefangenschaft um eine humanitäre Krise handelt. Ruby Chen erläuterte auch seine Anliegen, die er jüngst bei der UN vorgebracht hatte, nämlich der eigenen Resolution 2474 zu folgen, mit der sich die Weltgemeinschaft zur Rückführung von sterblichen Überresten verpflichtet hat. Er schilderte auch eindringlich, welche Bedeutung es für ihn persönlich und seine Familie hat.
Zum Ende betonte Chanan Cohen, dass der Kampf gegen Hamas ein Kampf nicht nur für Israel, sondern für den ganzen Westen ist.
Im Nachgang des Treffens soll eine kurze Liste von klaren Forderungen an die deutsche Politik verfasst werden. Diese sollen dann weit verbreitet werden, zusammen mit dem Plakat „Deutsche Hamas Geiseln“.