Auf dem Sofa

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Mein freier Tag: Ich sitze auf dem Sofa, kuschle mich in die Kissen. In der Hand halte ich meine Tasse frisch und heiß dampfenden Kaffee und beschließe, es mir heute einmal gut gehen zu lassen. Draußen scheint die Sonne, der Hund liegt gelangweilt im Körbchen, uns interessiert das Wetter heute beide nicht.

Von Eva M. Grünewald

Mir gegenüber auf dem Sofa sitzt ein Junge. Lässig hat er seine Beine übereinandergeschlagen, lächelt zufrieden, stolz. In seinem Blick liegt etwas, das mir sagt: Er weiß, dass er wirklich etwas Besonderes ist. In seiner linken Armbeuge, ebenfalls lässig, ein gläsernes, glitzerndes Mikrofon.

Das darf er so selbstverständlich-stolz dort liegen haben, denn in einer vergangenen Nacht hat er die Jurys überzeugt, so sagt mir ein An-Moderator, mit seiner hohen Stimme. Er „erhält die nötigen Stimmen des Publikums“. Geschickt formuliert, denke ich. Die nötigen Stimmen, keinesfalls die meisten. Nicht einmal annähernd. Hat dem Jungen jemand gesagt, dass das Publikum nicht ihn auf den ersten Platz gewählt hat, sondern allenfalls auf Platz 4 oder 5?

Aber sicher: Er hat eine besonders hohe Stimme, er, der beste europäische Sänger. Er erzählt von seinen explodierenden WhatsApp und Instagram-Kanälen, von seinem Team, das ihn schützt, von all der Liebe, die ihm zuteilwird. Ihm, dem besten Sänger Europas. Selbstzufrieden drückt er die Brust durch, richtet sich auf, kreist mit seiner rechten beringten Hand, reckt sein Kinn empor. Knapp fünf Minuten Sendezeit erhält er, mitsamt der musikalischen Einspieler ist dann alles gesagt. Mehr als alles. Lachend sitzen Moderator und Moderatorin ihm gegen über auf der anderen Seite des grauen Ecksofas.

Ich sitze auf meinem grauen Ecksofa und trinke meinen Kaffee. Auf der anderen Seite des Bildschirms.

Mein Handy brummt. Ich schalte den Fernseher stumm und schaue in meine WhatsApp-Gruppen. Sie laufen sich warm. Ich erhalte Links und Artikel: Der Junge im Fernsehen fordert, dass Israel vom ESC ausgeschlossen wird. Wie gut, dass der Junge mit der hohen Stimme auch eine hohe Moral hat, dass er nun sagen kann, was richtig und wichtig ist, was in der Welt geschehen soll. Dass die Zeitungen es schreiben, ihm Gewicht geben – und Stimme. Er sitzt auf diesem Sofa und ist stolz auf seine Leistung, freut sich, dass seine Social Media Accounts explodiert sind, die Welt freut sich, seine helle Stimme zu hören, wenn sie fordert, Israel auszuschließen.

Woanders auf der Welt sitzt ein Junge seines Alters in der Dunkelheit, zig Meter unter der Erde in einem Tunnel. Wenn er noch sitzen kann. Seit 600 Tagen und Nächten kann die Welt seiner Mutter dabei zuschauen, wie sie um ihn kämpft, um sein Leben.

Ich sitze auf meinem Sofa, der Kaffee ist leer, auf Instagram höre ich ihre heisere Stimme, wenn sie um das Leben ihres Kindes schreit. Den öffentlich-rechtlichen Sendern ist sie keine Minute wert.

Diese Frau, die um das Leben ihres Kindes kämpft, deren Augenringe tiefer werden, die zusehends weniger und weniger wird. Mit ihrem Kind zu verschwinden scheint. Ihre Stimme ist heiser und wird immer heiserer, leiser, kaum noch gehört. Doch sie kämpft wie eine Löwin um ihr Kind und die Welt könnte auch diese Stimme hören.

Wenn die Welt wollte.

Ich sitze auf meinem Sofa. Schaue diesem strahlenden Jungen auf dem Sofa im Fernsehen zu, lese in meinen WhatsApp Nachrichten, dass in Washington ein jüdisches Paar erschossen wurde. Der junge Mann, fast noch ein Junge, der in Deutschland lebte, nun Teilnehmer einer Veranstaltung für den Frieden in einem Museum in Washington.

Und dann die Stimmen, die sich freuen. Die sagen, dass Israel an diesem Doppelmord schuld ist. Die auf den Straßen feiern. Und immer wieder das Bild dieses lächelnden Jungen auf dem Sofa, der singen kann und politische Forderungen in die Welt dröhnt.

Meine Tochter kommt von der Schule nach Hause. Heute ist der große Tag. Monate hat sie mit uns gestritten und dafür gekämpft, Instagram zu bekommen. Alle ihre Freunde haben es, nur sie nicht. Auch sie wünscht sich eine Stimme in dieser virtuellen Welt, in der sich die Freunde tummeln.

Gemeinsam sitzen wir auf dem Sofa und richten ihr Profil ein, wählen ein Foto, auf dem sie nicht zu erkennen ist. Und dann sucht sie, sammelt sie. Freunde fragen an, wollen ihr folgen. Sie überlegt, wer darf ihr folgen, wem will sie folgen? Kennt sie die Person überhaupt? Will sie nur Stimm-Vieh-Follower sein oder Kontakt haben? Welche Dilemmata diese Welt so birgt. So lange hat sie dafür gestritten und argumentiert und jetzt strahlt sie.

Für einen Moment.

Plötzlich dann wirft sie ihr Smartphone in die Sofaecke, sich selbst in die andere und weint. Nein, schluchzt. Laut schluchzt sie, während ihr ganzer Körper bebt. Ich lege die Hand auf ihre Schulter und bekomme Angst. Was ist passiert? Was hat sie gesehen?

Mach das weg, Mama, lösch Instagram, ich will das nicht. Was hat sie gesehen? Ich denke an die schrecklichen Bilder der Geiseln, die Filme der Terroristen vom 7. Oktober, von ermordeten Familien, verbrannten Häusern. Was hat sie nur gesehen?

Dann sagt sie: Omar Rudberg. Der schwedische Sänger, den sie seit einem Jahr verehrt. Der die Hauptrolle in einer Fernsehserie gespielt hat, in der es um ein homosexuelles Paar geht. Dessen Musik sie liebt, dessen Tanzstil sie kopiert, dessen Schauspiel sie zu Tränen rührt. Noch so ein Junge mit einer Stimme.

Warum bin ich nicht überrascht.

Ich schaue auf Instagram. Auch er will das Traumland der Terroristen befreien. Am Tag, nach dem ein Doppelmord an Juden in den USA die moralischen Stimmen dieser Welt in Begeisterungsstürmen dröhnen lässt, fordert auch er unseren Tod. Genau das versteht sie.

Wie ein Baby liegt sie mit dem Kopf in meinem Schoß und weint bitterlich. Weint und weint und weint. Ich streichle ihren Rücken, kraule ihren Kopf und wünschte, ich hätte Worte. Wünschte, es gebe einen Trost. Vor Jahren haben wir einmal beschlossen, es bei ihrem ersten Liebeskummer so zu machen wie Lorelay und Rory. Mit Pizzataxi, Asiataxi, indischen und mexikanischen Food-Taxis und ganz viel Eis. Doch das hier ist schlimmer.

Sie liegt in meinem Schoß, und mir fehlen die Worte. Ich versuche mich mit schlechten Witzen und wütenden Sprüchen, soll er doch mal ein Konzert in Gaza geben, so etwas. Halt den Mund, Mama. Stimmt. Das ist nicht lustig. Andere Mütter haben auch schöne Söhne, kommt mir in den Sinn. Doch dann muss ich an die Mutter denken, die um das Leben ihres Sohnes kämpft und fühle mich nur noch hilflos, traurig, verzweifelt.

„Es tut so weh“, sagt sie. Ich weiß, was sie meint. Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind zum ersten Mal Fotos aus Auschwitz sah, wie ich verstand, dass die Frau auf dem Foto in unserem Flur, meine Großtante, einer dieser Körper auf den Leichenbergen in meinem Geschichtsbuch sein könnte, wie ich mich fühlte, als ich die Hakenkreuze an den Straßenecken sah. Als zum ersten Mal jemand zu mir sagte: Was ihr mit den Palästinensern macht, ist auch nicht besser.

Ich verstehe, wie sie sich fühlt. Doch ich möchte es ändern, ich möchte sie festhalten, möchte, dass es ihr nicht mehr so weh tut. Ihr Handy piept wieder und wieder. Freunde aus der realen Welt möchten in ihre digitale Blase. Ein Freund aus Fleisch und Blut meldet sich. Ich schlage vor, mit ihm zu sprechen. Vielleicht hat ein Junge ihres Alters Trost. Vielleicht weiß er, was hilft.

Nein. Sagt sie, nein. Dann muss ich ihm sagen, wer ich bin.

Ein Freund: seit Monaten, vielleicht seit Jahren eines wirklich sehr jungen Lebens. Doch er weiß nicht, wer sie ist. Denen, die ihr am nächsten sind, kann sie nicht anvertrauen, wer sie ist.

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Mir bleibt nur, ihre Hand zu drücken, ihren Rücken zu streicheln, ihren Kopf zu kraulen, sie festzuhalten. Ich weiß: Eine andere Mutter würde den Kopf schütteln über meine Gedanken, über meine Traurigkeit. Würde sich so etwas wünschen.

Mama, warum weinst du? Sagt mein Kind. Und ich halte sie einfach so fest, wie ich irgend kann. Ich sage nichts. Wir sitzen schweigend auf unserem Sofa, ich halte sie fest, streichle sie. Wir schweigen. Irgendwann schläft sie ein.