Der vorliegende Beitrag erschien im April 1937 in der von Julius Goldstein herausgegebenen Zeitschrift „Der Morgen“, die ein breites Themenspektrum aus aufgeklärt-orthodoxer Sicht bediente. Autor ist der 1902 in Stuttgart geborene Literaturwissenschaftler Hans Bach. Bach konnte 1939 emigrieren und starb 1977 in London. Der Text widmet sich dem Aphikoman an Pessach, das Bach als „Bekenntnis zum dürftigen, nackten, gefährdeten Dasein, zu der Nüchternheit, die das äußere Gewand innerer Freiheit ist“ bezeichnet.
Symbolisches Handeln
Hans Bach
Erschienen in: Der Morgen, 13, Heft 1, April 1937
Nach dem festlichen Mahl der Peßachfeier, bevor man den Tischdank beginnt, teilt der Hausherr jedem Mitglied der Tafelrunde ein Stückchen Mazza zu, Aphikoman, Nachtisch genannt. Der Volksbrauch hebt seine Bedeutung dadurch hervor, daß der Hausherr, gelang es den Kindern, die Mazza unbemerkt wegzunehmen, sie durch das Versprechen eines Geschenkes auslösen muß; der Aberglaube benutzt im Jahreslauf ein Stück davon als Talisman gegen Feuersnot. Wort und Gebrauch sind griechisch, wie denn griechische Sitte nachwirkt in der Vorschrift, zur linken Seite an Polster gelehnt den Wein zu trinken: liegend, auf den linken Unterarm gestützt nahmen die Griechen ihre Mahlzeit ein, nur Sklaven saßen beim Essen. Doch ein griechisches Dessert sieht ganz anders aus. Das „Gelage“, sei es durch noch so geistvolle Gespräche veredelt, geht in scharfen Trinkzwang über und mündet in sinnloser Trunkenheit; man mag es am Schluß von Platons ‚Gastmahl‘ nachlesen. Erst gegen diesen Hintergrund gehalten gewinnt der jüdische Brauch seinen eigentlichen Sinn: auch dem Peßachmahl fehlen die befreienden Kräfte des Weines nicht, doch an die Stelle des Rausches tritt ein kleines Stück Brot, ein dürftiger und nüchterner Ersatz. Es ist jenes „Brot des Elends“, das in der Hast des Aufbruchs zur Freiheit nicht ausgären konnte, ist das Symbol der Befreiung selbst: nun, als Aphikoman genossen, wird es ein Zeichen der Absage an die damalige Hochzivilisation, ein Bekenntnis zum dürftigen, nackten, gefährdeten Dasein, zu der Nüchternheit, die das äußere Gewand innerer Freiheit ist. Nur ein Stückchen Brot wird gegessen; sitzend. Es gibt eine stumme, sprechende Antwort.
So schlicht diese Geste war, so sinnfällig ihr Symbolgehalt die langen Jahrhunderte hindurch, in denen Juden in hellenistischer Kulturumgebung lebten. Dann sank der Brauch, durch die Ordnung des Festes bewahrt, zur sinnlosen Gewohnheit herab, zum Kinderspiel, zum Aberglauben. Der Sinn ist verstummt, doch nicht unter Massen historischen Schuttes vergraben und unverbogen. Man braucht nur daran zu rühren, und er spricht verständlich wie je, verständlicher sogar als die Stücke gleich alter Gelehrtenweisheit, die die Peßach-Haggada ebenfalls bewahrt. Methodische Deutungskunst ist dem Wandel der Zeit unterworfen; eine Haltung, in einer Handlung ausgedrückt, überdauert den Wechsel.
Eine Menge von Symbolen umgibt uns; von der Kraft zu solchem im Einfachen bedeutungsvollen Handeln ist im heutigen Leben wenig übrig geblieben. Dem Tod gegenüber gelingt es allenfalls noch, in dem Grabmal des Unbekannten Soldaten, in der einen Minute Verkehrsstille zum Gedenken an einen großen Mann. In Indien hat Gandhi Ähnliches versucht, als er die Handspindel zum Zeichen gewaltlosen Kampfes gegen die Einführung englischer Waren erhob; doch er setzte die Rückkehr zum primitiveren Werkzeug nicht durch, seine Spindel wurde zum Emblem statt zum Symbol, wie der Ritterhelm im Wappen eines Herzogs, der längst Auto fährt.
Uns Juden zieht Gott nicht mehr in einer Feuersäule voran, und wir haben den Schlüssel verloren, der ein Leben unter dem Joch des Gesetzes mühevoll, doch sinnvoll machte, und leicht die Entscheidung zwischen Gut und Böse. Religiöse Genies, die ihre Generation und die nachkommenden wieder glauben lehren, sind so selten wie die der Kunst oder Politik. In den letzten Jahren waren Manche bereit, ihr Judentum aus der Rumpelkammer zu holen und gutwillig zuzusehen, was sich nun damit anfangen ließe. Sie haben in Vorträgen, in Büchern, in den Arbeitsgemeinschaften der Lehrhäuser vielerlei an Geschichte und Brauchtum, an Lehre und Sprache gelernt. Diese Arbeit ist nicht verloren und doch auch nicht geglückt; der ruhige Mut, mit dem man sie begann, war vielfach nicht zäh genug, den Wust alten Stoffes zu durchdringen, das Lebendige vom Verblichenen zu sondern, den wirksamen Kern so zu verdichten, daß man ihn in den eignen Alltag hinüberretten konnte. Man wollte Judentum nicht gerade, wie jener Heide, der zu Hillel kam, erklärt haben, solange man auf einem Beine stehen könne, doch wollte man auch nicht sein weiteres Leben ans Lernen wenden. Man brauchte eine Antwort auf die alte Menschenfrage: Was soll ich tun? Man erhielt schnellfertige Bescheide frisch vom Grill, sie schmeckten nur, solange sie heiß waren; andere, zögernde fand man zu schwer verdaulich. Das Ergebnis ist, vielerorts, Ermüdung und Überdruß.
Es ist leicht, dagegen zu schelten, schwer zu bessern. Antworten für den Augenblick sind in der nächsten Minute wertlos. Vernehmlich rauschen die ehernen Schwingen der Zeit, nur regen sie sich im Nebel. Seit langem war die Welt nicht so undurchsichtig, obschon „dahinten weit in der Türkei“ in ein paar Flugstunden zu erreichen ist. In Japan steht die europäische Kultur zur Diskussion, in Indien wird es sich vielleicht entscheiden, ob die Großmächte Kolonien behalten, in Spanien, wie die Zukunft von Millionenmassen sich inhaltlich bestimmt. Vom sicheren Hafen aus ließe sichs gemütlich abwarten; wer das brausende Meer befahren muß, braucht einen Kompaß. Das Schicksal jüdischer Massen in Polen ist drohend und unbestimmt; und werden Menschen in Südafrika, zeitweilig und scheinbar endgültig aufgenommen, wieder weiterziehen müssen?
Die Antworten der Religion sind Leuchtfeuer zu ewigen Zielen; die augenblickliche Richtung zeigen sie nur dem, der Strömung, Luftwiderstand und Abtrift selbst abschätzen kann. Das ist ein schwieriges und langwieriges Geschäft, wenn man seiner seit langem entwöhnt ist, und bis man es wieder beherrscht, mögen viele der Boote schon gestrandet sein. Soll es also keine vorläufige Antwort geben für die, welche an den Messias glauben möchten, inzwischen jedoch nicht wissen, was der Tag ihnen bringt?
In der Gemara steht der Satz: „Jeder soll sprechen: Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden.“ Las das ein Mensch des vorigen Jahrhunderts, so fühlte er es eigens für sich geschrieben. Das Leben war damals auch nicht leicht. Von der Religion hielt er nur einiges Moralische, doch als aufgeklärter Mann glaubte er an die Ideen des Guten, Wahren und Schönen, an den Wert der Bildung, an die Sicherheit der Wissenschaft, an die Dauerhaftigkeit des Kurses der Renten und vor allem an sich selbst. „Jeder soll sprechen: Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden.“ Was sagen wir dazu? Unsere Erfahrung würde uns raten, ein verblüfftes Gesicht zu machen und trübe zu lächeln; und doch bleibt von diesem Satze etwas zurück, das geradewegs wärmt, strafft, aufrechter gehen, mutiger denken läßt.
Judentum ist Religion und fordert Glauben, ist Gedankengebäude und fordert Denken, ist Haltung und fordert — Handeln. Man braucht es nicht zu säkularisieren, weil es nie „geistlich“ war; man könnte das auch nicht, weil es in dieser Welt, eben wie sie ist, stehen, leben, wirken will. Man hat ihm vor lauter Vergeistigung zu sehr den Körper genommen. Doch in antiker Unschuld hat das Judentum, wie Sokrates, immer an der Ansicht festgehalten, daß Tun zum Denken, Denken zum Glauben führt, nicht umgekehrt. Und das ist, gegen alle Skepsis, wahr. Schwerlich wird es je eine jüdische Erziehung ohne Religion geben, soviel an dem Überlieferten neu zu sehen, vielleicht — wissen wir es? — weiterhin unverstanden mitzuschleppen oder abzulegen ist. ln solchen Zügen, die eine Haltung ausdrücken, vor aller Meinung, vor allem Glauben, gibt es jedoch jüdische Erziehung vor der Religion. Es ist das echtere Judentum, schlichter, einfacher, alltäglicher, wirksamer. Zwar ist es auch nicht greifbar, auch nicht lehrbar, solange man auf einem Fuße steht. Doch schon seine kleinsten Züge lassen durchscheinend ins Innere sehen. Hier lockt ein Ziel, weil ein Weg führt. Jene einfache, bedeutungsschwere Geste des Aphikoman ist ein Weg.