Ein Buch reist und erzählt (eine) Geschichte
Von Peter Hopfinger
Dies ist eine erstaunliche Geschichte; eine Geschichte, die sich wie viele Geschichten aus mehreren auf den ersten Blick nicht zusammenhängenden Ereignissen und Fakten zusammensetzt.
Zunächst einmal ist hier eine E-Mail an Mark Isenberg, ein Urenkel von Rudolf Sternheim in den USA, in der ich ihm eine kurze Version der Geschichte erzähle:
„Hallo Mark
Dies ist eine Geschichte, die sich über 80 Jahre hinzieht. Wie alle guten Geschichten hat sie einige überraschende Wendungen und sogar ein Happy End, auch wenn der Anfang und andere Teile der Geschichte schrecklich traurig und tragisch sind.
Tante Vera Löw, geborene Perlitz, war das einzige Mitglied unserer Familie und unseres Bekanntenkreises, das die Konzentrationslager überlebte. Als mein Vater 1947 mit einer militärischen Reisegenehmigung aus England nach Wien zurückkehren konnte, war Tante Vera die einzige Person, die er lebend vorfand. Sie wurde im Mai 1945 von russischen Truppen aus Theresienstadt (Terezín) befreit. Daraufhin kehrte sie in ihre Heimatstadt Wien zurück. Wie in unserer eigenen Familie überlebte keiner ihrer Angehörigen die Shoah. Meine Eltern hatten in England überlebt, wo ich 1945 geboren wurde. Im Laufe der Jahre wurden die Besuche von Tante Vera in unserem Haus in England zu einem regelmäßigen Ereignis.
Machen wir einen Sprung ins Jahr 1970. Damals zog ich nach München, um dort zu arbeiten, und begann, Tante Vera regelmäßig in ihrem Haus in Baden bei Wien zu besuchen. Nach manch einem unserer vielen Opernbesuche in Wien begann sie – aber stets erst nach ein oder zwei Gläsern Wein – über ihre schrecklichen Erlebnisse in Theresienstadt zu sprechen, wobei sie außer ihrer Familie nie Namen nannte. Obwohl sie der liberalen jüdischen Gemeinde angehörte, war sie eher säkular als religiös. Zu keinem Zeitpunkt erwähnte sie den Siddur Ihres Urgroßvaters oder wie er in ihren Besitz kam. Tante Vera ist zusammen mit ihrem Vater auf dem Zentralfriedhof in Wien begraben.
Als sie 1996 im Alter von 94 Jahren starb, fiel es mir als Erbe zu, ihr Haus zu räumen. Es gab mehrere Siddurim. Einige waren ziemlich ramponiert. Diese habe ich vor einigen Jahren „Ohel Jakob“, der jüdischen Gemeinde München, anvertraut. Die anderen, die sich in einem besserem Zustand befanden, wanderten in meinen Bücherschrank.
Vor ein paar Wochen dann kam unsere Großnichte Tal mit ihrem Großvater, meinem Schwager, zu Besuch. Als sie die Mesusah in unserem Eingang bemerkte, fragte ich sie, ob sie Hebräisch lesen könne. Sie war in der Lage, den Abschnitt der Torah zu lesen und zu erkennen. Im Laufe des Abends zeigte ich ihr einige der Bücher und Siddurim, die Tante Vera uns vermacht hatte. Dabei fiel uns auf, dass in einem Siddur der Name Ihres Urgroßvaters stand. Sie versicherte mir, dass ihre Mutter und sie in Yad Vashem und anderen Datenbanken nach dem Namen Ihres Urgroßvaters suchen würden und nahm den Siddur mit sich.
Ohne es zu wissen, brachte sie so den Siddur zu einem Ort, der nur ca. eine Autostunde von Bensheim entfernt liegt. Ganz in die Nähe des Ortes, wo die Deportation Ihrer Urgroßeltern 1942 ihren traurigen Anfang nahm. Es scheint, als wären wir alle unwissende Helfer, die dem Siddur ermöglichen, nach Hause zu kommen.
Es ist wunderbar, dass Alexandra und Tal Sie ausfindig machen und kontaktieren konnten. Es ist mehr als verständlich, dass Sie den Siddur gerne wieder in Ihrer Familie haben möchten. Alexandra hat mir erzählt, dass es in Bensheim Stolpersteine für Ihre Urgroßeltern gibt. Es wäre schön, wenn wir diesen Fund der örtlichen jüdischen Gemeinde, die die Steine gesetzt hat, mitteilen und sie über die Rückgabe des Siddurs informieren könnten. Darüber hinaus würde ich es Ihnen, Tal und Alexandra überlassen, herauszufinden, wie Sie den Siddur am besten an Ihre Familie zurückgeben können“.
Wie der Zufall den Lauf von scheinbar unverbundenen Leben verändern kann! Diese E-Mail war der Beginn einer Geschichte, die wie ein Stein, der in einen Teich geworfen wird, Wellen schlug. Solche Wellen können ungeahnte Auswirkungen haben. Auswirkungen auf Menschen und sogar Orte zu einer bestimmten Zeit.
Als ich 1996 Erbe des Nachlasses von Tante Vera wurde, erbte ich ein Haus voller Gegenstände und Erinnerungsstücke. Darunter mehrere jüdische Gebetsbücher, im Hebräischen Siddurim genannt. Diese Siddurim verblieben die nächsten Jahre in meinem Bücherregal. Irgendwann stellte ich beim Durchsehen der Gebetbücher fest, dass einige von ihnen beschädigt und schäbig waren. Ich sortierte sie aus und übergab sie nach jüdischem Brauch der jüdischen Gemeinde in München, „Ohel Jakob“. Mir wurde gesagt, dass diese Bücher archiviert oder, wenn sie zu sehr abgenutzt und beschädigt sind, nach dem Brauch begraben werden würden.
Im Herbst 2024, etwa 28 Jahre nach dem Tod von Tante Vera, nahm die Geschichte eine neue Wendung.
Mein Schwager Peter übernachtete mit seiner Enkelin Tal bei uns, um ein Kanu für sie abzuholen. Nach dem Abendessen frage ich Tal, die sich im traditionellen Judentum auskennt, ob sie den Segensspruch in der Mesusah lesen und identifizieren könne, die ich 1996 von meiner Tante Vera geerbt habe und die seither in der Eingangshalle unseres Hauses hängt.
Ohne zu zögern kann Tal uns sagen, welcher Abschnitt der Torah unser Haus und alle,
die hier ein- und ausgehen, in den letzten 28 Jahren gesegnet hat. Deuteronomium
6:4 „Der Herr ist unser Gott, der Herr allein“. Und so lange steht auch dieser Siddur schon in unserem Bücherregal.
Beeindruckt von Tals Fähigkeit, Hebräisch zu lesen, beschloss ich, dass es nun an der Zeit war, zwei der Bücher aus Veras Nachlass an Tal als den nächsten Hüter weiterzugeben. Obwohl ich diese Bücher fast 30 Jahre lang aufbewahrt hatte, hatte ich sie mir als säkularer Jude nie genauer angesehen. Zusammen mit Tal begannen ich nun, in einem Siddur mit elegantem Einband und Verschluss zu blättern. Auf dem Vorsatzblatt fiel uns ein handgeschriebener Name auf: „Rudolf Israel Sternheim“ – ein Name, den ich noch nie gesehen und von dem ich noch nie gehört hatte.

Der zweite Vorname Israel wurde in der Zeit der Judenverfolgung unter dem Hitler-Regime verwendet. Alle männlichen Personen, die nach dem Nürnberger Rassengesetz als Juden galten, waren verpflichtet, sich mit diesem Namen zu registrieren, ebenso wie alle Frauen gezwungen wurden, den zweiten Vornamen Sarah anzunehmen. So mussten sie sich bei der Polizei oder anderen Behörden als Juden zu erkennen geben. Aber einige Juden sahen darin auch die Ehrennamen, die sie nach der jüdischen Tradition waren, und sie verwendeten sie so den Nazis zum Trotz. Auch Rudolfs Sohn Hans, der nach Amerika entkommen konnte, legte den Namen „Israel“ nie mehr ab.
1942 wurde Tante Vera mit ihrer Familie von Wien nach Theresienstadt deportiert, einem Ghetto und Konzentrationslager in der Nähe von Prag. Das Konzentrationslager Theresienstadt war ein Durchgangslager nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager. Die andere Funktion von Theresienstadt, ursprünglich ein Kasernenkomplex, war als „Schaulager“ zu dienen, zu dem das Internationale Rote Kreuz begrenzt Zugang hatte. Das Naziregime wollte damit beweisen, dass es sich bei dem Deportationsprogramm für Juden um eine „humanitäre Aktion“ zur Umsiedlung der Juden in Osteuropa handelte.
Bis auf Hugo Perlitz, Tante Veras Vater, der schon 1937 verstorben war, wurde ihre gesamte Familie deportiert: Tante Vera wurde zusammen mit ihrem Mann Maximillian Löw und ihrer Mutter Ester aus Wien deportiert; ihr Bruder Ferry (Ferdinand), seine Frau Trude und die Kinder Inka (Elisabeth) und Jan aus Prag.
Das Foto zeigt die Familie Perlitz / Löw im Garten ihres Hauses in Baden bei Wien im Jahr 1937. Tante Vera steht rechts hinter ihrem Vater, der vor der Deportation der Familie starb. Ihr Mann Max neben ihr.
Die Skurrilität und Tragik wird durch das Schicksal des kleinen Terriers unterstrichen. Es war der Hund von Tante Vera. Er wurde wie der Rest des Hausrats behandelt: konfisziert und arisiert.
Die Geschichte, was mit Vera, ihrer Mutter und ihrem Mann geschah, als sie in Theresienstadt ankamen, basiert auf Gesprächen, die ich im Laufe der Jahre mit Vera führte. Sie verliefen immer nach demselben Muster. Nachdem ich am Freitagabend nach der Arbeit von München nach Baden gekommen war, fuhren wir am Samstag nach Wien und gingen dort in die Oper. Nach der Aufführung ging es wieder zurück nach Baden. Bei Vera zu Hause bereiteten wir ein kaltes Abendessen zu.
Vera, die selten trank, trank zwei oder drei Gläser Rotwein. Erst dann fühlte sie sich entspannt und frei genug, um über ihre Erlebnisse in Theresienstadt zu sprechen. Das Trauma, das sie erlitten hatte und das sie für den Rest ihres Lebens prägte, erlaubte es ihr nur bruchstückhaft zu erzählen. Sie wiederholte sich oft. Manchmal an einem Abend und regelmäßig bei meinen Besuchen über viele Jahre hinweg.
Vera wurde am 09.10.1942 mit ihrem Mann Max und ihrer Mutter Ester nach Theresienstadt deportiert. Zum Zeitpunkt der Deportation war ihre Mutter mit 73 Jahren schon eine Seniorin und ihr Mann bereits schwer traumatisiert. Wie viele jüdische Männer war er nach der „Reichsprogromnacht“ am 09.11.1938 verhaftet worden. Er wurde in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Nach sechs Wochen wurde er entlassen und als gebrochener Mann nach Wien zurückgeschickt. Alles, was mir Tante Vera dazu erzählte, war, dass er nicht einmal mehr in der Lage war, sich selbst die Zähne zu putzen. Bis zu seiner Verhaftung war er Lehrer, der möglicherweise ab April 1938 oder sogar noch früher mit einem Berufsverbot belegt wurde.
Im Herbst 1942 sind die Zustände in Theresienstadt katastrophal; mehr als 56.000 Menschen sind auf 700 m x 500 m eingesperrt; es herrschen Hunger und Krankheiten. Vera Löw gelingt es trotzdem, ihre Mutter und ihren Mann zu schützen, aber sie erzählte nie auf welche Weise. Die Nazis schicken viele Menschen auf Transporte in den Tod, das „reduziert“ zwar die Überbevölkerung, doch führt dies genauso wenig zu einer Verbesserung der Zustände wie der Großputz vor dem Besuch des Roten Kreuzes und dem Drehen eines Propagandafilms Mitte 1944. Für diejenigen, die in Theresienstadt nicht sterben, ist das Lager eine Durchgangstation beim Transport in die Vernichtung. Am 9.10.1944 trifft dies schließlich auch Veras Mann und kurz darauf am 23.10.1944 ihre Mutter. Es ist der letzte Monat in dem Transporte nach Osten geschickt werden; es ist der vorletzte Transport, der ihr auch die Mutter nimmt. Vera bleibt ohne Familie in Theresienstadt zurück.
Veras Bruder Ferry, seiner Frau Trude und ihre Kinder Jan und Inka (Elisabeth) wurden von Prag schon am 02.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, von dort am 08.09.1942 nach Maly Trostinez verbracht und direkt nach Ankunft ermordet. Möge die Erinnerung an sie ein Segen sein.
Vera überlebte bis zur Befreiung Theresienstadts durch die russische Armee im Mai 1945. Wie viele traumatisierte Überlebende der Shoah sprach Vera nie über ihre Zeit im Ghetto Theresienstadt oder wie sie befreit wurde und nach Wien zurückkehrte. Sie sprach aber darüber, wie sie darum kämpfte, den Familienbesitz in Baden, den ehemaligen Sommersitz der Familie, zurückzuerhalten.
Es dauerte bis 1951, bis die Familie, die das Haus unter der Nazi-Regierung unrechtmäßig in Besitz genommen hatte, per Gerichtsbeschluss zum Auszug gezwungen wurde. Als Tante Vera einzog, hängte sie dieses Relief in der Eingangshalle auf. Es sollte sie und ihre Besucher an ihren Leidensweg erinnern:
Das Relief, das im Lager vor der Befreiung angefertigt wurde, zeigt die Tür des Ghettos geöffnet, einen Wegweiser nach Prag und einen Meilenstein mit der Angabe 60 km. Die junge Frau, die in diese Richtung schreitet, erzählt von der ungebrochenen Sehnsucht frei zu sein.
Wie und wann genau sich Rudolf Sternheim und Vera Löw in Theresienstadt kennengelernt haben, muss unserer Vorstellungskraft überlassen werden. Wir können die Zeit zwischen der Deportation von Rudolf Sternheim und seiner Frau Helene nach Theresienstadt im Jahr 1942 und dem Tod Rudolfs am 29.05.1943, nur wenige Tage nach dem Tod seiner Frau Helene, ansetzen. Von diesem Zeitpunkt an hatte der Siddur niemanden mehr, der sich um ihn kümmerte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss der Siddur in die Obhut von Vera Löw gekommen sein. Die handschriftliche Inschrift „Rudolf Israel Sternheim“ war der Schlüssel. Ein heute noch existierender Brief beweist, dass die Handschrift wirklich von Rudolf Sternheim stammt.

Die Stolpersteine in der Wilhelmstraße 49 in Bensheim erinnern uns daran, dass dies die Wohnung von Rudolf und Helene Sternheim war, bevor sie am 27.03.1941 in ein „Judenhaus“ in der Hintergasse 17 in Bensheim umziehen mussten. Dies war eine gängige Praxis der Nazis, um Juden ihres Eigentums zu berauben und sie aus der Gesellschaft auszuschließen. Von hier aus wurden sie 1942 über ein „Sammellager“ in Darmstadt in das Konzentrationslager/Ghetto Theresienstadt deportiert, wo beide 1943 starben. In diesem Fall ist „starben“ zweifellos ein Euphemismus für „Mord durch Vernachlässigung“.
Zum Zeitpunkt seiner Deportation nach Theresienstadt war Rudolf Sternheim 68 Jahre alt. In einem Alter also, in dem ein solches Ereignis sein Wohlbefinden und seine Gesundheit sehr wahrscheinlich stark beeinträchtigte. Die Zustände in Theresienstadt können nur als schrecklich bezeichnet werden. Allein die ständige Angst vor der Deportation in den Osten, die bekanntlich ein Todesurteil war, versetzte die Häftlinge in Angst und Schrecken. Die Bedingungen für die Arbeitsfähigen waren grauenhaft. Hohe Arbeitsbelastung, unzureichende Werkzeuge und Kleidung und vor allem Hungerrationen machten das Leben unerträglich. Bis zur Befreiung und auch danach wurden im Ghetto Cholera- und Typhusausbrüche verzeichnet. Dank des Einsatzes des Sanitätskorps der russischen Armee konnte die Epidemie gestoppt werden und die Überlebenden konnten in ihre Heimatstädte zurückkehren. Unter ihnen nimmt Vera Löw den Siddur von Rudolf Sternheim mit sich.

Deportation nach Theresienstadt aufgenommen
Mein Vater Kurt Hopfinger, der im November 1938 im Alter von 17 Jahren zusammen mit seinem 14 Jahre alten Bruder Heinz mit einem „Kindertransport“ aus Wien geflohen war, kehrte 1947 mit einer militärischen Reisegenehmigung nach Wien zurück, um nach Überlebenden zu suchen. Die Familie meiner Mutter war Nachbarin der Familie Hopfinger in Wien. Keines der Mitglieder der beiden Familien, die nach dem November 1938 in Wien geblieben waren, hatte überlebt. Die einzige Person, die Kurt Hopfinger lebend fand, war „Tante“ Vera Löw (geborene Perlitz).
Die Familien Perlitz und Himmler waren Nachbarn und enge Freunde und wohnten in der Ullmannstraße 47 im 15. Bezirk. Ella und Moritz Himmler waren die Tante und der Onkel von Kurt Hopfinger. Kurt Hopfingers Mutter Bertha und Ella Himmler waren Schwestern. Beide wurden nach Maly Trostinez deportiert und bei ihrer Ankunft ermordet.
In den folgenden Jahren wurde Tante Vera zu einer „Adoptivtante“, die uns regelmäßig in England besuchte, wo sich meine Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg niedergelassen hatten. Wir wiederum besuchten sie in den 1950er und 1960er Jahren bei verschiedenen Besuchen meiner Eltern in Wien in ihrem Haus in Baden. Als ich 1970 aus beruflichen Gründen nach München zog, führte eine meiner ersten Reisen nach Wien und Baden, um Tante Vera zu besuchen. Damit begründete ich eine Tradition von regelmäßigen Besuchen. Mit der Zeit wurde ich Teil der Geschichte über das Schicksal von Tante Vera und ihrer Familie in der „Shoah“. Ihre Suche nach ihrer Nichte und ihrem Neffen Inka und Jan Perlitz war ein zentraler Bestandteil ihrer Bemühungen; sie gab die Hoffnung nicht auf, dass ein Wunder geschehen sein und der eine oder andere aus ihrer Familie überlebt haben könnte. Vor allem Jan und Inka, die sie wie eigene Kinder liebte. Sie selbst blieb kinderlos.

Deportation nach Theresienstadt am 09.10.1942 hinweist, und den Vermerk
„Wohnsitzverlegung“. Als ob es sich bei der Inhaftierung in Theresienstadt um eine
freiwillige Verlegung des Wohnsitzes gehandelt hätte. Der Stempel „J“ auf der
linken Seite, weist auf „Jude“ hin.
Es wurde Juni 1980 bis das Rote Kreuz schließlich bestätigte, dass Jan und Inka (Elisabeth) zusammen mit ihren Eltern in Maly Trostinez bei Minsk in Weißrussland ermordet wurden. Nachdem sie am 02.07.1942 von Prag zunächst nach Theresienstadt, dann am 08.09.1942 dorthin deportiert worden waren, wurden sie im Alter von 11 und 8 Jahren in ein Massengrab erschossen – wie etwa 270.000 Menschen, die auf diesem Tötungsfeld ermordet wurden.
Vera Löw brauchte 35 Jahre, um zu akzeptieren, dass ihr Neffe und ihre Nichte von einem Terrorregime ermordet worden waren. Sie verarbeitete ihren Verlust und ihre Trauer, indem sie in der Gegenwart lebte – eine Strategie, die die meisten Überlebenden anwenden, die genug Widerstandskraft haben, um nicht an ihrem Verlust und ihrer Trauer zu zerbrechen.
Nach dem Tod von Vera Löw im Jahr 1996, deren Erbe ich antrat, war meine Reaktion nicht anders. Als Überlebender der zweiten Generation der Shoah habe ich eine vorausschauende und handelnde Lebensstrategie entwickelt. Nach meinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2010 begann ich aber, mich intensiver mit den Schicksalen der Opfer der Shoah in meiner Familie zu beschäftigen.
Meine Schwester Caroline und ich waren zu „Ersatznichte“ und „-neffe“ an Stelle von Jan und Inka Perlitz geworden. Als wir nach dem Tod von Tante Vera im Jahr 1996 erbten, wurde ich unwissentlich Hüter des Siddurs von Rudolf Sternheim. So kam es, dass der Siddur von Rudolf Sternhheim 28 Jahre lang in meinem Bücherschrank ruhte, bis Tal mit ihrem Großvater zu Besuch kam. Da mir klar wurde, dass Tal die nächste Hüterin dieses und anderer Gegenstände sein könnte, bot ich ihr an, dass sie den schön gebundenen Siddur mitnimmt. Da bemerkten wir die Inschrift „Rudolf Israel Sternheim“. Tal erklärt sich bereit, den Siddur mit nach Guntersblum zu nehmen, um mehr über die Inschrift herauszufinden. Auf diese Weise brachte sie den Siddur bis auf 40 km an Bensheim heran, wo die Reise vor ca. 80 Jahren begann.
Tal und ihre Mutter Alexandra begannen zu recherchieren. Das Leo-Baeck-Archiv lieferte die Ergebnisse. Wieder ein Zufall: Ein Urenkel von Helene und Rudolf Sternheim hatte ebenfalls recherchiert und seinen Namen in Verbindung mit Rudolph Sternheim hinterlassen, was Tal und Alexandra einen wichtigen Hinweis und den Kontakt zu Mark Isenberg lieferte.
Alexandra wendet sich an Mark Isenberg. Eine Verbindung entsteht. Ein handschriftlicher Brief von Rudolf Sternberg, der im Leo Baek Institut archiviert ist, bestätigt, dass die Schrift auf dem Vorsatzblatt des Siddur tatsächlich seine Handschrift ist. Datum und Ort des Drucks (1893 in Rödelheim bei Frankfurt am Main) deuten darauf hin, dass der Siddur ein Hochzeitsgeschenk an Rudolf Sternberg war, als er Helen heiratete. Der unwiderlegbare Beweis für die Herkunft des Siddur ist erbracht.
Es ist nicht leicht, sich das Leben in Theresienstadt vor 80 Jahren vorzustellen. Ein Siddur war mit Sicherheit ein wertvoller Besitz. Es ist mehr als sicher, dass Vera Löw und Rudolf Sternheim einander gut genug kannten, um Vera zur Hüterin des Siddur zu machen. Im Jahr 1943, zum Zeitpunkt des Todes von Rudolf, hatte auch Vera ihre Probleme zu überleben und musste versuchen, ihren Mann und ihre Mutter zu beschützen.
Tatsache ist, dass sie den Siddur mitnahm, als sie 1945 Theresienstadt verließ, und ihn zunächst in Wien und dann, als sie 1951 in das Haus der Familie in Baden zog, behielt. Sie hat ihn mir gegenüber nie erwähnt. Sie hatte ihren eigenen Siddur, den sie immer mit auf den Friedhof in Wien nahm, wenn wir die Gräber ihres Vaters Hugo Perlitz und meines Urgroßvaters Simon Simet (Vater von Berta Hopfinger) besuchten, um das Kaddisch zu beten. Nach dem Tod von Vera Löw im Jahr 1996 blieb mir die Aufgabe, das Haus in Baden zu leeren. Es ist nie einfach zu entscheiden, was man behalten oder wegwerfen soll. So säkular Tante Vera in ihrem Judentum auch war, aus Liebe und Respekt habe ich alle Gegenstände, die einen Bezug zum Judentum haben, aufbewahrt, ebenso wie alle Dokumente, die die Verfolgung ihrer Familie bezeugen. Der Siddur von Rudolf Sternheim blieb so in meinem Besitz verborgen bis zu jenem Tag im Oktober 2024, als Tal und ihr Großvater zu Besuch kamen.
Die Reise des „Siddur von Bensheim“ wurde durch einen Kurierdienst abgeschlossen, der ihn kurz vor Channukah, dem Fest des Lichts und der Hoffnung, zu Mark Isenberg und seiner Familie in Wisconsin brachte. Der Siddur war endlich in den Händen der Nachfahren von Rudolf Sternheim aus Bensheim und der Kreis der Geschichte hat sich geschlossen.
Obwohl der Protagonist dieser Geschichte ein Siddur ist, ist dieses Buch ein Symbol für Menschlichkeit und Hoffnung. Heute, 80 Jahre nachdem die unvorstellbare Shoah zur schrecklichen Realität geworden ist – und nach vielen weiteren Kriegen und Gräueltaten – ist die Shoah immer noch der größte Völkermord seit Menschengedenken.
Aber trotz all der Schrecken und des Leids leuchtet immer noch ein Leuchtfeuer der Hoffnung. Ein Leuchtfeuer, das von Menschen gepflegt und getragen wird, die auf Jiddisch „Mensch“ genannt werden. Damit Geschichten wie die, die ich nach bestem Wissen und Gewissen erzählt habe, geschehen und weiterhin geschehen können, solange Menschen zusammenkommen und sich gegenseitig Geschichten von Menschlichkeit und Hoffnung erzählen.