Antisemitismus gegen Israel

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Unterschiedliche Verständnisse von Judenfeindschaft und Praxisimplikationen – Interview mit Thomas Haury

Erschienen in: Elizaveta Firsova-Eckert/Kai E. Schubert (Hrsg.), Israelbezogener Antisemitismus, der Nahostkonflikt und Bildung. Analysen und didaktische Impulse, Opladen 2024 (Verlag Barbara Budrich). Dieses Werk ist beim Verlag Barbara Budrich GmbH erschienen und steht unter der Creative Commons Lizenz Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).

Der Soziologe und Antisemitismusforscher Thomas Haury hat zuletzt in seinem Buch „Antisemitismus gegen Israel“ (mit Klaus Holz, Hamburg 2021) einen Beitrag zur kontroversen Debatte um antisemitische Einstellungen bezüglich Israels vorgelegt. Im vorliegenden Interview stellt er dar, was unter Antisemitismus gegen Israel zu verstehen ist, grenzt seinen konzeptionellen Ansatz von anderen bestehenden Begriffen und Konzepten ab und zieht aus diesem Rahmen pädagogische Schlussfolgerungen für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und dem Nahostkonflikt.

Sie haben im Jahr 2021 zusammen mit Klaus Holz das Buch „Antisemitismus gegen Israel“ veröffentlicht, in welchem Sie die These stark machen, dass israelbezogener Antisemitismus kein scharf abgrenzbares Phänomen beziehungsweise keine singuläre Form des Judenhasses darstelle. Antisemitismus gegen Israel sei daher nicht als eigenständiger Typus von anderen Formen des Antisemitismus zu unterscheiden und auch nicht als „neuer Antisemitismus“ zu identifizieren. Können Sie etwas zu den Hintergründen dieser These sagen und diese für uns weiter ausführen?

Zweifelsohne ist Israel gegenwärtig zu einer bedeutenden Projektionsfläche für Antisemitismus geworden. Doch gegen die häufig geäußerte Auffassung, dies sei ein neuer und eigenständiger Typus von Judenhass, sprechen sowohl historische als auch theoretische Argumente:

Historisch zeigt sich ein Antisemitismus gegen Israel bzw. gegen den Zionismus keineswegs erst seit 20 oder 25 Jahren – er ist vielmehr so alt wie der Zionismus selbst. Schon die ersten Regungen des Zionismus Ende des 19. Jahrhunderts wurden von antisemitischer Seite sogleich misstrauisch registriert und in das antijüdische Weltbild integriert. Zum einen wurde der Zionismus höhnisch begrüßt als willkommene jüdische Mithilfe für die ohnehin vorgesehene „Austreibung der Judenschaft“ aus dem „deutschen Volk“. Zum anderen konnte das zionistische Projekt für ideologisch konsequente Antisemiten, so etwa Eugen Dühring 1901, nur ein weiterer finsterer Schachzug der „hebräischen Schlange“ auf dem Weg zur Weltherrschaft sein. 1922 warnte der NS-Ideologe Alfred Rosenberg, der Zionismus wolle nur ein „neues Aufmarschgebiet für Weltbewucherung“ schaffen. Wenige Jahre später schrieb Adolf Hitler in „Mein Kampf“, die zur Bildung eines „richtigen“ Staats doch gar nicht fähigen Juden planten in Wirklichkeit eine „Organisationszentrale ihrer internationalen Weltbegaunerei“.

Folgerichtig richtete sich der rechtsextreme Antisemitismus nach der Proklamation Israels 1948 nunmehr gegen den jüdischen Staat. Überschriften in der rechtsextremen „Nationalzeitung“ Mitte der 1960er Jahre sahen das „deutsche Volk“ weiterhin „in Israels Schuldknechtschaft“, behaupteten die drohende „Kapitulation vor dem Weltjudentum“, der Zionismus sei der „Feind des Friedens im Mittleren Osten“. In genau dieser Traditionslinie plakatierte die neonazistische Partei „Die Rechte“ im Jahr 2019: „Zionismus stoppen. Israel ist unser Unglück!“

Auch im arabischen Raum entstand schon früh ein antisemitischer Antizionismus; allerdings ist hier die Lage komplexer. Denn hier entwickelte sich, anders als in Europa, mit der zionistischen Besiedlung Palästinas ein bis heute andauernder, immer wieder gewaltsam ausgetragener nationaler Realkonflikt im kolonialen Kontext mit einer zionistisch-jüdisch-israelischen Konfliktpartei. Der seit dem 19. Jahrhundert aus Europa in den arabischen Raum exportierte Antisemitismus, ab Ende der 1930er Jahre auch vom deutschen Nationalsozialismus dort verbreitet, wurde von den dortigen islamistischen wie „sozialistischen“ antikolonial-nationalen Befreiungsbewegungen und Regimen aufgegriffen. Die antisemitischen Muster wurden auf der arabischen Seite zunehmend als Interpretationsfolie verwendet, womit in den Realkonflikt die Dimension des Antisemitismus schwer entwirrbar eingezogen wurde – bis hin zur Hamas, die in ihrer Gründungcharta von 1988 unter Berufung auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ den Juden die „Kontrolle der Weltmedien“, die Anzettelung der beiden Weltkriege und sonst noch alles Mögliche vorwirft. Hier wird ein religiös verbrämter, radikaler nationaler Antisemitismus propagiert. Dieser setzt das „palästinensische Volk“ wie die „islamische Umma“ versus Jüdinnen*Juden, „Weltzionismus“ und Israel, die die verhassten Phänomene der Moderne respektive des „Westens“ verkörpern.

Antisemitismus gegen das soeben gegründete Israel äußerte sich aber auch von linker Seite: Ab Anfang der 1950er Jahre propagierte die spätstalinistische Sowjetunion zur Absicherung ihres Herrschaftsbereichs einen als „Antizionismus“ drapierten Antisemitismus, der eine existentielle Bedrohung der realsozialistischen Staaten durch den US-Imperialismus und seinen „Vasallen“ behauptete. Von außen drohe der Imperialismus mit Krieg und Atombombe, im Innern der kommunistischen Staaten betrieben seine Agenten geschickt getarnte feindliche Zersetzungsarbeit und Sabotage. Als Hauptagenten des „Weltimperialismus“ im Inneren wurden zunehmend als „Zionisten“ bezeichnete Jüdinnen*Juden verfolgt; der „Weltzionismus“ und das erst wenige Jahre zuvor gegründete Israel galten als integraler Teil einer internationalen „zionistisch-imperialistischen“ Verschwörung gegen die „Völker“ der realsozialistischen Staaten. Den Höhepunkt bildete der berüchtigte Prager Schauprozess Ende 1952 gegen den ehemaligen Generalsekretär der tschechoslowakischen KP, Rudolf Slánský. Dieser war, sowie wie auch zehn seiner dreizehn Mitangeklagten, jüdischer Herkunft. Diese „wurzellosen Kosmopoliten“, so der Staatsanwalt, hätten im Dienste Israels und der USA beabsichtigt, das tschechoslowakische Volk der imperialistischen Ausplünderung auszuliefern. Das Gericht sprach elf Todesurteile aus, die sogleich vollstreckt wurden.

Mit Stalins Tod 1953 verebbte diese offen antisemitische Welle. Doch – es war die Zeit der weltweiten Blockkonfrontation – begann Moskau nunmehr mit der politisch-diplomatischen wie militärischen Unterstützung der arabischen Feinde Israels. Insbesondere ab dem Junikrieg 1967 betrieb die UdSSR auch kontinuierlich eine „antizionistische“ Propaganda. Diese wurde mit Lenins Antiimperialismus-Theorie begründet, wies aber auch deutlich antisemitische Ausformulierungen auf. So kritisierte auch die DDR nicht nur Israels Kriegsführung oder seine Enteignungs-, Besatzungs- oder Siedlungspolitik, sondern deutete den Nahostkonflikt innerhalb eines strikten Gut-Böse-Schemas „Weltimperialismus“ versus „Völker“. Israel sei ein bloßer „militärischer Brückenkopf“, die aggressive „Speerspitze des Imperialismus“ zur Unterdrückung der nationalen Unabhängigkeit der arabischen „Völker“. Der Zionismus, so informierte das „Kleine politische Wörterbuch“ der DDR, sei „die chauvinistische Ideologie, das weitverzweigte Organisationssystem und rassistische expansionistische politische Praxis der jüdischen Bourgeoisie, die einen Teil des internationalen Monopolkapitals bildet“. Nicht nur war ständig die Rede von der „imperialistisch-zionistischen Verschwörung“ gegen die „arabischen Völker“: Spätestens ab dem Junikrieg 1967 wurde Israel systematisch dem Nationalsozialismus gleichgesetzt: Die „israelische Wehrmacht“ führe „Blitzkriege“ und würde „Hitlers Politik fortsetzen“. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurde schon damals Israel vorgeworfen, es wolle durch „systematische Vernichtung“, „Ausrottungsfeldzüge“ und „Genozidpolitik“ „die Palästinafrage durch Völkermord lösen“. Und auch Teile der sich revolutionär glaubenden neuen Linken in den westlichen Ländern betrieben die gleiche, antiimperialistisch begründete „antizionistische“ Propaganda, nur noch radikaler. Begeistert verherrlichte man den palästinensischen „Volkskampf“, solidarisierte sich mit terroristisch agierenden palästinensischen Organisationen, setzte penetrant Israel dem Nationalsozialismus gleich und forderte lautstark die „Zerschlagung des zionistischen Gebildes“: „Israel muss weg!“

Der Blick in die Geschichte zeigt: Antisemitismus richtet sich seit rund 130 Jahren gegen den Zionismus und ab 1948 gegen Israel. Der islamisch begründete Antisemitismus entstand schon vor rund einhundert Jahren durch Adaptation des europäischen Antisemitismus. Ein antisemitischer Antizionismus von links zeigt sich seit spätestens Ende der 1960er Jahre, insbesondere bei jenen Gruppierungen, die dichotomem Gut-Böse- wie Täter-Opfer-Denken, verschwörungsideologischen Erklärungen, simplifizierenden Weltbildern und der blinden Identifikation mit „unterdrückten Völkern“ anhängen.

Und welches theoretische Argument spricht gegen die These, der israelbezogene Antisemitismus sei eine eigenständige Form des Antisemitismus?

Antisemitismus lässt sich grundsätzlich charakterisieren als die Konstruktion eines positiven nationalen Selbstbildes durch ein spiegelbildlich dazu entworfenes antijüdisches Feindbild, die beide zu einer antimodernen Weltdeutung zusammenstimmen. Antisemitismus schreibt „den Juden“ hierbei nicht nur alles mögliche Üble zu, er macht sie zum absoluten Feind und Gegenprinzip des „Eigenen“. Gegenüber diesem Bösen wird dann das positive eigene, individuelle und/ oder kollektive Selbstbild aufgebaut – als „deutsches Volk“, „islamische Umma“ oder was auch immer. Daher muss alles Jüdische böse sein, folglich auch der Zionismus und später Israel. Weil sich Israel als jüdischer Staat definiert, muss sich jeder Antisemitismus auch gegen Israel richten und innerhalb der Muster der antisemitischen Weltsicht deuten.

Diesen grundlegenden Zusammenhang verliert die These, der gegenwärtige Antisemitismus gegen Israel sei eine „Umwegkommunikation“, aus dem Blick. Diese These behauptet, infolge des hierzulande bestehenden Tabus, Antisemitismus offen und öffentlich zu äußern, wende sich dieser gegen Israel, weil er sich so besser tarnen und als „Israelkritik“ das Tabu unterlaufen könne. Dies ist, gerade für Deutschland, nicht völlig falsch, aber es verdeckt und vergisst den grundlegenden Zusammenhang: Jeder Antisemitismus muss sich auch gegen Israel wenden. Dies zeigen nicht nur die bereits erwähnten historischen Beispiele Deutsches Kaiserreich, Nationalsozialismus oder Stalinismus, sondern gerade auch ein Blick auf die Gegenwart: Der Antisemitismus gegen Israel ist, international gesehen, heute doch gerade auch in solchen Ländern weit verbreitet, in denen von einem Antisemitismus-Tabu so gut wie keine Rede sein kann.

Wie sind aus Ihrer antisemitismuskritischen Perspektive der siebte Oktober und die auf ihn folgenden Ereignisse zu deuten?

Politisch ist der siebte Oktober (inklusive des Kriegs gegen die Hamas in Gaza) sicherlich überaus bedeutsam für den Konflikt und die Region, auch wenn derzeit kaum vorherzusagen ist, welche verschiedensten Folgen, Entwicklungen und Konstellationen er genau nach sich ziehen wird – sei es in Israel, in den palästinensischen Gebieten, im Nahen Osten und darüber hinaus.

Antisemitismustheoretisch gesehen zeigt sich dagegen nichts genuin Neues. Schon in ihrer Gründungscharta formulierte die Hamas einen radikalen Antisemitismus. Auch wird ein solcher Antisemitismus ja keineswegs allein von der Hamas propagiert, sondern findet sich seit Jahrzehnten beständig in Reden, Predigten, Schriften wie TV-Sendungen im arabischen Raum, wie man etwa beim Middle East Media Research Institute (MEMRI) nachlesen kann. Und auch dass die Hamas und andere bereit sind, ihre Ideologie in mörderische Praxis umzusetzen, ist spätestens seit der sogenannten „zweiten Intifada“ bekannt. Doch trotz dieses Wissens entsetzt das Ausmaß der blutigen Gewaltorgie vom siebten Oktober, ebenso wie die darauf folgende triumphierende massenmediale Verbreitung dieser Realisierung des antijüdischen Vernichtungswillens.

Ähnliches gilt für die weltweiten Reaktionen wie Nicht-Reaktionen auf das Massaker: Beschweigen, Bagatellisieren und Negieren der Gewalttaten wie der hinter ihr stehenden antisemitischen Ideologie bis hin zu einer Legitimierung der mörderischen Gewalt als berechtigter „bewaffneter Widerstand“, während nicht selten gleichzeitig Israel oder gar die israelischen Opfer zu Schuldigen erklärt werden. Die hier sichtbar gewordene ideologische Blindheit, der weltweit aufwallende Hass und Antisemitismus können sprach- und ratlos wie auch wütend machen; doch auch all diese Emotionen, Positionierungen und Rechtsfertigungsstrategien sieht man bereits seit Jahren immer wieder im Gefolge gewaltsamer Auseinandersetzungen respektive Kriegen in der Region.

Recht weite Verbreitung erfahren auch im pädagogischen Diskurs Referenzkonzepte des (israelbezogenen) Antisemitismus wie der „3-D-Test“ oder die IHRA-Arbeitsdefinition.

Die IHRA-Arbeitsdefinition, in die ja auch der 3-D-Test integriert ist, wurde entwickelt, um Polizei, Justiz und anderen Institutionen ein praktikables Instrument an die Hand zu geben, um antisemitische Vorfälle, Aussagen und Straftaten europaweit einigermaßen einheitlich als solche zu erkennen und zu dokumentieren. Doch derzeit denken viele, mittels dieser Instrumente sei, wie bei einem Test zum Ankreuzen, leicht und eindeutig zu bestimmen, ob eine Aussage antisemitisch ist oder nicht; schnell ist man in Politik und Medien, mitunter aber auch in der Wissenschaft, mit entsprechenden Urteilen zur Hand. Diesem Glauben aber widerspricht schon eine prinzipielle Überlegung: Alle (sozialwissenschaftlichen) Definitionen sind abstrakt und allgemein. Und das bedeutet logischerweise: Es gibt immer Fälle, bei denen es grenzwertig, unklar und daher auch strittig ist, ob dieses konkrete Phänomen noch unter die Definition fällt oder nicht.

Der zweite Kritikpunkt an den genannten Definitionsvorschlägen ist, dass zahlreiche ihrer Kriterien nicht trennscharf sind. So nennt der 3-D-Test als hinreichende Kennzeichen von Antisemitismus: Dämonisierung und Delegitimierung von Israel sowie den Gebrauch doppelter moralischer Standards, also besondere Standards zur Bewertung des israelischen Handelns. Doch diese drei „D‘s“ finden sich in zahlreichen, insbesondere gewaltsamen Konfliktkonstellationen. Man denke etwa nur an die jeweiligen Ideologien im Kalten Krieg – Antiimperialismus und Antikommunismus – oder an die Feindpropaganda im gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Die IHRA-Arbeitsdefinition wiederum beginnt mit der sehr allgemeinen Bestimmung, dass sich Antisemitismus gegen Jüdisches richte und nennt eine Reihe unterschiedlicher Beispiele zur Veranschaulichung. Dies ist schon grundsätzlich wissenschaftstheoretisch zu kritisieren: Die Aufzählung von konkreten Besonderungen ergibt keinen Begriff des Allgemeinen. Die Aufzählung einzelner Obstsorten ergibt keine Definition, keinen Begriff von „Obst“.

Zu fragen ist weiterhin: Warum aber gerade diese und nicht andere Beispiele? Bei den in der IHRA-Definition genannten Beispielen ist problematisch, dass die meisten den israelbezogenen Antisemitismus betreffen, während der „klassische“ Antisemitismus eher unterbelichtet bleibt. In der weiteren Entwicklung hat dies dazu geführt, dass viele im Umkehrschluss glauben, eine proisraelische Haltung sei anti-antisemitisch beziehungsweise Ausweis dafür, nicht antisemitisch zu sein. Vor diesem Hintergrund kann etwa Victor Orbán, der klassisch antisemitische Verschwörungsphantasien über die Familie Soros und den „großen Austausch“ verbreitet, sich gleichzeitig aber pro-israelisch positioniert, von Benjamin Netanjahu in Jerusalem empfangen werden.

Und auch den Beispielen der IHRA-Definition mangelt es teilweise an Trennschärfe: So werden das Phantasma einer „jüdischen Weltverschwörung“ oder die Leugnung des Holocausts zurecht als eindeutige Anzeichen für Antisemitismus genannt. Dies gilt jedoch nicht für jede Gleichsetzung Israels oder israelischer Politik mit dem Nationalsozialismus. Derlei Gleichsetzungen sind zweifelsohne häufig antisemitisch motiviert und/oder sollen Deutschland von Schuld entlasten. In innerjüdischen und innerisraelischen Debatten allerdings ist die Gleichsetzung ein immer wieder gebrauchtes Mittel der Skandalisierung und Anklage; in den USA etwa fungiert der Nationalsozialismus oft als eine bloße, gedankenlos gebrauchte Metapher für das Böse. Derlei Gleichsetzungen kann man aus guten Gründen kritisieren – aber antisemitisch sind sie nicht zu nennen.

Kurz: 3-D-Test wie IHRA-Arbeitsdefinition weisen deutliche Schwächen und Mängel auf, gelten aber vielen als sicherer Beleg für Antisemitismus; dabei sollte aber in der politischen Öffentlichkeit wie in den Sozialwissenschaften mit dem politisch wie moralisch gravierenden Vorwurf des Antisemitismus nicht leichtfertig umgegangen werden.

Was unterscheidet ihren konzeptionellen Rahmen von derartigen Zugriffen?

Die IHRA-Arbeitsdefinition und auch der 3-D-Test sind brauchbare heuristische Mittel, um Aussagen herauszufiltern, die mit einiger bis hoher Wahrscheinlichkeit Antisemitismus aufweisen könnten. Doch sie allein genügen für ein fundiertes Urteil oft nicht. Denn wie gerade am Beispiel NS-Gleichsetzung gezeigt, kommt es auf den Gesamtzusammenhang an, in dem diese auftaucht. Erst dieser Sinnzusammenhang verleiht dem einzelnen Stereotyp seine wirkliche Bedeutung und Virulenz. Es kommt also nicht allein auf einzelne Stereotype, sondern insbesondere auch auf die „dahinterliegenden“ Sinnstrukturen an.

Klaus Holz wie auch ich haben versucht, empirisch jene Grundmuster zu bestimmen, die den historischen wie gegenwärtigen Varianten des modernen Antisemitismus gemeinsam sind. Analysiert wurden der „klassische“ Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland wie in Frankreich, der nationalsozialistische Antisemitismus, der islamisierte Antisemitismus, der spätstalinistische wie der antiimperialistische „Antizionismus“ sowie der postnazistische Antisemitismus in der Bundesrepublik, der DDR sowie Österreich.

Was sind die diesen Varianten des modernen Antisemitismus gemeinsamen Grundmuster?

Alle Formen von Antisemitismus zeichnen ein strikt dichotomes Schwarz-Weiß-Bild, in dem „die Juden“ den Part des Bösen, des Täters zugewiesen bekommen, während die behauptete Opfergruppe das rein Gute verkörpern soll. Meist ist hier schon eine Verkehrung von Täter und Opfer mit inbegriffen, da die Taten der Juden erfunden, die antijüdische Aggression aber real ist.

Im Gegensatz „wir“/„die Juden“ verkörpern die Juden die abstrakte moderne Gesellschaft, der gegenüber das Eigenkollektiv als naturgegeben harmonische Abstammungsgemeinschaft gezeichnet wird: Schon damit ist im Antisemitismus eine antimoderne Stoßrichtung konstitutiv eingelassen.

„Die Juden“ stehen für die abgelehnten Phänomene der Moderne, seien dies Kapitalismus, Individualismus, Feminismus, Kommunismus, „großer Austausch“ oder Kolonialismus. Derlei Personalisierung gesellschaftlicher Prozesse führt notwendig zu der Phantasie von einer im Hintergrund ausgeübten, immensen jüdischen Macht in Wirtschaft, Politik und Medien. Wenn die Juden hinter all dem stecken, muss es eine weltweite geheime Verschwörung geben.

Weitere Merkmale sind Ethnifizierung und Ontologisierung: Sowohl „die Juden“ als auch das ihnen gegenüber entworfene Eigenkollektiv werden als „Volk“ mit einem fixen „Wesen“ konstruiert, wobei das „jüdische Wesen“ selbstredend als genuin böse gezeichnet wird.

Doch „die Juden“ sind gleichzeitig aber genau kein normales „Volk“ wie alle anderen, welche sich auf eigene Arbeit, Werte und Kultur gründen. Da die Juden die Moderne verkörpern, sind sie der absolute Feind, der „Feind aller Völker“, der überall deren Werte, Kultur und „Identität“ zersetzen und zerstören will. Die Juden sind im Antisemitismus das „Anti-Volk“, Zerstörer aller „Identität“, „AntiIdentität“. 

Wie würden Sie innerhalb dieser Perspektive bei der Klassifikation von Antisemitismus vorgehen? Können sie bestimmte Facetten von anderen klar trennen oder handelt es sich vielmehr um eine Form eines antisemitischen Weltbildes?

Angesichts der Vielgestaltigkeit von Antisemitismus versuchen unterschiedlichste Typologien und Klassifikationen vermeintliche Klarheit zu schaffen. Doch keine dieser Abgrenzungen funktioniert, immer wird selbst einschränkend festgehalten, dass es überall Überlappungen gibt. Eben dies habe ich ja eingangs am sogenannten israelbezogenen Antisemitismus gezeigt. Er ist kein eigener Typus, sondern im klassischem, im sekundären, im marxistisch-leninistischen wie islamistischen Antisemitismus mit inbegriffen.

Weiterhin müsste eine wissenschaftliche Klassifikation anhand von einem einheitlichen Kriterium erfolgen. Doch kaum eine der Typologien ist in sich konsistent: Wenn etwa unterschieden wird zwischen einem modernen, einem rassistischen, einen sekundären, einem islamistischen und einem israelbezogenen Antisemitismus, so ist das fast jedes Mal ein anderes Abgrenzungskriterium: beim modernen ein zeitlich-historisches; beim rassistischen ist es die Art, wie die Kollektive konstruiert werden; beim sekundären ist es ein zeitlich-länderspezifisches; beim islamistischen ist es die Religion; beim israelbezogenen Antisemitismus wird das Ziel der antijüdischen Aggression zum Kriterium.

Und wenn man „Typen“ klassifiziert, müsste zuerst einmal geklärt sein, was denn das allen Typen Gemeinsame ist. Dieses Allgemeine wird aber bei den meisten Typologien gar nicht weiter expliziert und bleibt im Diffusen. Klaus Holz und ich versuchen dieses Allgemeine mittels der gerade genannten Grundmuster des Antisemitismus fassen. Hiervon ausgehend können dann die verschiedenen Varianten der konkreten Ausformulierung allgemeiner antisemitischer Denkmuster in den Blick genommen werden. Diese können und müssen zwar voneinander getrennt analysiert werden – aber es sind eben keine distinkten, strikt voneinander trennbaren „Typen“, die mit einem starren Schema sinnvoll zu fassen wären.

Kann man antisemitische Facetten unterschiedlichen politischen oder weltanschaulichen Lagern zuordnen, oder bedienen sich Personen unterschiedlicher Gruppierungen des gleichen Kerns antisemitischer Stereotype?

Zur Klärung der Frage nach den unterschiedlichen Varianten von Antisemitismus im Allgemeinen wie innerhalb der verschiedenen politisch-weltanschaulichen Felder im Besonderen ist der Blick auf die konkreten Stereotypen nicht genug. Auch hier sollte man von den Grundmustern des modernen Anti semitismus ausgehen: dichotomes Denken, Täter-Opfer-Umkehr, Entgegensetzung Gemeinschaft/Gesellschaft, personalisierende Verschwörungsphantasmen, Ethnifizierung, Konstruktion der „Juden“ als antagonistischer Feinde aller „Identität“. Die konkreten Ausformulierungen antisemitischen Denkens, die mittels des Zusammenspiels dieser Grundmuster ausgebildet werden können, sind sehr variantenreich. Die relevanten Unterschiede – sei es in der Wahl von „Themen“, deren Gewichtung und konkrete antisemitische Ausdeutung, oder die jeweiligen Modi der Abgrenzung –, sind zum einen geprägt vom jeweiligen Selbstbild, und zum anderen von der konkreten historisch-gesellschaftlichen Situation. Um dies an ein paar der bereits erwähnten Beispiele unvollständig zu skizzieren:

Konservativen und Rechten ab dem Ende des 19. Jahrhunderts galt vieles „Moderne“ in der Gesellschaft – Rechtsgleichheit, Emanzipation der Jüdinnen*Juden, Konkurrenzwirtschaft, Parteienpluralismus, freie Presse, Kritik von Autoritäten, Großstadtleben, Individualisierung, Arbeiterbewegung, Enttraditionalisierung, Frauenemanzipation etc. – als verunsichernd und höchst verabscheuungswürdig. Diesem gegenüber wird als Wunsch-Selbstbild das „Volk“ behauptet: eine quasi-naturgegebene patriarchal-hierarchisch geordnete Abstammungsgemeinschaft, die von all dem existentiell bedroht sei. Hier finden wir den „klassischen“ Weltbild-Antisemitismus Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Er erklärt „die Juden“ zu den schuldigen Verursachern hinter allen abgelehnten Phänomenen der Moderne, die damit alle „Völker“ zersetzen, beherrschen und ausbeuten wollten. Sowohl das „nationale“ Selbstbild „Volk“ als auch der antimoderne Affekt sind bis heute für die Rechte wie deren Antisemitismus konstitutiv, gegenwärtig etwa als Ablehnung von allem „Gender-Gaga“. Der Zionismus wurde von Anfang an abgelehnt, erst recht dann Israel als jüdischer Staat. Da für die Rechte gleichzeitig aber auch der Rassismus, heute insbesondere der antimuslimische, ein zentraler ideologischer Pfeiler ist, ist das Verhältnis zur arabisch-palästinensischen Seite ambivalent, meist wird diese nur wenig thematisiert. Zwar befleißigen sich die rechtspopulistischen Parteien gegenwärtig europaweit eines demonstrativen Pro-Israelismus, um sich so dem Vorwurf des Neofaschismus, Neonazismus und Antisemitismus zu entziehen. Doch sowohl alle Befragungen ihrer Anhängerschaft wie auch die propagierten Verschwörungstheorien, dass „Soros“ und andere „Globalisten“ den „großen Austausch“ planten, belegen die Virulenz eines völkisch geprägtem „nationalen“ Selbstbilds und dem mit diesem korrespondierendem Antisemitismus, der alle der genannten Grundmuster aufweist.

Nach 1945 kann in Deutschland auch das spezielle Faktum, dass hierzulande nach dem Nationalsozialismus, Auschwitz und den anderen Massenverbrechen die Ausbildung einer ungebrochen positiven „nationalen Identität“ kaum noch möglich ist, antisemitisch „erklärt“ werden: Schuld seien die Juden, die mittels ihrer Medienmacht ständig an Auschwitz erinnerten. Die Juden und ihr Staat Israel wollten aus Rachsucht den Deutschen jedes „normale Nationalgefühl“ verwehren, sie politisch gängeln und über Wiedergutmachungsforderungen wirtschaftlich ausplündern. Hier wird nicht die gesamte Welt antisemitisch gedeutet, sondern das spezifisch deutsche Problem einer postnazistischen „nationalen Identität“ antisemitisch bearbeitet mit den genannten Grundmustern. Das Phantasma jüdischer Macht wie das der Ausbeutung durch „die Juden“ und das Stereotyp einer „jüdischen Rachsucht“ werden gemünzt auf das spezifisch deutsche Problem. Und ein weiteres zentrales Grundmuster ist enthalten: Wieder sind „die Juden“ der prinzipielle Feind der „Deutschen“ und deren „Identität“.

Ein ausformulierter Weltbild-Antisemitismus ist – sieht man vom Spätstalinismus ab – bei Linken wenig zu finden. Denn zentrale Elemente linken Denkens wie des linken Selbstbildes – etwa Gleichheitspostulat, Universalismus, Antifaschismus oder die marxsche Ökonomietheorie – stehen dem Antisemitismus entgegen. Auch ist bei Linken das antimoderne Ressentiment in der Regel deutlich geringer, vielmehr stellen Linke ja häufig einen Teil der kulturellen und gesellschaftlichen Avantgarde. Erinnert sei auch daran, dass „die Linke“ in grosso modo, auch angesichts aller Mängel, Schwächen und Gegenbeispiele, den Antisemitismus ablehnte und diesem entgegenzutreten versuchte. Auch stammen viele theoretische Beiträge zur Analyse und Theorie des Antisemitismus von linken Denker*innen.

Aber auch in der Linken, Musterbeispiel hierfür sind der Marxismus-Leninismus und sein Antiimperialismus, existieren simple dichotome Sichtweisen, Neigung zu Verschwörungsdenken sowie deutliche nationalistische Tendenzen. Insbesondere wenn der Nahostkonflikt antiimperialistisch und in Verbindung mit einem links-revolutionären Selbstbild gedeutet wird, nähert sich solcher „Antizionismus“ regelmäßig antisemitischen Positionen an, koaliert mit diesen und geht auch in sie über. In diesem simplen linken Schema gilt Israel als bloßer aggressiver militaristischer Vorposten des US-Imperialismus. Die dort herrschenden „Zionisten“ würden zur Sicherung von imperialistischer Hegemonie und Erdölinteressen die „Völker“ im Nahen Osten niederhalten: Der Verbund Israel-Zionismus-Imperialismus steht gegen „Völker“.

Im Unterschied zur Rechten allerdings stellen „Völker“ für Linke einen prinzipiell positiven Referenzpunkt dar: Linke können die Seite des Bösen nicht, zumindest nicht offen ethnifizieren. Daher muss wie auch immer versucht werden, zwischen „Juden“ und „Zionisten“ zu trennen, während Antisemitismus und Shoah in ihrer Bedeutung für den Zionismus und Israel bagatellisiert und möglichst negiert werden müssen – zumal ja „Antifaschismus“ zumeist ein wichtiger Teil des linken Selbstbildes ist. Weiterhin, auch dies ein deutlicher Unterschied zur Rechten, ist für linke Politik und das linke Selbstbild generell die Solidarität mit unterdrückten und diskriminierten sowie sich hiergegen wehrenden Gruppen ein wichtiges Moment und Movens. Das gilt auch für das palästinensische „Volk“. Um aber an diesem identifikatorisch festhalten zu können, müssen, insbesondere bei aktivistischen linken Bewegungen, gegen alle Evidenz sowohl der arabische Antisemitismus dethematisiert als auch Gruppierungen wie etwa die Hamas gar als progressive Befreiungsorganisationen behauptet werden. Ähnliches gilt auch für sich primär antikolonial-antirassistisch Definierende. Auch sie wollen sich immer konsequent auf die Seite der Opfer und Unterdrückten stellen und kaprizieren sich bei ihrer Ablehnung Israels auf dessen „siedlungskolonialistischen“ Charakter, sehen eine rein rassistisch motivierte Apartheidpolitik und Israel somit nur als „westliche“ Kolonialmacht par excellence.

In der Charta der Hamas wiederum führen die Verbindung von Abwehr von Moderne, Israelhass und einem muslimisch konnotierten nationalen Selbstbild zu einem islamisierten Weltbild-Antisemitismus. Dieser nimmt den „klassischen“ europäischen Antisemitismus auf – nicht zufällig werden die „Protokolle der Weisen von Zion“ als Beleg genannt –, und zitiert dazu ein paar passende gegen Juden gerichtete Stellen aus dem Koran. Zentral ist hier aber zusätzlich die Verknüpfung mit dem erklärten Vernichtungswillen gegenüber Israel. Hier wird selbst das genuin christlich-antijudaistische Stereotyp des Ritualmordvorwurfs eingepasst als Schlachtruf „Kindermörder Israel“. Für diesen islamisierten Antisemitismus sind „die Juden“ nicht nur fremde kolonialistische Eindringlinge und Okkupanten, vielmehr stünden sie hinter allen Weltkriegen und allen sonstigen Kriegen und Revolutionen und beherrschten die Medien sowie die UNO. „Juden“ und „Weltzionismus“ im Verein mit den westlichen „Kreuzfahrern“ seien erklärte Feinde des Islam, wollten alle traditionellen religiösen Werte zerstören und versuchten insbesondere auch die islamische Frau zu indoktrinieren. Die Grundmuster des Antisemitismus sind allesamt deutlich zu erkennen.

Lassen sich aus Ihrem konzeptionellen Rahmen Folgerungen ziehen für eine pädagogische Bearbeitung von Antisemitismus und Nahostkonflikt?

Zum einen beleuchtet die hier vorgestellte Perspektive nur einen Ausschnitt des Feldes, vieles – wie etwa der Einfluss des Internets und der sozialen Medien oder die antisemitischen Affektstrukturen – liegt außerhalb ihres Blickfeldes. Zum anderen lassen sich aus ihr direkt keine konkreten pädagogischen beziehungsweise Bildungskonzepte oder gar zielgruppenspezifische Mittel und Methoden ableiten. Hierzu sind in den letzten circa 25 Jahren zahlreiche Initiativen entstanden, die vielerlei Ansätze und „Bausteine“ für eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit konzeptioniert und praktisch umgesetzt haben. Diese werden mittlerweile selbst wiederum beforscht. Im Lichte des hier vorgestellten Ansatzes lässt sich allerdings die Bedeutung von einigen dieser Ansätze noch einmal unterstreichen und begründen.

Was folgt daraus, wenn man Antisemitismus nicht allein als jahrhundertelang tradierten Komplex antijüdischer Vorstellungen versteht, sondern als eine spezifische, gesellschaftlich produzierte Deutung der Welt: als Produkt des kombinierten Zusammenspiels von weit verbreiteten Grundmustern des Denkens, wobei der Aufbau eines nationalen Selbstbilds durch Entgegensetzung zu einem spezifisch gefüllten antijüdischen Feindbild konstitutiv ist?

Deutlich wird dann, was ja keine neue Erkenntnis ist, dass die alleinige Vermittlung von „richtigem“ Faktenwissen über die Geschichte des Antisemitismus, des Nationalsozialismus und der Shoah sowie über den Nahostkonflikt zwar unabdingbar ist, aber bei weitem nicht ausreicht. Angesichts der konstitutiven Bedeutung, die die Konstruktion, Füllung und Stabilisierung eines nationalen Selbstbildes innerhalb des Antisemitismus besitzt, bildet die Thematisierung kollektiver Selbstbilder einen zentralen Punkt, der bei einzelnen Ansätzen in der antisemitismuskritischen Bildungspraxis zunehmende Beachtung findet. Antisemitismuskritische Arbeit muss diese Selbstbilder, die scheinbare Selbstverständlichkeit, in nationalen Kollektiven zu denken, das Wechselspiel von Selbst- und Fremdethnisierung, von Ein- und Ausgrenzung, von Aufwertung der Eigengruppe und Abwertung der Fremdgruppe wie auch das Bedürfnis, sich mit einem nationalen Kollektiv zu identifizieren, thematisieren und kritisch reflektieren.

Gerade die Debatten um Antisemitismus und Nahostkonflikt sind Identitätsdebatten, in die die unterschiedlichsten nationalen, religiösen und/oder politischen Selbstbilder involviert sind – dies gilt um so mehr für die gegenwärtigen Einwanderungsgesellschaften allgemein und für das postnazistische Deutschland im Besonderen, wie man anhand der Debatten und Auseinandersetzungen seit dem Hamas-Massaker am siebten Oktober einmal mehr studieren kann. Es gilt, Formate zu finden, innerhalb derer der „Konflikt über den Konflikt“ in den Blick genommen werden kann, um so zu einer Reflexion des eigenen Interesses, der eigenen Antriebe, Emotionen, Positionierungen und Selbstbilder zu gelangen.

Weiterhin sollte nicht auf den „Antisemitismus der Extreme“, wie jenem des Nationalsozialismus, oder den „Antisemitismus der Anderen“, sei es von Zugewanderten oder jener des Islamismus, fokussiert werden. Dies lädt dazu ein, „den“ Antisemitismus als etwas zu sehen, was als Problem bei „ganz Anderen“ zu finden sei, womit man selbst aber nichts zu tun habe (auch Pädagog*innen sind von dieser Feststellung nicht ausgenommen). Die weite Verbreitung von Antisemitismus und gerade auch eigene Denkformen und Vorstellungen geraten so schnell aus dem Blick und werden nicht reflektiert. Antisemitismus ist kein isolierter Komplex, der nur bei anderen, aber nicht bei einem selbst zu finden ist. Nicht nur seine Bilder und Stereotype kursieren gesellschaftsweit und werden tradiert, sondern gerade auch die ihm zugrundeliegenden Denkmuster sind weit verbreitet. Bei Letzteren scheinen – neben den bereits erwähnten nationalen Selbstbildern – insbesondere zwei weitere Bereiche wichtig, und dies keineswegs nur in Bezug auf Antisemitismus:

Dies ist zum einen der Hang zu schnellen einfachen Erklärungen und Weltbildern, zu vereindeutigendem Gut-Böse- und Täter-Opfer-Denken. Auch dieses sollte „gestört“ und so der Reflexion zugänglich gemacht werden. In Bezug auf den Nahostkonflikt bedeutet dies – und auch hierzu existieren bereits praktisch erprobte Konzepte – wegzukommen von der falschen Frage „Wer ist schuld?“. Stattdessen wäre das Ziel, unterschiedlichen Perspektiven wie auch die Vielzahl der unterschiedlichen Standpunkte und deren Beweggründe sehen, nachvollziehen und kritisch reflektieren zu können, mithin eine (An-)Erkenntnis der Komplexität des historisch gewachsenen Konfliktes und der zahlreichen darin begriffenen Ambivalenzen und Dilemmata.

Als letztes Feld sind hier noch die Verschwörungserzählungen zu nennen, deren Logik und Anziehungskraft ebenfalls bewusst und einer kritischen Reflexion zugänglich gemacht werden müssen. Bei diesem Thema wie den vorher genannten Bereichen ist anzumerken, dass sie zentral für den Antisemitismus, dessen Verständnis wie Bekämpfung sind – aber gleichzeitig auch als allgemeine Kompetenzen für viele Felder von Bedeutung wären. Antisemitismuskritische Arbeit ist ein eigenes Feld, aber keineswegs isoliert von anderen.

Abschließend ist festzuhalten: Fasst man Antisemitismus als eine Kombination der vorgestellten Grundmuster und erkennt seinen integralen Zusammenhang mit dem Nationalismus, so wird die Aufgabe der antisemitismuskritische Bildungsarbeit keineswegs einfacher und ihr Einfluss ist begrenzt: simplifizierend-dichotomes Gut-Böse-Denken, die Suche nach schuldigen Tätern bis hin zu Verschwörungsphantasien, die selbstverständlich scheinende Vorstellung homogener nationaler Kollektive oder ein Unbehagen an der Moderne sind weltweit verbreitet und keineswegs antisemitismusspezifisch. Sie sind Bestandteile des unhinterfragten Alltagsdenkens wie auch vieler anderer Weltsichten und Ideologien. Antisemitismus wird in einer nationalstaatlich verfassten, sich ständig im Umbruch befindenden und weiter globalisierenden Welt ein pandemisches Problem, Aufklärung damit eine nie abgeschlossene, andauernde Aufgabe bleiben.

Erschienen in:

Elizaveta Firsova-Eckert/Kai E. Schubert (Hrsg.), Israelbezogener Antisemitismus, der Nahostkonflikt und Bildung. Analysen und didaktische Impulse, Opladen 2024 (Verlag Barbara Budrich).

Das Buch steht als Paperback Ausgabe und auch zum kostenlosen Download als pdf zur Verfügung.