Von Palmen und Zitruspflanzen oder dem Zusammenspiel männlicher und weiblicher Potenzen in G*tt (und dem Menschen)
Von Thomas Tews
Das früheste Dokument der Kabbala ist das gegen Ende des 12. Jahrhunderts in der Provence auftauchende Buch Bahir, dessen Titel von dem Bibelvers Ijob 37,21 („Nun aber sieht man nicht [mehr] das Licht, es leuchtet [bahir hu] in den Himmeln“) abgeleitet ist. Es wird einem frühen jüdischen Mystiker des 2. Jahrhunderts zugeschrieben, was aber wohl nur eine Fiktion ist, um sein Alter und damit seine ‚Rechtgläubigkeit‘ zu garantieren. Die moderne Forschung geht davon aus, dass das Traktat in der Spätantike im Orient entstand und dass Teile dieses Ur-Bahir zwischen 1130 und 1170 in die Provence gelangten und dort einer letzten Umarbeitung und Redaktion unterzogen wurden.
Das Buch Bahir versucht, eine Beschreibung des unglaublich reichen, diversen, dynamischen, sich innerhalb G*ttes abspielenden Lebens vorzulegen. Demnach entfaltet sich die G*ttheit in Potenzen, Energien und Emanationen, den zehn sog. Sefirot, die verschiedene Aspekte des g*ttlichen Wesens verkörpern und in ständigem Austausch miteinander stehen.
Das System der zehn innerg*ttlichen Sefirot ist im Buch Bahir noch nicht in der komplexen Vollständigkeit entwickelt, wie sie etwa im Buch Zohar und in der späteren Kabbala anzutreffen ist, sondern lässt sich nur aus verschiedenen Ansätzen und Bruchstücken rekonstruieren. Seine wesentlichen Charakteristika sind die deutliche Trennung zwischen den oberen drei und den unteren sieben Sefirot, die Spannung zwischen G*ttes Liebe und G*ttes strafender Gerechtigkeit in der vierten und fünften Sefira, die in der sechsten Sefira ihren Ausgleich findet, die Verortung des männlichen Prinzips in der siebten, achten oder neunten Sefira sowie schließlich die – Schechina genannte – zehnte Sefira, die das weibliche Prinzip verkörpert.
G*ttes innere Entfaltung in männlichen und weiblichen Sefirot, zwischen denen sich ein dynamisches Zusammenspiel entwickelt, zeigt, dass G*ttes Wesen männlich und weiblich ist. Im Buch Bahir wird die ontologische Einheit der männlichen und weiblichen Aspekte G*ttes in einem Gleichnis veranschaulicht, in dem die Palme für das Männliche und der Ethrōg (die Zitrusfrucht, die beim Laubhüttenfest in der linken Hand gehalten wird, während die rechte Hand einen aus Palm-, Bachweiden- und Myrtenzweigen zusammengebundenen Feststrauß hält) für das Weibliche steht:
„Das gleicht einem König, der plante, in seinem Garten neun männliche Bäume zu pflanzen, und alle sollten Palmen sein. Was tat er? Er sagte: Werden sie alle von einer Art sein, können sie nicht bestehen. Was tat er? Er pflanzte einen Ethrōg unter ihnen, und er war einer von jenen neun, von denen er geplant hatte, dass sie männlich sein sollten. Und was ist [der] Ethrōg? [Der] Ethrōg ist weiblich.“
Der König und die neun Palmen verbildlichen zusammen die zehn Sefirot, also das innerg*ttliche Wesen, das ursprünglich rein männlich geplant war, ehe G*tt erkannte, dass es auch einer weiblichen Potenz bedurfte. Erst diese, in dem Gleichnis durch das Bild des Ethrōg dargestellt, sorgt dafür, dass das System der zehn g*ttlichen Kräfte existieren kann. So wie G*tt nur mit der weiblichen zehnten Sefira vollkommen ist, bedarf auch der in G*ttes Bilde erschaffene Mensch (Gen 1,27) sowohl des männlichen als auch des weiblichen Prinzips.
Mit dieser an Symbolik aus dem Reich der Botanik reichen kabbalistischen Reflexion wünsche ich allen Leser*innen, die das jüdische Neujahrsfest der Bäume feiern, ein hoffnungsvolles Tu biSchwat!
Literatur:
Das Buch Bahir. Ein Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala auf Grund der kritischen Neuausgabe von Gerhard Scholem. 3. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980.
Peter Schäfer, Weibliche Gottesbilder im Judentum und Christentum. Aus dem Englischen übersetzt von Christian Wiese und Claus-Jürgen Thornton. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2008.