In der Propaganda der Hamas wird die Waffenruhe mit Israel als ein Sieg präsentiert. Die Terrororganisation beansprucht weiterhin die Herrschaft über den Gazastreifen. Doch die Frage bleibt: Wie stark sind die Islamisten wirklich?
Von Ralf Balke
Für die drei jungen Frauen waren es zweifellos Momente der Angst und der Einschüchterung. Als Emily Damari, Romi Gonen und Doron Steinbrecher am Sonntag von ihren Entführern im Gazastreifen zu dem Punkt gebracht wurden, wo man sie dem Roten Kreuz übergab, hatte sich vor ihren Augen eine riesige und bedrohliche Menschenmenge aufgebaut, die sie passieren mussten. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die Bilder, die daraufhin die Weltöffentlichkeit zu sehen bekam. Zu sehen waren vermummte Hamas-Kämpfer mit grünen Stirnbändern, die mit ihren Waffen posierten, einige von ihnen sprangen sogar auf das Dach der Fahrzeuge der mit einem roten Kreuz gekennzeichneten internationalen medizinischen Hilfsbewegung. Dutzende junger Männer skandierten zudem ihre „Allah Akbar!“-Parolen, während sie den Autokonvoi mit den drei jungen Frauen, die 471 Tage in der Gewalt der Hamas-Terroristen waren, umringten. Genau diese Szenen nahm der katarische TV-Sender al-Jazeera auf, woraufhin sie von allen anderen internationalen TV-Stationen, auch den israelischen, übernommen und weltweit verbreitet wurden. Und die Hamas bekam so genau die Bilder, die sie wollte, um zu beweisen: Wir sind noch da und wir haben weiterhin das Sagen im Gazastreifen.
Das Posieren und Macho-Getue einer Horde Männer gegenüber drei hilflosen jungen Frauen könnten aber auch den gegenteiligen Effekt nach Außen haben, beispielsweise die Frage aufwerfen, wie es sein kann, dass die jungen Kämpfer allesamt so proper und wohlgenährt in ihren frisch-gewaschenen Uniformen aussehen, wenn im Gazastreifen die Versorgungslage doch so desolat sein soll, wie es die Propaganda der Hamas stets betont. Oder haben nur die Hamas-Leute genug auf dem Teller, weil sie die Hilfsgüter an sich reißen und die Verteilung nach ihren Vorstellungen organisieren? Aber noch etwas verraten die Bilder vom Sonntag: Das Ganze ist eine gezielte Inszenierung, die manches nur vorgaukelt. Denn Aufnahmen von Drohnen, die über der Szenerie schweben, vermitteln einen anderen Eindruck als die Kameras von al-Jazeera: Die Menschenmenge reduziert sich dann auf wenige hundert Personen, die den drei Geiseln gewiss Furcht einflössen konnten, aber es waren nicht die Massen vor Ort, wie eigentlich suggeriert werden sollte.
Genau deswegen sind diese Bilder auch so symbolträchtig: Einerseits entsteht der Eindruck, den die Hamas beabsichtigt, und zwar, dass die Waffenruhe ein Sieg über Israel sei. Andererseits weiß man, dass deutlich weniger Menschen vor Ort waren, als die Terrororganisation der Weltöffentlichkeit weismachen möchte. Was also spiegelt die realen Verhältnisse wider und wie stark sind die Islamisten wirklich? Rein faktisch ist ihre Führungsmannschaft weitestgehend ausgeschaltet, sprich von Israel erfolgreich getötet worden. Was die Zahlen der getöteten Kämpfer angeht, steht man vor dem Problem der Zuverlässigkeit der Informationen. Die Hamas ist nun einmal keine reguläre Armee, die Angaben über die Zahl ihrer Gefallenen macht, weswegen dieser Begriff auch nicht verwendet werden sollte. Experten aus Israel sprechen von rund 20.000 getöteten Aktivisten, das palästinensischen Gesundheitsministerium dagegen nennt deutlich weniger, um so die Zahl der ums Leben gekommenen Zivilisten hochzuschrauben.
Doch trotz aller Verluste existiert die Hamas weiter, was die Rhetorik von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu über einen „vollständigen Sieg“ zur reinen Makulatur werden lässt. Und auch eine Führungsmannschaft ist wieder da. So lautete der Titel eines großen „Wall Street Journal“ dieser Tage: „Die Hamas hat einen neuen Sinwar.“ Denn auf den im Oktober erfolgreich von Israel getöteten Yahya Sinwar folgte wohl sein jüngerer Bruder Mohammed Sinwar. Offizielle Wahlen gab es zwar keine, aber weil der 1975 Geborene ohnehin zusammen mit Mohammed Deif, dem ebenfalls nicht mehr lebenden ehemaligen Befehlshaber der Qassem-Brigaden, und Yahya Sinwar zum inneren Zirkel der Führungsriege der Hamas gehörte, rückte er quasi automatisch an die Spitze der Terrororganisation. Expertise jedenfalls hat Mohammed Sinwar reichlich. So ging die Entführung des israelischen Soldaten Gilad Shalit auf sein Konto. Und an den Planungen für das Massaker vom 7. Oktober war er ebenfalls beteiligt. Solange die Waffenruhe hält und die 94 israelischen Geiseln sukzessiv gegen viele Hundert Palästinenser, die Haftstrafen – oft auch wegen Mord und Beteiligung an Terroranschlägen – in israelischen Gefängnissen verbüßen, ausgetauscht werden, ist er im Unterschied zu seinem älteren Bruder sowie dessen Vorgänger in der Hamas-Führung noch kein „Dead Man Walking“, also ein „Toter auf Abruf“.
Das macht ihn und die Hamas gewiss nicht ungefährlicher. Denn offensichtlich unternimmt Mohammed Sinwar alles, um die durch über 15 Monate Krieg gelichteten Reihen der Terrororganisation wieder zu schließen. Mit dem Versprechen, dass sie und ihre Angehörigen erleichterten Zugang zu Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung erhalten sollen, scheint man sehr erfolgreich Tausende junger Palästinenser rekrutiert zu haben. „Wir befinden uns in einer Situation, in der das Tempo, in dem die Hamas sich regeneriert, höher ist als das Tempo, in dem die israelischen Verteidigungskräfte sie auslöschen“, zitiert das „Wall Street Journal“ Amir Avivi, seines Zeichens ein pensionierter israelischer Brigadegeneral. „Das alles geht auf das Management von Mohammed Sinwar zurück.“ Er sowie Izz al-Din Haddad, Hamas-Militärchef im nördlichen Teil des Gazastreifen, sind es auch nun, die bei der aktuellen Waffenruhe, allen noch anstehenden Verhandlungen über einen möglichen dauerhaften Waffenstillstand und das weitere Prozedere bei der Freilassung der Geiseln das Sagen haben. „Die Hamas ist in einer sehr starken Position, um ihre Bedingungen zu diktieren“, soll Mohammed Sinwar den Vermittlern in einer schriftlichen Nachricht, die dem „Wall Street Journal“ vorliegt, mitgeteilt haben. In einer weiteren schrieb er: „Wenn es kein umfassendes Abkommen gibt, das das Leiden aller Menschen in Gaza beendet und ihr Blut und ihre Opfer rechtfertigt, wird die Hamas ihren Kampf fortsetzen.“
Das mag alles ebenfalls Rhetorik sein. Fakt aber ist, dass man von Seiten der Hamas dazu übergegangen ist, Israel in eine Art Zermürbungskrieg zu verwickeln. Über ein Raketenarsenal verfügt die Terrororganisation wohl kaum noch und der Nachschub an Waffen ist ebenfalls weitestgehend zum Erliegen gekommen. Das bedeutet, dass sie nun vor allem aus Hinterhalt agiert oder Sprengfallen legen lässt, also sogenannte „Hit and Run“-Überfälle verübt. Auch wenn die vielen neuen Aktivisten nicht die Erfahrung derer mitbringen, die bereits getötet wurden, so fügten sie den Israelis bereits empfindliche Verluste zu, was sich an der Zahl der vielen gefallenen Soldaten ablesen lässt, die in den Tagen vor Beginn der Waffenruhe solchen Attacken zum Opfer fielen. Auch die Tatsache, dass am Sonntag, unmittelbar nachdem die Waffen weitestgehend schwiegen, überall Hamas-Leute sofort aus ihren Verstecken kamen und sich relativ ungehindert im Gazastreifen bewegen konnten, soll ihre Standhaftigkeit zeigen. All das verstärkt den Eindruck, dass die Hamas noch lange nicht geschlagen ist, wenn es um ihre Präsenz am Boden und ihre Kontrolle über die Bevölkerung geht.
„Es steht außer Frage, dass die Hamas als Organisation einen schweren Schlag erlitten hat“, betont ein anonym gebliebener Hamas-Funktionär gegenüber der Tageszeitung „Haaretz“. „Aber das bedeutet nicht, dass sie verschwunden ist oder ihre Fähigkeit verloren hat, [Gaza] zu regieren.“ Ferner erklärte er, dass die Hamas bei der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen, aber auch im Westjordanland weiterhin beliebt sei und in allen Meinungsumfragen auf dem ersten oder zweiten Platz rangiere. Auch wenn diese Aussagen sehr kritisch gesehen werden müssen, so bleiben immer noch die 50.000 Mitarbeiter der Hamas, die den Gazastreifen verwalten würden. „Sie brauchen keine Raketen und Marschflugkörper, um zu regieren“, sagt der zitierte Hamas-Funktionär, der zudem hervorhebt, dass man keinesfalls die Absicht habe, diese Kontrolle abzugeben.
Israel sowie alle Beteiligten, die im Falle eines dauerhaften Waffenstillstands irgendwann den Wiederaufbau des Gazastreifens mit in Angriff nehmen, stehen deshalb vor einem Dilemma: Die bestehende Verwaltung lässt sich nicht sofort austauschen. Will man die Bevölkerung umfassend versorgen und die Infrastruktur neu errichten, wird es gewiss eine Zusammenarbeit mit Personen geben, die aus dem Umfeld der Hamas kommen oder ihr selbst angehören. Ob und wie das funktionieren würde und inwieweit die Hamas nicht doch an Einfluss verliert, weil ihre Funktionäre und Kämpfer in den sicheren Tunneln saßen, während die meisten Palästinenser diesen Schutz eben nicht hatten, kann aktuell kaum vorhergesagt werden. Doch anzunehmen ist, dass selbst eine militärisch geschwächte und weitestgehend dysfunktionale Hamas alles versuchen wird, mithilfe ihres über Jahre aufgebauten Verwaltungsapparat die Kontrolle über den Gazastreifen aufrechtzuerhalten. Oder anders formuliert: Im Unterschied zu der Palästinensischen Autonomiebehörde, die selbst Ambitionen hat, dort die Herrschaft zu übernehmen, hat die Terrororganisation dazu weiterhin die Mittel und das Personal. Nur eines hat die Hamas bis dato nicht, und zwar einen Plan, wie der Wiederaufbau des Gazastreifens überhaupt geschehen soll. Genau das könnte ihr Problem werden.