„Dichten, Denken, Deuten“ – Werk und Wirkung Margarete Susmans

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Der hier anzuzeigende Sammelband geht auf eine Doppeltagung zurück, die 2022 anlässlich des 150. Geburtstages der Dichterin, Philosophin und Kulturkritikerin Margarete Susman (1872 Hamburg – 1966 Zürich) in München und Zürich stattfand. Wie es in der Einleitung der HerausgeberInnen heißt, sollen die Beiträge „das vielschichtige Werk Susmans und seine Wirkung im Kontext seiner Zeit sowie im Hinblick seiner Aktualität für die heutige Philosophie, Kulturtheorie und den öffentlichen Diskurs in signifikanten Kontexten herausarbeiten.“ (S. 3)

Von Dr. Siegbert Wolf (Frankfurt am Main)

Margarete Susman, verheiratet mit dem Maler und Kunsthistoriker Eduard von Bendemann, war langjährige Mitarbeiterin der „Frankfurter Zeitung“ und befreundet mit Georg Simmel, Martin Buber, Gustav Landauer, Ernst Bloch, Bernhard Groethuysen, Gertrud Kantorowicz, Hermann Levin Goldschmidt. 1912 erschien ihr erstes philosophisches Werk „Vom Sinn der Liebe“, 1929 „Frauen der Romantik“, 1946 „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“, 1954 „Gestalten und Kreise“ und 1964 „Ich habe viele Leben gelebt. Erinnerungen“. Intensiv beschäftigte sie sich mit Martin und Paula Bubers bearbeiteten chassidischen Erzählungen „Die Geschichten des Rabbi Nachman“ (1906) und „Die Legende des Baalschem“ (1908). Sie rezensierte u.a. Ernst Blochs Buch „Geist der Utopie“ (1918) und Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ (1921). 1959 erhielt sie die philosophische Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin und 1964 die Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main. Seit 2022 liegen ihre „Gesammelten Schriften“ in einer fünf Bände umfassenden Werkausgabe vor.

Der jüngst erschienene Tagungsband zu Leben und Werk Margarete Susmans umfasst insgesamt sechzehn Beiträge: Ihr Wirken und ihre Bedeutung als Philosophin (Willi Goetschel, Annette Wolf, Yossef Schwartz, Libera Pisano, Amit Kravitz), ihre Beziehungen und Freundschaften zu zahlreichen DenkerInnen des 20. Jahrhunderts: Martin Buber, Bernhard Groethuysen, Gustav Landauer, Ernst Bloch, Hermann Levin Goldschmidt und Gershom Scholem) (Dominique Bourel, Caspar Battegay, Inka Sauter, Delf v. Wolzogen, Martin J. Kudla, Sonia Goldblum), die Essayistin (Gesine Palmer), die Dichterin und Künstlerin (Giuliano Lozzi, Almut Slizyk, Rafaël Newman, Gerhild Sonntag).

Da im Rahmen einer Rezension nicht auf alle Aufsätze gesondert eingegangen werden kann, sollen an dieser Stelle vor allem diejenigen Beiträge herausgestellt werden, die den mit dem Werk Margarete Susman Vertrauten neue wissenschaftliche Erkenntnisse bieten: So würdigt Willi Goetschel Susman „als die erste deutsche Philosophin im modernen Sinn: eine Frau, die sich bewusst und selbstbewusst in den Diskurs der Philosophie einschrieb und diesem also nicht nur mit intellektueller Neugier und Mithörkompetenz folgte, sondern zu ihm auch in wesentlicher Weise und innovativ beitrug.“ (S. 7) Dominique Bourel fokussiert auf die seit ihrer Berliner Studienzeit bei Georg Simmel bestehende enge Freundschaft zum Religions- und Kulturphilosophen Martin Buber (1878-1965) und zum Philosophen und Historiker Bernhard Groethuysen (1880-1946). Beide wurden ihr lebenslang zu bedeutenden, meinungsbildenden Gesprächspartnern, worüber sie ausführlich in ihrer Autobiographie „Ich habe viele Leben gelebt“ berichtet. Caspar Battegay kommt in seiner Beschreibung ihrer Freundschaft mit Ernst Bloch zu dem Ergebnis, dass Margarete Susman „trotz ihrer verschiedenen Bezugnahmen auf verschiedene utopische und utopistische Ideen oder Motive“ nicht als Utopistin, sondern als „eine religiöse Philosophin, deren genuin jüdischer Monotheismus die politischen Konsequenzen mitdenkt“ (S. 87), zu betrachten ist. Auch bei der von Inka Sauter beschriebenen Begegnung mit Franz Rosenzweig und ihrer Anknüpfung an sein Werk – so veröffentlichte Susman zahlreiche Artikel und Rezensionen über Rosenzweig – zeige sich „zunächst ihr Ringen mit einer Zeit vieler Wahrheiten und mit der Frage, was es heißen konnte, jüdisch zu sein in einer zunehmend säkularisierten Welt, in einer Zeit, in der in Susmans Sichtweise das Religiöse nur mehr als Verschüttetes einen Ort hatte.“ (S. 106). Infolge der Shoah schließlich sah sie „ihre Zeit nun von der Rosenzweigs getrennt; die zwei Welten wurden auseinandergerissen und in dieser Kluft gedachte sie des deutschen Judentums.“ (ebd.) Amit Kravitz untersucht Margaretes Susmans philosophische Deutung der Shoah anhand des Freiheitsbegriffs in „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“. Hierbei fokussiert die Autorin vor allem auf das Verhältnis zwischen Freiheit und Notwendigkeit und wirft die Frage auf, „wie spezifisch dieses Verhältnis innerhalb des jüdischen Volkes gedeutet werden kann – und zwar so, dass es die Beziehung des jüdischen Volkes zur Menschheit ausspricht, eine Beziehung, die gerade im Hinblick auf die Shoah aufs Neue bestätigt wird.“ (S. 349) Am Beispiel der Debatte um die Frage des deutsch-jüdischen Gesprächs bzw. einer deutsch-jüdischen Symbiose mit Gershom Scholem weist Sonia Goldblum detailliert nach, dass es sich hierbei um ein Missverständnis, letztendlich eine „Vergegnung“ (Martin Buber) handelte. Im Grunde, so schlussfolgert die Autorin, „bringt Susman in ihren Briefen Einsichten zur Geltung, die Scholem erst im Laufe seiner späteren Schriften zu dem Thema in seine Ausführungen aufzunehmen bereit ist… Die Briefe bringen deutlich zum Vorschein, dass Scholem ihren immer sehr vorsichtig formulierten Einwänden nur wenig Beachtung schenkt, um ihnen dann später in qualifizierter Form beizustimmen.“ (S. 365)

Gelungen ist es den BeiträgerInnen dieses Tagungsband, den Facettenreichtum Margarete Susmans als wegweisende Denkerin, Philosophin und Kulturkritikerin „in seiner vollumfänglichen Bedeutung“ (S. 6) vorzustellen.

Margarete Susman. Beiträge zu Werk und Wirkung. Hrsg. von Martin J. Kudla, Inka Sauter, Caspar Battegay und Willi Goetschel. Tübingen: Mohr Siebeck, 2024. 375 Seiten, 109.- €. – ISBN: 978-3-16-163414-7. LESEPROBE