So einiges ist geschrieben worden seit dem 7. Oktober. Literarische Versuche, dem Unvorstellbaren zu begegnen. Eine weitere solche Anthologie ist unter dem Titel „Schutzraum“ bei Hentrich & Hentrich erschienen. Sie vereint kurze Texte israelischer und internationaler jüdischer Autorinnen und Autoren, herausgegeben im Auftrag von The Israeli Institute for Hebrew Literature in Kooperation mit dem Institut für Neue Soziale Plastik. Eine Anthologie, die „literarisches Rüstzeug für das intellektuelle und emotionale Überleben“ bietet, wie der Verlag schreibt.
Es sind vor allem die israelischen Perspektiven, die im Gedächtnis bleiben. Auch wenn die meisten Israelis, wie Oded Wolkstein in seinem Vorwort schreibt, von den Ereignissen des siebten Oktobers „scheinbar unbeschädigt“ davongekommen sind, seien sie „der Herrschaft einer aus ihrem Lauf gerissenen Zeit unterworfen“, als „Gefangene eines Moments, der ihre Anpassungsfähigkeiten übersteigt“.
Manche der Autoren sind in Deutschland bekannt, wie etwa Joshua Cohen oder Dror Mishani. Aber es sind vor allem die Texte der weniger bekannten Autoren, die herausragen. Die das Unfassbare so klar in Worte formen können. Wie etwa Asaf Schurr, der von einer „komischen Gefühlsmischung aus Ruhe und Anspannung“ schreibt. „Alles widert mich an, jedenfalls ist alles widerlicher als sonst. Trauriger als sonst. Wichtiger und sinnloser als sonst, aufgeladener und düsterer. Es sollte alles verwirrend sein, aber momentan erscheint mir alles ziemlich offensichtlich.“ Welchen Sinn macht das Schreiben, die Literatur? „Jetzt zu schreiben, vor allem Literatur, scheint mir unmöglich, fast verboten, widersinnig. Und trotzdem schreibe ich, versuche, mich selbst davon zu überzeugen, dass es Sinn hat. (Aber welchen Sinn? Für wen? Für was? Für wann?)“
Die Dichterin und Schriftstellerin Tehila Hakimi schreibt über die Zeit, die sich jetzt anders anfühlt. „Sie vergeht noch immer – Minuten, Stunden, Tage –, aber sie hat eine andere Konsistenz, wie ein Material, das plötzlich seine Form geändert hat. Die neue Form ist fremd, entstellt, verzerrt.“ Das Zählen einer Mutter, die mit ihrem zweiten Kind schwanger ist. 90 Sekunden, um in den Schutzraum zu gelangen, festgehaltene Zeit im Schutzraum.
Beim Lesen will man Yaara Shehoris Einladung annehmen: „Kommt und weint mit uns. Es ist noch Platz, hier, unter dem versengten Baum, neben dem zerstörten Haus. Genug Platz, im von Kugeln zersiebten Schutzraum, auf dem Feld, auf dem die reife Ernte am Stiel verfault.“ Sie fasst das Leben in Israel seit dem 7. Oktober prägnant zusammen: „Nur, wenn wir in Bewegung sind, sind wir okay. Mach etwas. Fahr. Sieh. Geh auf die Kundgebung. Steck dir eine gelbe Schleife an. Und noch eine. Wen soll das schon zurückbringen.“ Ob ein Wunder geschehen wird?
Eine beklemmende Anthologie. Unbedingt lesenswert.
Maayan Eitan / Oded Wolkstein (Hg.): Schutzraum. Seit dem 7. Oktober, Hentrich & Hentrich 2024, 120 S., Euro 18.00, Bestellen?