Geteilte Erinnerungen

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Der Band „Jüdisches Landleben“ erzählt von vergessenen Welten und Menschen – und hilft, heutige Zusammenhänge besser zu verstehen.

Von Britta R. Kollberg

Das Oktoberfest 2024 ging genau bis zum 6. Oktober. Am 7. Oktober jährte sich das grauenvolle Massaker der Hamas zum ersten Mal. Am 9. Oktober gedachten wir, falls wir uns noch erinnern, des rechtsterroristischen Anschlags auf die Synagoge in Halle vor fünf Jahren. Pogrom am Rande eines Fußballspiels am 8. November in Amsterdam. Am 9. November 35 Jahre Friedliche Revolution. Und, wenn wir auch daran noch denken, Erinnerung an die Pogromnacht 1938. Es folgt der 11.11., Sessionseröffnung – der Karneval beginnt.

Tage aneinandergereiht wie eine Kette. Ohne Zusammenhang. Oder?

Fangen wir beim Oktoberfest an und sprechen über das Dirndl. Das bayrische Traditionsgut wartet mit einer doppelten Überraschung auf: Es ist eine Migrantin und erst recht kurze Zeit in Süddeutschland heimisch. Zwei Landjuden aus Westfalen, die Brüder Wallach, waren es, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus einer Tiroler Tracht das Dirndl entwickelten und neu designten und es von München bis Paris bekannt und begehrt machten. Der Name Wallach stand vor 100 Jahren für Qualitätstextilien und -möbel, mit denen selbst Nazigrößen sich ausstatten ließen. Um wenige Jahre später den Brüdern Lizenz und Geschäft zu entziehen wegen vermeintlicher Nichteignung. Deutsch-jüdische Geschichte in a nutshell.

Ganz ähnlich erging es Mundart-Dichtern des Niederdeutschen wie Eli Marcus und Carl van der Linde. Gedruckt, in Aufführungen als westfälische Künstler gefeiert – und kurz danach verfemt und vergessen. Wie viele andere Spezialisten und Meisterinnen ihres Fachs.

Warum ist es nötig, solche Geschichten zu erzählen, sich in Details regionaler Lyrik und saisonaler Mode zu vertiefen? Gisbert Strotdrees hat einen Band über jüdisches Landleben in Westfalen geschrieben, der diese Frage in zahlreichen Biographien und einer anschaulichen historischen Darstellung der Region und der dort ansässigen jüdischen Community beantwortet. Dabei nimmt er für solche Werke eher ungewöhnliche Orte und Sparten in den Blick. Unser industrielles, mediales Zeitalter behandelt Landwirte ja oft als berufliche Randgruppe – soweit sie sich nicht in Krisenzeiten über die Bauernverbände temporär Gehör verschaffen (und unter Umständen an populäre politische Strömungen andocken). Schaut man auf die Lebenssituation von Juden und anderen Minderheiten, wird der Trend zum urbanen Blickwinkel noch deutlicher. Aus organisatorischen Gründen wie auch aus als solchen von Diskriminierung im Alltag sind Menschen jenseits des Mainstreams auf dem Land deutlich weniger sichtbar als in der Stadt.

Mit einem Kaleidoskop von Orts- und Lebensgeschichten setzt Strotdrees dieser Leerstelle etwas entgegen und macht Menschen bekannt, auf die etliche unserer Traditionen, wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften zurückgehen. Indem es sie in historische und geographische Informationen und einen Blick auf das große Ganze als roten Faden einbettet, bietet „Jüdisches Landleben“ eine gute Ergänzung zur Vielzahl einzelner Lebensbeschreibungen in Romanen und Dokumentationen. Und ist dabei keineswegs nur für am Ländlichen Interessierte spannend: Die Leserin erfährt viel über deutsche Geschichte – weit über Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen hinaus – und kaum bekannte Details anhand lebhafter Beispiele aus allen Bereichen der Gesellschaft. Das Buch setzt der jüdischen Gemeinschaft in Westfalen, Deutschland, Polen und Österreich – sowie den deutschen Auswanderern und Flüchtlingen nach Israel – ein Denkmal: jüdischen Landwirten, Landmaschineningenieuren, Künstlern, Lehrlingsausbilderinnen, Gestaltern jüdischen Lebens im ländlichen Raum – und den zahllosen Opfern antisemitischen Hasses und Verrichtungswillens.

Denn Bauern zählten nicht erst in der NS-Diktatur, nach den Beamten, zu den ersten, die ihre sogenannte arische Abstammung nachzuweisen hatten. Strotdrees beschreibt anschaulich, wie die jahrhundertlange Verweigerung landwirtschaftlichen Grundbesitzes und die Ablehnung der heraufziehenden Industrialisierung als – mit liberalem Handel und Geldwirtschaft – vermeintlich den Juden nützliche Veränderung des Wirtschaftsgefüges nicht nur entgegengesetzte Spielarten von Antisemitismus darstellten, sondern aufeinander aufbauten und sich erzeugten und verstärkten. Dabei bedeutete der Begriff „Oekonom“ seinerzeit auch hier Landwirt, ganz der Etymologie entsprechend.

Dies ist nicht die einzige Stelle, an der uns Sprache selbst an Zusammenhänge erinnert – und daran, wo wir diese falsch verkürzen. So führt es in die Irre, wenn die wenigen erhaltenen Synagogen Westfalens im Internet unter dem Oberbegriff „NS-Gedenkstätten“ zu finden sind. Sie waren und sind mehr als das; jüdische Geschichte hat die Region über Jahrhunderte geprägt und erschöpft sich nicht in NS-Geschichte. Dies zu korrigieren, hilft auch in der Gegenwart die richtigen Zusammenhänge herzustellen. Denn unser Gedenken würdigt nicht nur Persönlichkeiten und Diskriminierungs- bzw. Gewaltopfer der Vergangenheit, es hebt zugleich gesellschaftlich Wichtiges hervor und stellt es in aktuelle Kontexte. Die Antisemiten-Bewegung der 1870er Jahre etwa, von der Strotdrees berichtet, lehrt uns sehr Konkretes für heute: Die Bewegung florierte besonders stark direkt nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Deutschland – in Reaktion auf erfolgreiche Modernisierung wachsen zunächst fast immer auch Hass und aggressive Gegenbewegungen. Genau das sehen wir heute etwa im wütenden Antifeminismus nach den Erfolgen der Frauenbewegung in den letzten Jahrzehnten. Und auch dies: Radikalität egal welcher Couleur entzündet sich häufig an antisemitischen Ideologien und Verschwörungserzählungen. Lässt man sie gewähren, fegt sie früher oder später aber auch die zunächst nicht Betroffenen, die Gleichgültigen und die liberale Gesellschaftsordnung hinweg. Selbst ein altkonservativer Antisemit des 19. Jahrhunderts wie der „Westfälische Bauernkönig“ Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst sah das voraus.

Deswegen ist Strotdrees‘ Band nicht nur historisch interessant, sondern schmerzhaft aktuell. Zu mehr als 1700 Jahren jüdischem Leben in Deutschland, mit dem Dirndl, der Lokomotivfabrik „Orenstein & Koppel“ und dem Werk von Moses Mendelsohn, gehört ebenso die Geschichte der Entwertung, Enteignung und des Versuchs, Bürger, Nachbarn, Kolleginnen zu vernichten und unsichtbar zu machen, als wären sie nie dagewesen. Ihr Leben und die Erinnerung an ihre Fabrikationsstätten, ihre Erfindungen, ihre Kunst, ihre alltägliche Mitarbeit in der Landwirtschaft sollte vollständig ausgelöscht werden. Damit dies nicht nachträglich doch noch vollends gelingt oder sich in neuer Form wiederholt, braucht es Forschungen und Berichte wie die von Strotdrees über vergessene jüdische Welten in Westfalen und anderswo.

Dabei ist das Buch gut geschrieben und mit seiner schönen Sprache und der gelungenen Kombination aus dokumentarischen Informationen und eindrücklichen Lebensbildern eine anregende Lektüre. Ein ausführlicher Anhang ergänzt es u.a. mit Hinweisen zu Orten, Gedenk- und Begegnungsstätten, die zu besuchen sich lohnt. Als Reiseführer im Gepäck ist das Buch ganz sicher zu schwer, aber zur Vor- und Nachbereitung ein wertvoller Lesestoff.

Einheit und Zerbruch gehen in diesen Gedenkorten wie in unseren Kalendern bis heute Hand in Hand. Strotdrees Buch erzählt von beidem. Von blühenden Landwirtschaften dort, wo Juden als Maschinenbauer, Landwirtinnen oder Künstler Teil ihrer Gemeinden waren. Vom Bruch der Zivilisation, der aus dem Antisemitismus wächst.

Und vom Erinnern. Am Morgen des 10. November sehe ich vor meiner Tür in Berlin Rosen und Teelichter neben den Stolpersteinen. Straße für Straße, Rosen und Teelichter, überall in meiner Nachbarschaft. Ein Moment der Zuwendung, des Gedenkens – unseres Zusammenhängens in einer Reihe schwieriger Tage.

Gisbert Strotdrees: Jüdisches Landleben – vergessene Welten in Westfalen. Landwirtschaftsverlag 2024, 180 S., Euro 24,00, Bestellen?

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