Die Antisemitismus-Definition der IHRA hat viel öffentliche Wertschätzung erhalten. Es gab aber auch kritische Einwände, wobei der Text offenkundig nicht genau studiert wurde. Es gibt aber ebenso berechtigte Kritik, fehlt es doch an der nötigen Stringenz.
Von Armin Pfahl-Traughber
Um eine Antisemitismus-Definition gibt es mal wieder eine heftige Kontroverse, da ihr eine weite Auslegung bis hin zur Erfassung von Kritik an der israelischen Politik unterstellt wird. Gemeint ist die Begriffsbestimmung der IHRA, die Abkürzung steht aufgeschlüsselt für „International Holocaust Remembrance Alliance“. Dabei handelt es sich um eine zur Erinnerung an den Holocaust gegründete zwischenstaatliche Organisation. Auf einer in Bukarest durchgeführten Konferenz wurde 2015 beschlossen, für Antisemitismus eine besondere Arbeitsdefinition als Empfehlung vorzuschlagen. Zu ihr bekennen sich aktuell über 50 Mitgliedsstaaten, was für eine hohe und internationale öffentliche Zustimmung spricht. Argumentative Einwände wurden lange Jahre kaum beachtet, dafür unterstellt man ihr gegenwärtig einen Legitimationsmissbrauch zugunsten der israelischen Regierungspolitik. Und schon bewegt sich die Auseinandersetzung in politischen Kontexten, wodurch zur Definition kaum noch differenzierte Erwägungen wahrgenommen werden.
Gleichwohl bemühen sich die folgenden Betrachtungen um eine solche Erörterung, wobei sie eine argumentative Kritik präsentiert, gleichzeitig aber auch unangemessene Unterstellungen verwirft. Bereits ein nur oberflächlicher Blick in den lediglich wenige Seiten umfassenden Text veranschaulicht, dass keineswegs pauschal eine Kritik an der israelischen Regierungspolitik als antisemitisch wahrgenommen wird. Es heißt zu Beginn ausdrücklich in der Erklärung: „Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.“ Daher ist zunächst bezogen auf die Kritiker unverständlich, warum dieser klare Satz schlicht überlesen wurde. Die Bekundung liefert sogar einen universellen Maßstab, nämlich die Kritikausrichtung an länderübergreifenden Prinzipien. Leider wird das konkret Gemeinte nicht mehr durch deren erläuternde Nennung veranschaulicht. Aber die referierte Aussage sieht etwa in belegbarer Kritik an Menschenrechtsverletzungen keineswegs ein antisemitisches Vorurteil.
Insofern ist auch ein gegenteiliger Einwand nicht tragbar, wonach es sich nur um ein politisches Instrument handele. Liegt damit aber eine überzeugende Definition vor, um eben sonstige Differenzierungen vorzunehmen? Davon kann dann aus umgekehrter Blickrichtung ebenfalls nicht gesprochen werden, was allein schon die allgemeine Begriffsbestimmung veranschaulicht. Dazu heißt es: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann.“ Diese Aussage legt durch die Formulierung nahe, dass es auch Antisemitismus ohne Hass geben würde. Außerdem gilt die gemeinte Judenfeindlichkeit lediglich als „Wahrnehmung“. Es heißt danach noch: „Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen“. Genauer wird die Begriffsbestimmung aber hinsichtlich der Kontexte in unterschiedlichstem Sinne hier nicht.
Dafür folgen der Definition elf Fallbeispiele, welche im öffentlichen Leben präsent seien und exemplarisch zur Veranschaulichung dienten. In der Gesamtschau geht dabei aber viel durcheinander, fehlt doch eine nötige Differenzierung. So werden ältere und neuere Formen wie formale und inhaltliche Gesichtspunkte ungeordnet vorgetragen. Dabei ist das einzelne Gemeinte nicht falsch, müsste aber in eine Struktur integriert werden. Bezogen auf allgemeine Aspekte heißt es etwa gleich zu Beginn: „der Aufruf zur Tötung und Schädigung von Jüdinnen und Juden“ unabhängig von einer ideologischen Prägung. Indessen beginnt Antisemitismus bereits vor dieser Ebene, also etwa als latente oder manifeste Einstellung oder hinsichtlich typischer Narrative. Dazu folgen später noch Ausführungen, aber hier bleibt die Definition dann ungenau. Es ist etwa von „falschen, entmenschlichenden, dämonisierenden oder stereotypen Anschuldigungen“ die Rede, insbesondere anhand von Behauptungen einer angeblichen jüdischen Macht in Medien, Politik und Wirtschaft.
Damit hätte man es mit einer Auflistung als traditionell geltender antisemitischer Vorstellungen zu tun. Diese müssten aber für eine Definition mit analytischer Kraft noch systematisiert werden. Berechtigt werden dann wieder einige formalen Gesichtspunkte genannt, etwa wenn für das behauptete Fehlverhalten einzelner Juden dann alle Juden verantwortlich gemacht werden sollen. Am Ende der Listung wird noch das „kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen und Juden für Handlungen des Staates Israel“ genannt, womit man es ja mit einer besonderen Form der zuvor thematisierten Verallgemeinerung zu tun hat. Gleichwohl findet man beide Gesichtspunkte weit voneinander entfernt im Text, obwohl sie in der Kombination in einem engen inhaltlichen Zusammenhang stehen. Die meisten Fallbeispiele beziehen sich auch auf Israel als Thema, was aber mehr als nur verständlich angesichts der gegenwärtigen Artikulation der Judenfeindschaft ist, die allzu häufig eben gegen den jüdischen Staat in „Umwegkommunikation“ erfolgt.
Dabei könnte man die ideengeschichtlichen Kontinuitäten betonen, knüpfen doch etwa die „Kindermörder“-Rufe an traditionelle „Ritualmordlegenden“ an. Aber all diese guten Ansätze gehen in dem Durcheinander von Fallbeispielen unter. Darüber hinaus müsste noch für eine Antisemitismus-Definition folgende Differenzierung relevanter gemacht werden: Es gibt eine direkte Diskriminierung von Juden als Position, es gibt aber auch Forderungen mit objektiven Nachwirkungen in diesem Sinne. Eine solche Aussage macht etwa die dem Existenzrecht von Israel gegenüber vorgetragene Negierung zu einer antisemitischen Wirkung. Blickt man bilanzierend auf die Definition der IHRA, so entsteht der Eindruck von einer zu früh abgebrochenen Konferenz. Demnach fehlte den Akteuren für die Systematisierung die Zeit. Es lohnt trotz vieler Differenzen, hier noch einmal mit mehr Klarheit, aber auch mit mehr Systematik, für ein konsistentes Verständnis zu werben. Eine gute Analyse des Antisemitismus setzt eine klare Bestimmung des Gemeinten voraus.
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