„Wir haben die Tunnel noch nicht wirklich verlassen“

0
231
Emilia Aloni nach ihrer Rückkehr mit ihrer Großmutter, Foto: The Hostages Families Forum Headquarters

Vor einem Jahr wurde das erste und bisher einzige Abkommen umgesetzt, um einen Teil der israelischen Geiseln aus Gaza zurückzuholen. In einer Pressekonferenz erinnerte das Forum der Familien der Entführten an diesen Jahrestag: „Wir hätten nie gedacht, dass wir ein Jahr später hier sein würden und 101 Geiseln immer noch in den Tunneln der Hamas leiden“.

Das ganze Land hielt vor einem Jahr den Atem an als die Geiseln endlich auf israelisches Territorium kamen und ihre Familien umarmten. So wie die 5jährige Emilie Aloni, die mit ihrer Mutter Daniella zurückkehrte. „Die israelische Regierung brauchte etwa zwei Monate, um einen Deal für mich und 80 andere israelische Geiseln auszuhandeln“, so Daniella. „Warum dauert es über ein Jahr, bis wir einen weiteren Deal aushandeln, um sie aus dieser Hölle zu befreien? Wie können wir die Verantwortlichen von der Dringlichkeit überzeugen? Auch wenn es von außen anders aussieht, wir haben die Tunnel noch nicht wirklich verlassen. Das Gefühl des Erstickens, die schreckliche Feuchtigkeit, der Gestank – diese Empfindungen umhüllen uns immer noch. Die Hände, die uns entführten, die Hände, die uns berührten, als wir in den Tunnel hinabstiegen, die durchdringenden, bedrohlichen Blicke lähmen uns immer noch vor Angst.“

Daniella Aloni, Foto: Paulina Patimer

„Vor einem Jahr saßen wir Abend für Abend da und sahen die Nachrichten. Wir warteten auf den Anruf, der uns mitteilte, dass sie morgen zurückkommen würden“, sagte Yifat Zailer, Cousine von Shiri Bibas, die mit ihren beiden kleinen Kinder Ariel und Kfir entführt wurde. „Wir sahen die Umarmungen der Zurückkehrenden, die herzzerreißenden Wiedersehen, die Familien, die sich erneut vereinten, und unsere Herzen schwollen vor Freude an und wurden von Neid gekränkt – auch wir warteten darauf, mit unseren Lieben wieder vereint zu sein. Shiri, Kfir und Ariel sollten im Rahmen dieses Deals in der nächsten Phase zurückkehren.“ Es gab keine nächste Phase, Shiri, Ariel und Kfir, und auch ihr Vater Yarden sind noch immer in Gaza. „Viele Leute sagen uns, sie seien bestimmt schon tot“, so Yifat Zailer. „Soll eine solche Aussage tröstlich sein? Als ob sie das Versagen, die Verzögerungstaktik, den Mangel an Initiative und, am schlimmsten, die Sabotage von Abkommen, die sie hätten zurückbringen können, nur noch vergrößert. Für uns sind sie am Leben, kaum am Überleben, sie werden jeden Tag aufs Neue ihrem Tod überlassen. Sie könnten jeden Tag sterben, alle. Alle Geiseln. Und vielleicht war es für einige von ihnen gestern schon zu spät?“

Yifat Zailer, Foto: Alon Gilboa

Raz Ben Ami, die ebenfalls in dem Abkommen vor einem Jahr freikam und deren Ehemann Ohad noch immer in Gaza gefangen gehalten wird, sagte: „Wenn die Menschen wirklich verstehen könnten, was es bedeutet, 54 Tage lang unter unmenschlichen Bedingungen in Tunneln festgehalten zu werden, umgeben von Terroristen – sie würden niemals zulassen, dass Geiseln 415 Tage lang dort bleiben!“ Sie betonte, dass alle sagen, dass die Bedingungen für ein Abkommen reif seien. „Keine weiteren Ausreden. Es ist an der Zeit, alle Geiseln so schnell wie möglich zurückzubringen, denn wir wissen nicht, wer einen weiteren Winter in den Tunneln überleben wird.“

Tatsächlich sprechen sich immer mehr Experten, auch ehemalige Mitarbeiter der Sicherheitsdiente und der Armee, vehement dafür aus, nun ein umfassendes Abkommen auszuhandeln. Wie zum Beispiel Tamir Pardo, ehemaliger Mossad-Direktor, der in einem Interview in den Abendnachrichten vergangene Woche sagte, wenn Premierminister Netanyahu nicht dafür sorgen würde, dass alle Geiseln in einem Abkommen zurückkehren, werde „das Land 101 Ron Arads bekommen“. Er spielte damit auf den israelischen Piloten an, der 1986 über dem Libanon abstürzte, gefangen genommen wurde und dessen Schicksal bis heute nicht geklärt ist. 

Die Familien der Geiseln fordern auch angesichts der Berichte über einen bevorstehenden Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah, dass jeder Waffenstillstand oder jede Vereinbarung eine ausdrückliche Forderung nach der Freilassung der Geiseln enthalten müsse. Hisbollah habe sich dem von der Hamas orchestrierten und vom Iran unterstützten Angriff vom 7. Oktober angeschlossen und ihr Schicksal mit dem Krieg in Gaza und den Gräueltaten des Massakers vom 7. Oktober verbunden. Das Forum der Familien der Entführten sieht in einem Waffenstillstandsabkommen im Norden eine entscheidende Gelegenheit, alle Geiseln nach Hause zu bringen: „Die Nordfront und die Freilassung der Geiseln sind untrennbar miteinander verbunden – wir können und dürfen sie nicht als getrennte Themen behandeln.“