Eine Rezension zu Ron Leshems „Feuer. Israel und der 7. Oktober“
„Das Mordmerkmal der Grausamkeit bezieht sich auf eine besondere Form der Tatausführung (…) in der sich ein hohes Maß an Lebensverachtung zeigt. Die grausame Begehensweise ist darüber hinaus mit erheblichen Schmerzen und Misshandlungen des Opfers verbunden und stellt deshalb eine intensive Verletzung der körperlichen Integrität und der Würde des Opfers dar (…) in der grausamen Tötung (zeigt sich) außerdem die besonders rohe, gefühllose und unbarmherzige Gesinnung des Täters (…).“ [i]
Von Susanne Benöhr-Laqueur/ Jennifer Zappe
In den Morgenstunden des 7.10.2023 drangen Terroristen der Hamas unter fortwährendem Raketenbeschuss auf israelisches Staatsgebiet vor. Im Zuge dessen ermordete sie mehr als 1.200 israelische und ausländische Staatsangehörige.[ii] Damit einher gingen Vergewaltigungen, körperliche Misshandlungen sowie die Geiselnahme von circa 251 Personen.[iii] Weitere schwere Straftaten erfolgten. Die Beweisführung ist unproblematisch, da sich die Terroristen zumeist selbst bei den grausamsten Tatbegehungen filmten und das Bildmaterial der Weltöffentlichkeit zur Verfügung stellten. Ron Leshems Werk war – soweit ersichtlich – im Frühsommer 2024 die erste Untersuchung der Geschehnisse in deutscher Sprache. Der Autor lebt in den USA, arbeitet als Journalist bzw. Autor und war für den israelischen Geheimdienst tätig.[iv]
Er ist persönlich betroffen. Seine Tante Orit Svirsky ermordeten die Terroristen am 7. Oktober 2023. Itai Svirsky, seinen Cousin, entführte die Hamas in den Gaza-Streifen (S. 13, 36, 37, 38) und erschossen ihn am 102. Tag der Gefangenschaft (S. 256, 257).
„Der Staat ließ seine Bürger im Stich …“[v]
Die ehemalige Chefanalystin des israelischen Auslandsnachrichtendienstes Mossad, Sima Shein, bemerkte in der ZDF/ ARTE Dokumentation „Trauma in Nahost. Der 7. Oktober und seine Folgen“ süffisant: „Teil des Problems sind Arroganz und die Überzeugung, wir haben die beste Technologie, das beste Know-How, das Beste, das Beste, das Beste (…).“[vi] Diese Einschätzung teilt Ron Leshem (S. 66, 70, 74, 84, 222, 242) und erweitert sie um weitere Faktoren: Zum einen die exorbitante (männliche) Selbstüberschätzung (S. 64, 66, 84). Es waren Analystinnen des Geheimdienstes und Aufklärerinnen der Armee, die mehrfach ihre Vorgesetzten darauf hinwiesen, dass ein Angriff unmittelbar bevorstünde (S. 66). Ihre Berichte wurden ignoriert bzw. gar nicht ernst genommen. Zum zweiten die gravierenden innenpolitischen Probleme, die sich in Massenprotesten gegen die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezüglich der „Reform zum Umbau des Rechtssystems“ manifestierten (S. 139, 140, 241). Dies suggerierte der Hamas, dass Israel instabil und folglich schwach sei. Zum dritten die gegenseitige Aberkennung eines geschichtlichen Traumas und damit verbunden einen evidenten beidseitigen Mangel an Empathie (S. 47). Diese toxische Gemengelage, gepaart mit einer kompletten militärischen, politischen und geheimdienstlichen Fehleinschätzung der Lage, führte dazu, dass israelische Staatsbürger auf eigenem Staatsgebiet schutzlos den Hamas-Terroristen ausgeliefert waren.
„Chronik eines Tages“[vii]
Ron Leshem analysiert im Hauptkapitel seines Buches „Chronik eines Tages“ auf 46 Seiten über einen Zeitraum von 24 Stunden die Ereignisse des 7. Oktober 2023. Der Umstand des Staatsversagens wird schonungslos und präzise in allen seinen Facetten beschrieben. Sein Bericht beginnt um 06:29 Uhr (S. 92) und er endet am 8. Oktober 2023 zur gleichen Uhrzeit (S. 137). Im Focus der Beschreibung stehen die Geschehnisse an diverse Örtlichkeiten, wie u.a. das „Supernova-Festival in Re´im“ (S. S. 95) aber auch die „Telefonzentrale der Polizei“ (S. 101), der „Kibbuz Be´eri“ ( S. 106) oder den Armeestützpunkt „Nachal Oz“ (S. 102). Der Autor schildert en Detail das strategische Vorgehen der Hamas, die vollständige Hilfs- und Planlosigkeit des israelischen Staates (S. 125) aber auch das mutige Engagement Einzelner (S. 121). Die Lektüre des Abschnitts ist eine Herausforderung, da eine Darstellung der geballten Grausamkeiten erfolgt.
Der lange Schatten der Geschichte
Ron Leshem lässt keinen Zweifel daran, wer einer Ansicht nach die Hauptverantwortung für die Ereignisse des 7. Oktober 2023 trägt: Der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nebst Regierung (S. 79, 85). In diesem Kontext referiert er zunächst anschaulich die Geschichte des Staates Israel aus der Sicht eines politisch links stehenden und seit über einem Jahrzehnt in den USA lebenden Israeli, der mit seinem Lebensgefährten in Boston die gemeinsame Tochter großzieht (S. 9, 10). In diesem Kontext bemerkt er: Zur Staatsräson Israels gehörte es bis an das Ende der Welt zu gehen und gegebenenfalls ein ganzes Soldatenregiment sein sein Leben riskieren zu lassen um auch nur einen Israeli zu retten (S. 254). Genau dieser Faktor sei seiner Ansicht nach das Geheimnis der israelischen Stärke (S. 254). Diese Einschätzung ist richtig. Die Maxime „Es wird niemand zurückgelassen“, wie sie u.a. in Entebbe[viii] praktiziert wurde, hat aber keinen Bestand mehr. Nach wie vor werden über 100 Geiseln im Gaza-Streifen gefangen gehalten, während die Hamas angesichts der Bilder von Zerstörungen und Tot längst den (Propaganda)Krieg gewonnen hat (S. 222 ff).
Ron Leshems prophetische Frage am Ende des dritten Kapitels „Wer werden wir sein, wenn wir aus der Asche auferstehen?“ (S. 136) lässt sich am Jahrestag des Massakers am ehesten nur mit einer Gegenfrage beantworten: „Wer wollt ihr sein?“. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Modell „Abschrecken, Warnen, Besiegen“ als nutzlos erwiesen (S. 284). Ein Strategiewechsel ist nicht in Sicht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Grausamkeiten der Hamas, die Ron Leshem als „Quelle des Stolzes“ (S. 223), „Ausdruck von Stärke“ (S. 223), „Überlegenheit und Mut“ (S. 223), „wirksames Mittel, um Angst zu schüren“ (S. 224) und zutreffend als „Teil einer Lebensweise“ (S. 224) beschreibt, von großen Teilen der Öffentlichkeit und der Medien der demokratischen Welt inzwischen überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. Die überaus geschickte Informationspolitik der Hamas und ihrer weltweit agierenden Partner führten während der letzten Monate zu einer „Täter-Opfer-Umkehr“ (S. 222 ff). Wie sehr das „Opfernarrativ“ der Hamas – nicht der Palästinenser (!) – verfängt, wird an der Berichterstattung über die sexuellen Gewaltanwendungen am 7. Oktober 2023 überdeutlich. Gemäß Recherchen der New York Times gehörten Vergewaltigungen, sexuelle Misshandlungen und die Verstümmelung von Geschlechtsorganen zum systematischen Handlungsmuster (S. 266). Die Drapierung und filmische sowie globale Inszenierung von Israelinnen mit gespreizten Beinen, zerrissener Kleidung und grausamen Misshandlungsspuren im Genitalbereich (S. 266, 267) wurden ignoriert, was die Neue Zürcher Zeitung veranlasste indigniert zu titeln: „Außer du bist Jüdin – #MeToo scheint für israelische Frauen nicht zu gelten“.[ix]
Fazit
Weder die Strategie der Hamas, Grausamkeiten an Israelis und Palästinensern zu verüben noch das reflexartige Zurückschlagen des nach der Schockstarre wieder überaus effizient agierenden israelischen Geheimdienstes[x] nebst der hochgerüsteten Armee dürften in absehbarer Zeit ein Ende finden. Dies wird unweigerlich Konsequenzen für das israelische Staats- und Demokratieverständnis nach sich ziehen, welche Ron Leshem als eine wahre Dystopie beschreibt, in der „Israelis in den kommenden Jahren des Land in Scharen verlassen, unter ihnen die Wissenschafts-, Technologie- und Wirtschaftselite und natürlich große Teil der liberalen Geisteswelt“ (S. 311). Gleichwohl, so seine Hoffnung könnte dies auch „der letzte Weckruf sein, eine letzte Chance für Israel, sich neu zu erfinden (…).“ (S. 311). Vorerst bleiben nur die nachdenklichen und mahnenden Sätze von Sima Shein: „Das Verständnis beider Gesellschaften für das Trauma der anderen Seite, ist sehr wichtig für eine Versöhnung. Daran besteht kein Zweifel (…).[xi] Es ist noch ein weiter Weg.“[xii]
Ron Leshem, Feuer. Israel und der 7. Oktober, Rowohlt 2024, 320 S., Euro 25,00, Bestellen?
[i] Matt/Renzikowski/Safferling, Strafrechtskommentar, 2. Aufl. 2020, Baden-Baden, StGB § 211 Rn. 55.
[ii] Times of Israel: October 7 victims sue Iran, Syria, North Korea for billions in US court, 1.7.2024, https://www.timesofisrael.com/october-7-victims-sue-iran-syria-north-korea-for-billions-in-us-court/ (letzter Zugriff am 6.10.2024).
[iii] Times of Israel: October 7 victims sue Iran, Syria, North Korea for billions in US court, 1.7.2024, https://www.timesofisrael.com/october-7-victims-sue-iran-syria-north-korea-for-billions-in-us-court/ (letzter Zugriff am 6.10.2024).
[iv] https://www.rowohlt.de/autor/ron-leshem-792 (letzter Zugriff am 6.10.2024).
[v] Leshem: Feuer. Israel und der 7. Oktober, Berlin 2024, S. 13.
[vi] Shein, Sima, in: Strohschnieder, Jens/Duki Dror/Mathias Marx (Regie) – Beetz, Reinhardt/ Duki Dror (Produzenten): „Trauma in Nahost. Der 7. Oktober und die Folgen.“, ZDF/ARTE, Deutschland, 2024, https://www.presseportal.de/pm/167646/5865803, Zeit: 00:05:32-00:05:41 (letzter Zugriff am 6.10.2024).
[vii] Leshem: Feuer. Israel und der 7. Oktober, Berlin 2024, S. 92 – 138.
[viii] Reich, Amdreas: Die Befreier kamen nachts, in: Neue Zürcher Zeitung, NZZ, 3.7.2016, https://www.nzz.ch/international/das-historische-bild/operation-entebbe-die-befreier-kamen-nachts-ld.103326 (letzter Zugriff am 6.10.2024).
[ix] Schmid, Birgit: „Ausser du bist Jüdin – #MeToo scheint für israelische Frauen nicht zu gelten“, in: Neue Zürcher Zeitung, NZZ, 4.12.2023, https://www.nzz.ch/feuilleton/gewalt-der-hamas-an-israelinnen-schweigen-der-metoo-bewegung-ld.1767977 (letzter Zugriff am 6.10.2024). Vgl. Zudem: Zappe, Jennifer/ Susanne Benöhr-Laqueur: Sexualisierte Gewalt als systematische Kriegswaffe. Eine rechtspolitische Analyse der Vergewaltigungen von Israelinnen durch die Terrororganisation “Hamas“ am 7. Oktober 2023, in: academia, 6.10.2024, https://www.academia.edu/124477870/Zappe_und_Benoehr_Laqueur_Artikel_7_10_2023 , (letzter Zugriff am 6.10.2024).
[x] Mäder,Lukas u.a.: Anschläge in Libanon: Wie Tausende Kommunikationsgeräte gleichzeitig explodieren konnten, in: Neue Zürcher Zeitung, NZZ, 19.9.2024, https://www.nzz.ch/technologie/pager-in-libanon-explodieren-tausende-pager-gleichzeitig-wie-ist-ein-solcher-anschlag-moeglich-ld.1848931, (letzter Zugriff am 6.10.2024).
[xi] Shein, Sima, in: Strohschnieder, Jens/Duki Dror/Mathias Marx (Regie) – Beetz, Reinhardt/ Duki Dror (Produzenten): „Trauma in Nahost. Der 7. Oktober und die Folgen.“, ZDF/ARTE, Deutschland, 2024, https://www.presseportal.de/pm/167646/5865803, Zeit: 01:28:49-01:28:51 (letzter Zugriff am 6.10.2024).
[xii] Shein, Sima, in: Strohschnieder, Jens/Duki Dror/Mathias Marx (Regie) – Beetz, Reinhardt/ Duki Dror (Produzenten): „Trauma in Nahost. Der 7. Oktober und die Folgen.“, ZDF/ARTE, Deutschland, 2024, https://www.presseportal.de/pm/167646/5865803, Zeit: 01:29:26-01:29:29 (letzter Zugriff am 6.10.2024)