Der Tod von Yahya Sinwar markiert einen Wendepunkt in der militärischen Auseinandersetzung mit der Hamas. Nun lautet die große Frage: Geht der Krieg im Gazastreifen weiter oder wird die Terrororganisation aufgeben?
Von Ralf Balke
Sie seien bereits „walking dead“, sozusagen „lebende Toten“. So bezeichneten wenige Wochen nach dem Massaker vom 7. Oktober Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sowie weitere Vertreter aus Politik und Militär die Führungsriege der Hamas. Das war vor knapp einem Jahr. Und es sollten keine leeren Drohungen sein. Sukzessiv gelang es den Nachrichtendiensten und der Armee so gut wie alle Kommandeure der Terrororganisation zu töten, darunter auch Personen wie Mohammed Deif, Befehlshaber der berüchtigten Qassem-Brigaden und verantwortlich für zahlreiche Selbstmordanschläge in Israel, weshalb er seit Jahrzehnten auf der Liste der meistgesuchten Terroristen ganz oben stand. Am 31. Juli sollte es schließlich Ismail Haniyeh treffen, den Hamas-Politbüro-Vorsitzenden, und das ausgerechnet in Teheran, wo er sich absolut sicher wähnte – ein enormer Image-Schaden für die Mullahs, die die Hamas mit Waffen und Geld zu genau der Mördertruppe aufrüsteten, die sie dann auch wurde. Und manchmal ist einfach nur pures Glück im Spiel – so wie jetzt am Mittwoch, als eine Gruppe junger Rekruten im südlichen Gazastreifen auf einige Hamas-Kämpfer stieß und es zum Gefecht kam. Am Ende stellte sich raus, dass man ausgerechnet Yahya Sinwar erwischt hatte, einen der Hauptverantwortlichen für die Ereignisse vom 7. Oktober sowie Nachfolger von Ismail Haniyeh an der Spitze der Hamas. Ebenso wie im Libanon, wo man mit geradezu spektakulären Aktionen die gesamte Hisbollah-Führung innerhalb weniger Tage ausschaltete, ist die Terrororganisation im Gazastreifen nun ebenfalls quasi „kopflos“. Und Israel hat es geschafft, sein Abschreckungspotenzial, das vor einem Jahr massiv beschädigt wurde, wiederherzustellen.
Nun stehen aber weitere Fragen im Raum, die derzeit noch nicht beantwortet werden können. Denn die erfolgreiche Tötung von Yahya Sinwar markiert gewiss eine Wende in der Auseinandersetzung mit der Hamas. Doch die Islamisten haben weiterhin rund hundert Israelis als Geiseln in ihrer Gewalt. Ihr Schicksal bewegt seit Monaten das ganze Land. Und nachdem die Hamas den Tod ihres Anführers bestätigt hatte, kam prompt die Erklärung, dass man gewiss nicht ans Aufgeben denke, sondern weiterkämpfen will. Dabei scheint die Terrororganisation selbst über kaum noch nennenswerte Ressourcen zu verfügen – das beweist die Tatsache, dass sie auf die Neutralisierung von Yahya Sinwar nicht wie erwartbar mit einem Raketenbeschuss reagierte. Offensichtlich, und damit bestätigen sich Aussagen von Verteidigungsminister Yoav Gallant aus dem September, ist die Hamas militärisch am Ende und allenfalls noch zu einem Guerillakrieg fähig, was keinesfalls zu unterschätzen ist. Auch gibt es derzeit keinen neuen Anführer. Spekuliert wird darüber, ob Mohammed Sinwar, Yahyas jüngerer Bruder, der Nachfolger werden könnte. Er gehörte zum engeren Kreis des Terror-Chefs, aber nicht deswegen, weil Mohammed Sinwar über besondere Fähigkeiten verfügt, sondern allein aufgrund der Tatsache, dass der stets misstrauische Yahya Sinwar ihm vertraute. Andere Namen, die genannt werden, sind Yahya Sinwars Stellvertreter Khalil al-Hayya und Moussa Abu Marzouk, stellvertretender Leiter des politischen Büros der Hamas. Doch ob sie auch wirklich zur Verfügung stehen, ist nicht klar – denn auch ihnen ist klar, dass sie dann sofort „walking dead“ sein werden.
All das weiß natürlich auch Benjamin Netanyahu. Am Donnerstag, wenige Stunden nachdem man mit Gewissheit sagen konnte, dass nun auch Yahya Sinwar tot ist, erklärte der Ministerpräsident in einem Statement, das auf Hebräisch veröffentlicht wurde, dass der Krieg noch nicht vorbei sei. Zugleich forderte er darin die Hamas-Terroristen auf, alle Geiseln sofort freizulassen, wenn ihnen ihr eigenes Leben noch etwas wert sei. Auf Englisch dagegen sagte Benjamin Netanyahu bemerkenswerterweise etwas anderes. So sprach er von einem möglichen Ende der Auseinandersetzungen. „Dieser Krieg kann morgen enden. Er kann enden, wenn die Hamas ihre Waffen niederlegt und unsere Geiseln zurückgibt.“ In seiner hebräischen Rede behauptete Benjamin Netanyahu zudem, dass es nur ihm zu verdanken sei, dass man so weit gekommen sei – schließlich sei er der einzige gewesen, der gegen den Widerstand aller seiner politischen Gegner im eigenen Land darauf beharrt habe, Rafah, Khan Yunis sowie den Philadelphi-Korridor zwischen dem Gazastreifen und Ägypten einzunehmen, sodass man letztendlich auch Yahya Sinwar erwischen konnte. Dabei ist die Realität eine andere: Vor allem Washington sowie andere Verbündete Israels waren gegen diese militärischen Operationen, während Benny Gantz und Gadi Eisenkot, die beide bis zum Sommer noch in seinem Kriegskabinett saßen, sehr wohl dafür waren. Last but not least betonte der Ministerpräsident, dass seine Skepsis gegenüber einem Deal für eine Waffenpause richtig gewesen sei.
Am Freitag, nachdem der Ministerpräsident sich mit führenden Militärs beraten hatte, veröffentlichte man eine sehr deutliche Warnung, dass die israelischen Geiseln nicht das Ziel von Racheaktionen für die Tötung von Yahya Sinwar sein sollten. Überhaupt macht man sich nun verstärkt Hoffnung, dass es irgendwie zu einem Deal kommt – der Hamas-Chef galt stets als Bremser einer möglichen Einigung. Das Problem aber lautet: Auf Seiten der Terrororganisation gibt es derzeit niemanden, der die Autorität hätte, etwas zu entscheiden. Verstärkt wird das Ganze durch die Art und Weise, wie Yahya Sinwar die Hamas geführt habe. Vor dem Krieg war sie weitestgehend dezentral organisiert, wobei Sinwar als politischer Chef ein Anführer von vielen war. Das habe sich geändert, so Harel Chorev, Analyst am Moshe Dayan Center der Universität Tel Aviv, gegenüber CNN: „Sinwar wurde zum alleinigen Entscheidungsträger, und natürlich wurde er immer bedeutenderer, weil Israel mehr und mehr andere prominente Führungsmitglieder tötete, wie zum Beispiel Mohammed Deif.“
Für einen jedenfalls ist die Hamas noch lange nicht am Ende, und das ist Ayatollah Ali Khamenei, Irans ranghöchster Politiker. „Hamas lebt und wird immer leben“, ließ er auf der Plattform X verkünden, übrigens auf Hebräisch. Für die Mullahs ist die Tötung von Yahya Sinwar eine weitere herbe Niederlage, erst drei Wochen zuvor hatte es Israel geschafft, Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah sowie fast alle wichtigen Kommandeure der Schiiten-Miliz unschädlich zu machen. Der Schaden für den Iran ist gewaltig: Offensichtlich ist Teheran nicht in der Lage, seine Marionetten zu schützen. Und Ali Khamenei selbst sieht sich in Gefahr. So verschwand der Ayatollah unmittelbar nach Bekanntwerden des Todes von Hassan Nasrallah für viele Stunden von der Bildfläche und suchte Schutz in einem sicheren Versteck. Und nach dem Ende von Yahya Sinwar dürfte diese Furcht noch gesteigert worden sein, insbesondere, weil es aus israelischen Sicherheitskreisen hieß, dass man im Falle eines Vergeltungsangriffs auf den Iran auch die politische Führung Teherans im Visier habe.
Die gesamte Hamas-Führung ist jedenfalls nun ausgeschaltet, weshalb eines der wesentlichen Kriegsziele erreicht ist. Aber eine Frage ist nach wie vor offen: „Ironischerweise offenbart die längst überfällige Tötung Sinwars das Fehlen eines durchdachten israelischen politischen Plans und von Ideen für die Nachkriegszeit in Gaza“, bringt Alon Pinkas die Problematik in „Haaretz“ auf den Punkt. „Aus diesem Grund wird der Krieg nicht so bald enden – es sei denn, in den nächsten Tagen und Wochen kommt es zu einer massenhaften Kapitulation der Hamas.“ Und genau damit ist nicht so schnell zu rechnen. „Jetzt gibt es die Möglichkeit für einen >Tag danach< in einem Gaza ohne die Hamas an der Macht sowie für eine politische Lösung, die Israelis und Palästinensern gleichermaßen eine bessere Zukunft bietet“ erklärte denn auch US-Präsident Joe Biden am Donnerstag. „Yahya Sinwar war ein unüberwindbares Hindernis für die Erreichung all dieser Ziele.“ Dieses sei nun beseitigt, weshalb die Diskussionen um eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen dringlicher denn je sind. Und natürlich auch ein Ende der bewaffneten Auseinandersetzung.
Genau diese Diskussionen will Benjamin Netanyahu lieber aus dem Weg gehen will – auch wenn er weiß, dass jede Form einer längeren Präsenz Israels im Gazastreifen einen hohen politischen Preis haben wird. Aktuell jedenfalls will der Ministerpräsident Erfolge wie die Tötung von Yahya Sinwar oder auch von Hassan Nasrallah nutzen, um wieder bei der Bevölkerung zu punkten. „Er will nicht nur als derjenige in Erinnerung bleiben, der für den 7. Oktober verantwortlich ist, sondern auch als derjenige, der den Krieg nach dem 7. Oktober gewonnen hat“, glaubt Moshe Dayan Center-Experte Harel Chorev. „Ich denke, für ihn persönlich könnte das eine große Leistung sein. Und wenn er klug ist, wird er danach sein Amt aufgeben.“ Zudem muss man sich immer in Erinnerung bringen, dass es nicht die erste erfolgreiche Tötung eines Hamas-Chefs war. Angefangen von Scheich Ahmad Yasin und seinem Nachfolger Abdel Aziz al-Rantisi gab es bereits einige, die man in der Vergangenheit treffen konnte. Immer hatte es die Hamas danach geschafft, sich von solchen Rückschlägen zu erholen. Und auch wenn die Terrororganisation aktuell militärisch so schwach und angeschlagen wie nie in ihrer Geschichte ist, so muss das noch keine Garantie für einen endgültig befriedeten Gazastreifen sein.