Die zweite Phase

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IDF Soldaten in Süd-Libanon, Foto: IDF Sprecher

Fast ein Jahr nach dem 7. Oktober geht Israel im Norden in die Offensive. Der Libanon wird so zur zweiten Front. Das wirft die Frage auf, welche Folgen das Vorgehen gegen die Hisbollah für den Krieg im Gazastreifen hat – und natürlich für das Schicksal der Geiseln.

Von Ralf Balke

Nun ist das geschehen, womit man seit Monaten fast täglich rechnen musste. Israel geht im Libanon militärisch in die Offensive. Fast ein Jahr lang beschränkte sich die Auseinandersetzung mit der Hisbollah auf eine Art Pingpong-Spiel. Denn bereits einen Tag nach dem 7. Oktober hatte ihr Anführer, Scheich Hassan Nasrallah, Partei für die Hamas im Gazastreifen ergriffen. Seither feuerte die Schiiten-Miliz rund 9.000 Raketen auf israelische Ortschaften in der Grenzregion oder schickte Drohnen mit ihrer tödlichen Fracht Richtung Golan und Galiläa. Die Folgen: Mehrere Dutzend Tote auf israelischer Seite. Ein mehrere Kilometer breiter Streifen entlang der Grenze zum Libanon musste evakuiert werden, Kiryat Shmona und andere Orte im nördlichen Galiläa gleichen Geisterstädten. Und rund 70.000 Israelis sind immer noch Flüchtlinge im eigenen Land. Im Gegenzug reagierte Israel mit dem Beschuss ihrer Stellungen im Libanon. Mehrere Male sah es so aus, als ob die Situation eskalieren würde, beispielsweise im Juni, als durch ein Hisbollah-Geschoss in der auf dem Golan gelegenen drusischen Stadt Madschdal Schams zwölf spielende Kinder und Jugendliche getötet wurden. Doch Israel hielt sich die ganze Zeit über militärisch zurück. Einerseits konzentrierte man sich auf die Auseinandersetzung mit der Hamas im Gazastreifen und wollte keine zweite Front. Andererseits sollte diplomatisch Druck aufgebaut werden, dass sich die Hisbollah – wie von der UN-Resolution 1701 aus dem Jahr 2006 gefordert – aus der Grenzregion zu Israel zurückzieht, und zwar hinter den Litani-Fluss. Genau das ist aber nie geschehen.

Dann ging es plötzlich Schlag auf Schlag. Am 17. September erlebten die Milizionäre der Hisbollah eine böse Überraschung, als mehrere Tausend Pager – ihr bevorzugtes Kommunikationsmittel, um nicht von Israels Hightech-Einheiten getrackt zu werden – explodierten, rund ein Dutzend ihrer Kämpfer wurden getötet und rund 3.000 weiterer teils schwer verletzt. Offensichtlich hatte es der israelische Geheimdienst geschafft, in einer über viele Jahre geplanten, komplexen Operation, diese mit Sprengstoff zu versehen. Bereits am Tag darauf erging es den Benutzern von Hisbollah-Walkie-Talkies und einiger Laptops ähnlich, auch sie flogen in die Luft und töteten oder verletzten weitere hunderte Angehörige der Schiiten-Miliz. Fast zeitgleich wurde Irbahim Aquil, Kommandeur der Hisbollah-Elite Truppe Radwan-Brigade und einer der Gründer der Hisbollah, der bereits in den 1980er für Selbstmordanschläge auf US-Einrichtungen im Libanon verantwortlich war, bei einem Luftschlag ausgeschaltet, und zwar gemeinsam mit elf weiteren hochrangigen Hisbollah-Kommandeuren. Und am 27. September sollte es Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah treffen, auch er wurde bei einer Zusammenkunft mit weiteren Anführer der Terrororganisation bei einem gezielten Bombenangriff der israelischen Luftwaffe getötet. Zugleich begann Israel Anfang Oktober mit einer – nach eigenen Worten – begrenzten Bodenoffensive im Südlibanon. Ihr Ziel ist die Neutralisierung der Hisbollah, zumindest ihre Zurückdrängung auf eine Linie nördlich des Litani-Flusses, damit die rund 70.000 geflüchteten Israelis endlich in ihre Häuser zurückkehren können.

Damit wurden die Karten völlig neu gemischt und der Konflikt in der Region tritt in eine zweite Phase: Nun ist der Norden der zentrale Schauplatz. Und der aktuelle Hauptfeind ist weniger die Hamas im Gazastreifen, deren Strukturen ohnehin bereits weitestgehend zerstört wurden, weshalb ihre Kämpfer allenfalls noch zu einer Art Guerillakrieg gegen Israel fähig sind. Vielmehr steht nun die Hisbollah im Fokus und damit verstärkt auch der Iran. „Nasrallahs Entscheidung, die Hamas im Gazastreifen zu unterstützen, indem er am 8. Oktober eine weitere Front gegen Israel eröffnete, war ein Glücksspiel, das gründlich nach hinten losging“, lautet dazu die Einschätzung von Bilal Y. Saab, Analyst für die Region Naher Osten und Nordafrika bei dem britischen Thinktank Catham House. „Nicht nur, dass die Hamas dadurch kaum nennenswerte Unterstützung erfuhr – die Hamas selbst ist derzeit ohnehin militärisch dezimiert – , es brachte auch der Hisbollah und wie immer in solchen Fällen ebenso dem gesamten Libanon nichts anderes als Unheil. Zu sagen, Nasrallah habe sich verkalkuliert, wäre eine grobe Untertreibung, sein Fehler erwies sich als tödlich.“

Wer immer jetzt auch in Nasrallahs Fußstapfen treten wird, findet eine Organisation vor, deren Führung fast vollständig neutralisiert wurde. Konkret bedeutet das: So gut wie alle wichtigen Kommandeure mit jahrzehntelanger Expertise sind nicht mehr am Leben, Befehls- und Kommunikationsstrukturen weitestgehend zerstört, ebenso ein Teil des Raketenarsenals. Die so entstandenen Lücken lassen sich nicht von heute auf morgen ersetzen. Aber noch etwas wird die Schiiten-Miliz auf lange Zeit lähmen, und das ist die Ungewissheit darüber, wer in den eigenen Reihen womöglich für die Israelis arbeitet. Denn die Ereignisse der vergangenen Tage haben gezeigt, dass die israelischen Nachrichtendienste seit Langem bestens im Bilde darüber waren, wer aus der Hisbollah-Führung sich wann und wo genau aufhielt. Das funktioniert nur über Informanten aus den eigenen Reihen, und zwar aus dem engsten Umfeld der obersten Hisbollah-Kommandeure selbst. Und es zeigt, dass die Nachrichtendienste der Schiiten-Miliz komplett versagt haben. All das erzeugt ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und wird gewiss zu Verdächtigungen und Verleumdungen führen, die die Schlagkraft maßgeblich beeinträchtigen dürfte. Trotzdem sollte man nicht der Versuchung erliegen, die Hisbollah bereits abzuschreiben. In direkter Konfrontation wie jetzt während der Bodenoffensive im Südlibanon bleiben ihre Kämpfer weiterhin eine große Herausforderung für die israelische Armee.

Ein Jahr nach dem 7. Oktober hat es Israel geschafft, durch sein überraschendes Vorgehen im Libanon genau das wieder herzustellen, was aufgrund des Massakers, das die Hamas anzurichten vermochte, massiv gelitten hat, und zwar sein Abschreckungspotenzial. Und das ist von entscheidender Bedeutung, wenn es um den eigentlichen Gegner in dieser Auseinandersetzung geht, und das ist der Iran. „Fast vier Jahrzehnte lang investierte der Iran Milliarden von Dollar in den Aufbau der Hisbollah“, bringt es Tamir Pardo im Gespräch mit „Haaretz“ auf den Punkt. „Es wurde ein Terrormonster mit Hauptquartier im Libanon geschaffen, dessen Tentakel die ganze Welt umspannen“, so der ehemalige Mossad-Chef weiter. „Diese Kampftruppe im Auftrag des Irans ermöglichte den Aufbau des sogenannten Feuerrings um Israel – ein wichtiger Schritt des Irans, der auf die Zerstörung Israels abzielte. In der Tat wurde so eine Situation geschaffen, in der der Iran eine indirekte Grenze mit Israel hatte, umgekehrt aber Israel keine mit dem Iran, der mehr als 1.600 Kilometer entfernt ist.“ Die Ereignisse der vergangenen Wochen hätten seiner Einschätzung zufolge diesem Konzept einen schweren Rückschlag verpasst. „Die milliardenschweren Investitionen in die Hisbollah sind im wahrsten Sinne des Wortes den Bach runtergegangen“, glaubt Tamir Pardo. „Es ist noch nicht klar, ob die Hisbollah und der Iran wirklich in der Lage sind, sie wieder davon zu erholen. Meiner bescheidenen Meinung nach gibt es keine Möglichkeit, die Hisbollah wieder zu dem zu machen, was sie vorher war. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist. Iran und Hisbollah werden ihre Strategie neu ausrichten müssen.“

Die erfolgreiche Ausschaltung von Hassan Nasrallah & Co. war für den Iran eine weitere Demütigung, ähnlich wie die Tötung von Hamas-Chef Ismail Haniyeh Ende Juli in Teheran – auch hier zeigte sich, dass es den israelischen Nachrichtendiensten gelungen ist, die iranischen Revolutionsgarden zu „infiltrieren“, weshalb unmittelbar nach der Tötung des Hisbollah-Chefs auch Ayatollah Ali Khamenei, Irans wichtigster politischer Führer, sich aus Angst, dass nun er ebenfalls Ziel sein könnte, sofort in ein vermeintlich sichereres Versteck begab. Teheran drohte auch mit Vergeltung, die am Dienstagabend erfolgte. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate griff man Israel direkt an, aber anders als im April nicht mit Drohnen und Marschflugkörper, die eine relativ lange Flugzeit brauchen, sondern mit ballistischen Raketen, die ihr Ziel in wenigen Minuten erreichen können. Aber auch der erneute Angriff führte dank der israelischen Luftabwehr nur zu sehr begrenzten Schäden. Oder anders formuliert: Teheran hatte 300 Millionen Dollar ausgeben, um einige Häuser zu demolieren und einen Palästinenser zu töten, der in Jericho von Raketentrümmern erschlagen wurde. Und der Feuerring, den der Iran so gerne um Israel gelegt hätte, hat nun nicht nur einen Ausfall im Süden, weil die Hamas weitestgehend ausgeschaltet wurde, sondern nun auch im Norden.

All das hat zu einer Verschiebung der Aufmerksamkeit weg vom Geschehen im Gazastreifen geführt, wo Israel weiterhin in Kämpfe verwickelt ist, wenn auch nicht mehr in dem Ausmaß wie noch vor einigen Monaten. Doch vieles bleibt offen, vor allem die Frage, wie eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen aussehen kann. „Leider hat Israel weiterhin keine Strategie“, sagt Tamir Pardo. „Gerade jetzt gäbe es die unglaubliche Möglichkeit, den Nahen Osten zu gestalten. Wird Bibi diese Chance wahrnehmen? Ich wünschte, es wäre so. Aber ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird. Zwar hat er in den letzten Tagen einige Punkte gesammelt, aber der Gerichtssaal in Jerusalem wartet noch immer auf ihn, und das Fiasko vom 7. Oktober belastet ihn weiterhin, auch wenn seine Anhänger dies vergessen haben.“ Aber noch etwas haben die Ereignisse der vergangenen Tage bewirkt: Das Schicksal der 101 Geiseln in der Gewalt der Hamas ist auf der Agenda nach unten gerutscht. Denn die Verhandlungen über eine mögliche Waffenpause und einen Austausch als Gegenleistung für eine vierstellige Zahl von Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen einsitzen, liegen auf Eis. Zwar ist der Wunsch von Yahya Sinwar in Erfüllung gegangen und der Zweifrontenkrieg endlich da – nur sieht dieser nicht so aus, wie ihn der Chef der Terrororganisation sich vorgestellt haben dürfte, weswegen er die Geiseln mehr denn je als seine Lebensversicherung betrachtet. Und auch wenn das Vertrauen der Israelis in die Fähigkeiten ihrer Armee und Nachrichtendienste durch die Erfolge im Libanon weitestgehend wieder hergestellt werden konnte, so kann man das nicht gerade über die Verantwortlichen in der Regierung sagen.