Antisemitismus, Hate Speech, Verschwörungsideologien verbreiten sich schon lange in Sozialen Medien. Auf TikTok, der bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen am häufigsten genutzten Plattform, werden antisemitische Vorstellungen nicht nur offen und mit Falschinformationen reproduziert und verstärkt. Zum Teil werden sie in Codes versteckt oder in scheinbar unpolitischen Formaten wie Schminktipps eingebaut. Die Bildungsstätte Anne Frank hat für den Report Die TikTok-Intifada – Der 7. Oktober & die Folgen im Netz die drastischen Auswirkungen solcher Videos untersucht, beschreibt, was die Provider dagegen tun müssen, und gibt Vorschläge, wie wir im Alltag und in der politischen Bildung gegen die Online-Hetze aktiv werden können.
Darüber spricht Deborah Schnabel von der Bildungsstätte Anne Frank mit Olaf Kistenmacher am Dienstag, 8.10.2024, 18.30 Uhr im Warburg Haus, Hamburg.
Eintritt frei, Anmeldung erforderlich unter: abut.can@bsb.hamburg.de
„Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist die Welt nicht mehr wie zuvor. In unserer Bildungsarbeit sehen wir tagtäglich, wie in allen Teilen der Gesellschaft Israelhass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden verbreitet werden. Mit wachsender Sorge beobachten wir die Verbreitung des Problems insbesondere unter jungen Menschen“, sagt Dr. Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank. „Lehrkräfte berichten, wie Schüler*innen plötzlich mit terrorverharmlosenden, israelfeindlichen, antisemitischen und unverrückbaren Positionen zum Nahostkonflikt in die Schule kommen – als hätten sie sich über Nacht radikalisiert. Dies hängt unserer Beobachtung zufolge stark mit dem Social Media-Konsum der jungen Generation zusammen – besonders die Videoplattform TikTok trägt zu einer Speed-Radikalisierung junger Menschen bei. Hier tummeln sich Hassprediger*innen unterschiedlicher Couleur – von extremen Rechten bis Islamisten – und verbreiten Antisemitismus und Rassismus unter sehr jungen Menschen. Kein anderes Soziales Medium versorgt eine so vulnerable Zielgruppe mit derart verstörendem Content – weitgehend ohne Aufsicht.“
Um das Problem sichtbar und anschaulich zu machen, analysiert der Ad-hoc-Report aktuelle Beispiele aus den Sozialen Medien mit einem Fokus auf TikTok. „In den Wochen nach dem 7. Oktober sind Beiträge viral gegangen, in denen in Zweifel gezogen wurde, ob das Hamas-Massaker auf das Supernova-Festival stattgefunden hat oder in denen die gesamten Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung als ‚Inside-Job‘ der israelischen Regierung dargestellt wurden. KI-generierte Bilder vermeintlich getöteter palästinensischer Kinder werden millionenfach geteilt, um das antisemitische Motiv des ‚Kindermörders Israel‘ zu bedienen. Hinzu kommt eine Flut an offen die Shoah relativierenden Memes und Clips, die Israel mit dem NS-Regime gleichsetzen oder Gaza mit Auschwitz“, berichtet Eva Berendsen, Leitung Kommunikation/Politische Bildung im Netz, von dem analysierten Social-Media-Material. „Reichweitenstarke Influencer*innen, die sonst Lifestyle-Inhalte oder Schminktipps teilen, verbreiten plötzlich einseitig verkürzte und klar tendenziöse Darstellungen des Nahostkonflikts und emotionalisieren so ihre überwiegend sehr junge und wenig vorinformierte Follower*innenschaft. Es ist ein Krieg der Bilder und Behauptungen, in dem sich Einzelpersonen kaum zurechtfinden können. Zwischen Fake News und Desinformationen entfalten antisemitische Verschwörungstheorien und rassistische Narrative ihre Wirkung – und tragen zur Radikalisierung ihrer Konsument*innen bei.“
Der Algorithmus der Plattformen belohne das Nutzungsverhalten, so Berendsen, indem er immer weiteren tendenziösen Content in den Feed spiele. „Die Politik muss deshalb dringend die Tech-Konzerne in die Pflicht nehmen, wirkungsvoll und konsequent gegen antisemitische und rassistische Hatespeech, Desinformation und Verschwörungserzählungen vorzugehen“, betont Berendsen. Daneben müssten aber auch die User*innen und Content-Creator*innen selbst gestärkt und begleitet werden durch einen massiven Ausbau von digital Streetwork: „Sozialarbeit und Streetwork finden nicht mehr nur auf der Straße statt, sondern auch im Netz. TikTok-Kommentarbereiche ersetzen vielfach den Jugendclub, öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen politisieren Jugendliche schneller und emotionaler als die klassische Radikalisierungsversuche auf dem Pausenhof. Politik und Zivilgesellschaft müssen in diesen Bereich massiv investieren –Jugendsozialarbeiter*innen müssen auf TikTok eine mindestens gleichrangige Präsenz wie im realen Leben aufbauen, müssen ansprechbar sein, aber auch aufsuchend tätig werden.“
„Medien- und Demokratiebildung müssen zwingend zusammen gedacht werden. Und der Bildungsauftrag richtet sich nicht nur an Schulen, sondern an die gesamte Gesellschaft: Wir adressieren damit ausdrücklich auch Entscheider*innen aus Politik, Medien und gesellschaftlich relevanten Institutionen, TikTok endlich als Plattform der politischen Meinungsbildung ernst zu nehmen. Es bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Kraftanstrengung, will die Demokratie ihre Grundlagen nicht verspielen. Wir müssen konsequent in digitale Bildung investieren, soll die politische Information im Netz nicht komplett den Demagog*innen überlassen werden“, so Deborah Schnabel abschließend.
Der gesamte (digitale) Report kann kostenfrei heruntergeladen werden auf der Website der Bildungsstätte Anne Frank.