Jüdischer Almanach zum 7. Oktober

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Seit über 350 Tagen zählt Israel die Tage, die seit dem schlimmsten Massaker an Jüdinnen und Juden nach 1945 vergangen sind. In wenigen Tagen jährt sich dieses Ereignis, das auf unvorstellbare Weise das Denken, Fühlen und Leben aller Menschen in Israel und aller Jüdinnen und Juden außerhalb Israels veränderte. Nicht allein nahm es den Menschen in Israel das trotz alltäglicher Angriffe existierende Gefühl, in Sicherheit in ihrem Staat zu leben, und das Vertrauen in diesen Staat. Es wurde zudem Fanal für einen weltweit gewaltsam und brutal ausbrechenden Antisemitismus, den die meisten Jüdinnen und Juden hinter sich gelassen glaubten.

Von Eva M. Grünewald

Anlässlich dieses traurigen Jahrestages erscheint der von Gisela Dachs herausgegebene „Jüdische Almanach“ in diesem Jahr zum Thema „7. Oktober. Stimmen aus Israel“. Zwanzig Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten, Politiker und Künstler schildern in diesem Band aus unterschiedlichen Perspektiven mit Hilfe verschiedener Textsorten und Abbildungen das Massaker des 7. Oktober und die Entwicklung Israels in den Monaten danach. Sachlich, wissenschaftlich, emotional, bewegend und bedrückend beleuchten sie Facetten der israelischen Gesellschaft. Eine besondere Leistung des Bandes ist seine vielseitige Betrachtung. International sehr prominente bis hinzu weniger bekannten Verfasserinnen und Verfassern tragen unterschiedlichste politische Ansätze und Positionen zusammen, die ein Kaleidoskop an Denkimpulsen bilden, welches die Leserinnen und Leser außerhalb Israels vielleicht und hoffentlich das eine oder andere Mal zum Schweigen und Nachdenken vor der nächsten reflexhaft-lauten antiisraelischen Stellungnahme bewegt.

Amir Tibon, der u.a. für die israelische Tageszeitung Haaretz schreibt und seit 2014 mit seiner Familie im Kibbuz Nahal Oz weniger als einen Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt lebte, schildert zunächst sein Erleben und Überleben des 7. Oktober im Schutzraum. Wie so viele Bewohner des Kibbuz‘ handelt es sich auch bei Tibon und seiner Frau um Nachfahren von Schoah-Überlebenden, die den Kibbuz 1950 gründeten. Sie lebten in der „tief empfundene[n] Einsicht, dass das einzige jüdische Land auf der Welt ohne sichere Grenzen ein unsicheres Land wäre, in dem sich die dunkle Vergangenheit unseres Volkes wiederholen könnte.“ (S. 14) Diese Angst wurde wahr. Während Tibon und seine Frau zuvor überzeugt waren, „echte Sicherheit“ nur erreichen zu können, indem sie Frieden mit allen Nachbarn schließen (S. 15), hat das Massaker des 7. Oktober diese Überzeugung ins Wanken gebracht.

Nahal Oz war eines der ersten Angriffsziele der Hamas. Tibon und seine Frau erwachten durch das Pfeifen, „unheimlich, aber vertraut“, (S. 13) einer Mörsergranate. In letzter Sekunde stürzten sie in den Schutzraum, das Schlafzimmer der beiden Töchter, bevor Mörsergranaten um sie herum einschlugen. Über soziale Netzwerke erfuhren sie von den Angriffen auf Nahal Oz sowie andere Kibbuzim und nahe gelegene Orte, ohne deren Dimension zu begreifen. Als sie jedoch Maschinengewehrfeuer und Stimmen von Terroristen hörten, war klar: „Unser schlimmster Albtraum wurde Wirklichkeit.“ (S. 15)

Die folgenden zehn Stunden überlebte die Familie im Schutzraum, während der Vater Tibons, ein pensionierter General, sich von Tel Aviv aus auf den Weg machte, um die Familie zu befreien. Zehn Stunden ohne Nahrung, Toilette, Wasser, Sauerstoff, ohne Unterhaltung und vor allem ohne zu wissen, was jenseits der fragil schützenden Wände geschieht. Denn die Kommunikation war schon früh zusammengebrochen. Trotz aller Anspannung versucht Tibon, Optimismus zu bewahren, indem er beispielsweise auf die Hilfe vom nahen Militärstützpunkt Nahal Oz verweist oder indem er die bevorstehende Hilfe des Vaters verspricht. Nicht ahnend, dass die Soldatinnen und Soldaten des Stützpunktes bereits zu Dutzenden ermordet und entführt waren. Bis heute kämpfen die Familien von fünf Soldatinnen um ihre Freilassung. Ebenso wenig ahnend, wie langsam, unorganisiert – und unter größter Gefahr – sein Vater sich mit einer zufällig zusammengewürfelten Truppe nähert.

Schließlich wechselt Tibon die Perspektive und schildert auch den Kampf des Vaters um Leben und Tod gegen Terroristen und das Bild der zerstörten Häuser und umherliegenden Toten, welches sich diesem offenbart, als er endlich das Haus seines Sohnes im Kibbuz erreicht und dort mit den schlichten Worten „Saba ist da“, begrüßt wird.

Tibons Erzählung aus dem Versteck stellt einen Gegensatz dar zu den brutalen, blutigen und grausamen Bildern und Videos, die im Laufe des vergangenen Jahres bekannt wurden. Sie zeigt die beängstigende Situation im dunklen Schutzraum in zunehmender Angst, dass einer von ihnen die Nerven verlieren und der wichtigsten Anweisung des Vaters nicht mehr folgen könnte: „Verhaltet euch ruhig.“ (S. 17) Es ist diese Vorstellung von Dunkelheit und Unwissenheit; Stunden andauernder Angst um Familie und Freunden ringsumher und schließlich die nackte Angst um das eigene Leben, die buchstäblich die Luft zum Atmen nimmt und die Erinnerung an Erzählungen aus Verstecken von Jüdinnen und Juden während der Schoah weckt.

Ergänzt wird Tibons Erzählung in Folge durch zwei Gedichte von Gad Kaynar Kissinger: „Das Lied von Re’im“ und „Letztendlich“. Diese zeigen Bilder von Grausamkeit und Tod und verbinden die Massaker des 7. Oktober explizit mit der jüdischen Geschichte und einer traurigen Hoffnungslosigkeit von Gegenwart und Zukunft. In „Das Lied von Re’im“ zeichnet die Aufzählung der hinterlassenen Gegenstände der Opfer des Nova-Musikfestivals das Bild der Zerstörung, das einst Teil eines Museums und somit Teil der jüdischen Geschichte sein wird. Kaynar verdichtet die Grausamkeit der Folterungen, Vergewaltigungen und Abschlachtungen in einem einzigen Wort: „Schoah“. (S. 27) Er schreibt:

„Es erwies sich, dass es keiner Gruben bedarf wie in Ponary oder Babyn Jar.
Auch auf offener Ebene kann man Juden ermorden.“ (S. 26)

Sein Blick in die Zukunft ruft Bilder der Vergangenheit auf und ist bitter. Denn: „die Schüler werden nach Re’im fahren statt nach Polen.“ (S. 26) Das Trauma der Schoah hat sich wiederholt und bleibt sichtbar im eigenen Land, das Sicherheit geben sollte und versagte. Die Hoffnung auf Frieden erlischt, wenn es heißt:

„das Land wird Ruhe haben
vierzig Minuten lang.“ (S. 27)

Die biblischen vierzig Jahre sind reduziert auf Minuten. Umso hoffnungsloser erscheint die Zukunft, wenn aus der Ankunft im versprochenen Heiligen Land „letztendlich“ in ebendiesem Gedicht eine Rückkehr nur „fast“ aller wird. Und auch diese Rückkehr wird doppelt eingeschränkt am Beispiel des „Kind Yagil“. Der zwölfjährige Yagil Yaakov, der aus dem Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober entführt wurde, während seine Mutter am Telefon hörte, wie er sagte: „Nehmt nicht mich, ich bin zu jung.“ Dieses „Kind Yagil“ kehrte tatsächlich nach der Veröffentlichung des Gedichts im Rahmen des sogenannten Gefangenenaustauschs am 27. November zurück. Doch, so schreibt Kaynar

„Sein Lächeln
seine Unschuld
seine Kindheit
werden für immer in der Gefangenschaft bleiben.
In Gaza.“ (S. 28)

Sprachlich buchstäblich zerrissen in ihre Einzelteile scheint die Kindheit Kindern somit keine Kraft und keine Möglichkeit mehr zu geben, für einen Frieden zu handeln. Gaza wird für immer für diesen Verlust von Kindheit und Freude stehen: „Letztendlich“.

Dem Ziel, die Geiseln zu retten, widmet sich der Email-Austausch des Friedensaktivisten und Initiators des seit 18 Jahren bestehenden inoffiziellen diplomatischen Kanals zwischen Israel und der Hamas, Gershon Baskin. Der bereits an den Verhandlungen um die Freilassung Gilad Shalits beteiligte Gründer des IPCRI (Israel Palestine Center for Research and Information) nahm noch am 7. Oktober Kontakt zu seinem ehemaligen Verhandlungspartner, einem Minister im Kontrollgremium der Hamas, Ghazi Hamad, auf. Er bemühte sich um einen Geiseldeal und Friedensverhandlungen, die Opfer auf beiden Seiten verhindern sollten, bevor Hamad in einem Interview mit dem libanesischen Sender LBC betonte, den Angriff des 7. Oktober mehrfach wiederholen zu wollen und der Austausch zum Erliegen kommt.

Doch schon zuvor erscheint der Email-Verkehr einseitig. Baskin übt massive Kritik an der israelischen Besatzung, zeigt Empathie und Mitleid mit palästinensischen Opfern, will Opfer unter palästinensischen Zivilisten verhindern, doch Hamad zeigt keine Gesprächsbereitschaft.

Baskin schreibt: „Letztlich enden Kriege nur, wenn die Feinde miteinander sprechen.“ (S. 31) und fährt fort: „Lass uns etwas tun.“ (S. 31) Er möchte „eine Möglichkeit für einen kleinen Deal finden, erst mal für Frauen und Kinder.“ (S. 32) Und schreibt: „Wir alle kennen Leute, die verschleppt oder umgebracht worden sind. Israelis und Palästinenser sitzen im selben Boot. Lass uns überlegen, wie wir Leben retten, statt mehr zu töten.“ (S. 32) Die Antworten sind knapp und kaum kompromissbereit: „Wir müssen alle Gefangenen freihaben.“ (S. 32) Hamad scheint nicht an einer Lösung interessiert, die das Leid auf beiden Seiten beendet. „Wir können erst über die Gefangenen reden, wenn die Angriffe auf Gaza aufhören.“ (S. 33) und einen Tag später heißt es: „Damit ich dich richtig verstehe: alle palästinensischen Gefangenen werden für eure Geiseln freigelassen?“ (S. 33)

Kurze, knappe Sätze reagieren auf lange Bitten, kompromisslose Forderungen ignorieren das Flehen um unschuldige Leben. „Ghazi, lass uns im Namen der Menschlichkeit einen Deal für die Frauen und Kinder machen.“ (S. 32); „Handle humanitär! (…) Handle als der Mensch, wie ich ihn kenne. Hilf diese unschuldigen Menschen nach Hause zu schicken.“ (S. 34) Und „Ghazi, sei ein Held, tu das Richtige, mach dich auf den Weg und befreie Geiseln.“ (S. 34) Es ist kein Politiker, der hier spricht. Gershon Baskin schreibt als Mensch, der einen Freund um Menschlichkeit anfleht, der nach dem Schlimmsten noch Schlimmeres verhindern will. Doch die Antworten sind hart: „Dein Herz und dein Denken ist israelisch, du brauchst die Besatzung, um zu töten und zu zerstören, aber wir werden immer euren brutalen Staat ablehnen, der Frauen und Kinder tötet, du solltest Scham empfinden für euren barbarischen Staat. Die Hamas wird kämpfen und immer weiter kämpfen, bis wir frei sind. Die Hamas wird nie aufhören.“ (S.34/5) So lautet die ausführlichste Antwort.

Baskin zählt die Verbrechen an Babys, jungen Familien und alten Menschen auf, die unfassbaren Grausamkeiten, die man vom IS, nicht von den Palästinensern kenne, gesteht die Ungerechtigkeit der Besatzung zu, doch verweist auf Moral, auf Menschlichkeit und auf den Islam. Er fleht den vermeintlichen Freund, den er in Gaza glaubt, um ein Entgegenkommen an. Er möchte den Deal auf den Weg bringen, bevor die Bodenoffensive beginnt und weitere Unschuldige sterben. Er sucht den Weg über Vermittler in anderen Ländern. Doch Hamad schreibt die alleinige Schuld Israel zu. „Gershon, du musst wissen, dass wir keine Angst haben“, schreibt er. (S. 40) An allem seien die Angriffe aus Israel schuld, die auf das Massaker des 7. Oktober gefolgt waren. Auf Baskins Fragen nach dem dauerhaften Raketenbeschuss aus Gaza geht er nicht ein. Zeitweise gibt Hamad vage Verhandlungsbereitschaft bei maximalen Forderungen vor, behauptet, auf eine Antwort seiner Leitung zu warten. Seine Einlassungen bleiben kurz, wenige Worte, emotionslos. Empathielos.

„Du redest immer nur, statt zu handeln. Ich will meine Zeit nicht verschwenden“ (S. 46), schreibt er am 25. Oktober – der Tag, an dem Baskin erfährt, dass Hamad sich bereits seit drei Monaten in Beirut aufhält. „Wer macht hier Spielchen?“, fragt er ihn. (S. 46) Und einen Tag später: „Warum bist du nicht bei deinen Leuten?“ (S. 47) Doch Hamad antwortet nicht mehr. Bis zum 1. November noch schreibt Baskin Emails, dann versiegt der Kontakt: „Nach über 17 Jahren Kontakt ist der Mann, den ich schon so lange kenne, ein anderer geworden, einer, der seine Leute in Gaza im Stich gelassen und der jetzt der offizielle Hamas-Sprecher für diesen Krieg ist.“ (S. 48) Wie kein anderer Text dieses Bandes offenbart dieser Email-Wechsel eine tiefe Hoffnungslosigkeit, indem selbst eine jahrelange Freundschaft an einer zutiefst menschenverachtenden Ideologie zerbricht, die keinerlei Empathie und Humanität erlaubt.

Dieser Hoffnungslosigkeit versucht sich die Psychologin und Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen entgegenzustellen. Aus der Sicht der Psychologin, die nach dem 7. Oktober mit den Überlebenden arbeitete, beschreibt sie das Trauma. Die einzige Perspektive, die das Massaker gelassen habe, sei der Schmerz. Jedoch sei es für die Genesung der Überlebenden notwendig, eine neue Erzählung zu schaffen, „die das Trauma anerkennt, aber daneben auch noch anderes zulässt.“ (S. 63) Der Terrorangriff habe nicht allein das Ziel gehabt, Menschen zu ermorden, sondern darüber hinaus, die Seelen der Überlebenden abzutöten. Und so grauenhaft das, was geschah, ist, so notwendig sei es, „eine grauenhafte Geschichte, die nie hätte geschehen dürfen“ (S. 66), zu erzählen, in Worte zu fassen, zu benennen – und diese grauenhafte Geschichte schließlich in eine zeitliche Abfolge zu bringen, die der Vergangenheit angehört. Sodann müsse ein alternatives Narrativ gefunden werden, eine Perspektive, die aus dem handlungsunfähigen Opfer, welches zufällig überlebte, „aus der Requisite des Angreifers wieder eine Hauptperson macht.“ (S. 68) Die traumatisierten Menschen, die womöglich Schuld empfinden, da sie überlebten, während ihre Lieben ermordet wurden, müssen in die Lage versetzt werden, sich als Handelnde zu begreifen, die sich eine Zukunft schaffen können, ohne Verlorene zu verraten.

„Diese Methode“, so erklärt Gundar-Goshen, „die in der Traumatherapie mit einzelnen Überlebenden angewendet wird, „verpflichtet auch die israelische Gesellschaft als ganze.“ (S. 71) Dann könnte vielleicht gebremst werden, was der Schriftsteller David Grossman im Februar schrieb: „Noch immer stürzen wir in den Abgrund“. (S. 79) Denn am 7. Oktober erlebten die Israelis, was passieren würde, „wenn es Israel nicht mehr gäbe“. (S. 79) Ähnliches Entsetzen empfinden und erleben Jüdinnen und Juden weltweit.

Die Zivilgesellschaft Israels widmet, wie der Beitrag von Andrea Livnat schildert, bald schon vorhandene Netzwerke und Strukturen des politischen Widerstands gegen die von Netanjahu geplante Justizreform um. So kommt die Logistik des Protestes der Unterstützung derjenigen zugute, deren Häuser in den Kibbuzim und Wohnungen in den Städten zerstört wurden, der Unterstützung von Evakuierten und Vertriebenen, der Familien der Geiseln, der Soldaten und Familien der Gefallenen. Die Bilder vom 7. Oktober einten lange die zuvor in der Debatte um die Justizreform fast gespaltene Gesellschaft. Grossman fragt mit Blick darauf, warum „nur Bedrohungen und Gefahren uns zusammenrücken lassen.“ Er empfindet eine schmerzhafte Erkenntnis, „dass wir in die jüdische Existenz zurückgeworfen wurden, in die Existenz eines schutzlosen und verfolgten Volkes“ (S. 83) und fragt zugleich, warum nicht Israelis und Palästinenser größeres Verständnis füreinander aufbringen können, da für sie beide das Trauma der Flucht konstitutiv sei.

Grossman hält die Ignoranz derer für unerträglich, die Israel als jüdischen Kolonialstaat kritisieren und hierbei übersehen, dass kein jüdisches Mutterland einer optionalen Kolonie existiert, sondern Jüdinnen und Juden bereits seit 4000 Jahren in der Region des heutigen Staates leben. Ihn ängstigt der weltweite mörderische Hass auf Israel. Diesem Hass, besonders ausgehend von der politischen Linken widmet sich auch die Soziologin Eva Illouz in ihrem Beitrag.

Grossman blickt angesichts dessen voller Verzweiflung in die Zukunft: Die jüdische Existenz stelle sich mit dem Blick in die Welt als schutzlos heraus: „Nur wenn es um Israel geht, darf man unverhohlen die Zerstörung dieses Staates fordern“ trotz gleichzeitigem „offen geäußerten Wunsch von Iran, Hisbollah, Hamas und anderen Gruppen“ (S. 84), dass Israel nicht mehr existiere. Seine „existentielle Einsamkeit“ (S. 85), als einziger Staat der Welt „immer nur auf Bewährung“ zu existieren (S. 84), treibe Israel dazu, seine „destruktivsten Fehler zu wiederholen.“ (S. 85) Grossman fragt: „Wer werden wir – die Israelis und die Bewohner des Gazastreifens sein, nachdem dieser lange, grausame Krieg beendet sein wird?“ Neben dem subjektiven Umgang mit der moralischen Schuld „für das, was wir unschuldigen Palästinensern angetan haben“ fragt er nach der Bereitschaft „ein volles Leben auf des Messers Schneide zu führen“. Er sieht als einzige Lösung, ja als Zwang für alle Menschen eine Zweistaatenlösung, wobei er ratlos ist, wie „man mit einem Feind Abkommen schließen“ solle, der es als seine „religiöse Pflicht“ betrachtet, „Israel auszulöschen.“ (S. 86)

Abschließend formuliert er als Konklusion eine wenig freudige Hoffnung, dass der Konflikt reif sei, „zu einer vernünftigen, moralischen und humanen Lösung zu kommen.“ Auch wenn dies nicht „voller Hoffnung und Begeisterung“, sondern „aus Verzweiflung und Erschöpfung“ geschehe: „Wir mussten anscheinend erst durch die Hölle gehen, um an den Punkt zu gelangen, von dem aus man an einem besonders klaren Tag den äußersten Zipfel des Paradieses sieht.“

Die Hilfe, die Unterstützung anderer Staaten, die Grossman sich erhofft, sieht man mit Blick auf Deutschland in diesen Tagen, in denen sich Israel zunehmend gegen die Terrororganisation der Hisbollah zur Wehr setzen muss, um seine Bevölkerung im Norden des Landes zu schützen, mehr denn je enttäuscht – medial und politisch. Bitter und traurig.

Rückgreifend auf die im Text Gundar-Goshens dargestellte Methodik psychischer Gesundung, ein Narrativ sowie ein alternatives Narrativ zu finden, könnte dies auch mit Blick auf die israelische Gesellschaft eine Hilfe sein, die man sich von verantwortungsvoll und humanistisch denkenden Gemeinschaften außerhalb Israels wünschen würde. Vielleicht ließe sich so das Trauma zu lindern und vielleicht ein Weg in eine alternative Zukunft finden helfen? Vielleicht wäre das ein möglicher Umgang mit einer moralischen Verpflichtung und historischen Verantwortung? Vielleicht wäre ein Schritt der Hilfe der, dem Leid Raum zu geben. Zuzuhören, mitzufühlen.

Mit diesem Band liegt nun eine Möglichkeit vor, sich zu informieren, Facetten und Ansichten jenseits grausamer Bilder zu sehen, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, sie zur Kenntnis zu nehmen.

Ein kleiner Nachtrag zu einer fehlenden Facette des Almanachs: Das Vorhaben der Herausgeberin, auch palästinensische Stimmen zu Gehör zu bringen, scheiterte. Mehrere palästinensische Autorinnen und Autoren waren angefragt, doch einen Beitrag konnte die Herausgeberin „nicht realisieren.“ (S. 12) Sie blieben – selbstgewählt – stumm.

Trotzdem wird in diesen „Stimmen aus Israel“ Vieles lesbar, was im europäischen Lärm der wissens- und gewissenlosen Meinungen, der faktenresistenten haltungslosen Unter-Haltungen untergeht. So kann das stille Lesen dann vielleicht dem Einen oder der Anderen eine neue Perspektive offenbaren und einen Anreiz geben, zuerst nachzudenken, bevor die eigene Stimme erhoben wird.

Gisela Dachs (Hg.), 7. Oktober. Stimmen aus Israel, Jüdischer Almanach 2024, Jüdischer Verlag im Suhrkamp 2024, 200 S., Euro 23,00, Bestellen?

LESEPROBE

VERANSTALTUNGEN:

Buchpräsentation im Centrum Judaicum Berlin
6. Oktober 2024, 16 Uhr

Weitere Informationen: https://centrumjudaicum.de

Buchpräsentation in München
8. Oktober 2024, 19 Uhr

Weitere Informationen: https://www.jgk.geschichte.uni-muenchen.de/