„Rufmordgehilfen der alten Mörder“

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Die einzige Kopie des Gedichtes in Erich Frieds Handschrift

Zu Erich Frieds Gedicht Beschreibung der ehrenhaften Bürger, die den Mord nicht Mord und die Opfer nicht Opfer nennen wollen. Dem Aufklärer Peter Finkelgruen gewidmet

Von Roland Kaufhold

Wir veröffentlichen hier auf haGalil erstmals ein bedeutsames historisches und literarisches Zeitdokument als Höraufnahme: Erich Frieds am 30.1.1980 spontan in Köln bei einer Podiumsdiskussion verfasstes Gedicht „Beschreibung der ehrenhaften Bürger, die den Mord nicht Mord und die Opfer nicht Opfer nennen wollen. Dem Aufklärer Peter Finkelgruen gewidmet“.

Die Aufnahme wurde von Kurt Tallert eingesprochen, der unter dem Künstlernamen Retrogott als Rapper seit über zwei Jahrzehnten Kultstatus genießt. Kürzlich hat er mit Spur und Abweg eine eindrückliche Spurensuche zu seiner jüdischen Familienbiografie vorgelegt. Hierin stellt er auch Bezüge zu Peter Finkelgruens Vita her. Von uns veröffentlich wurde das Gedicht zuvor in Finkelgruens Edelweißpiratenbuch (Finkelgruen 2020, S. 177f).

 

 

Beschreibung der ehrenhaften Bürger, die den Mord nicht Mord und die Opfer nicht Opfer nennen wollen

(Dem Aufklärer Peter Finkelgruen gewidmet)

Von Erich Fried

Sie sind nicht Mörder
und sie sind auch nicht Schreibtischmörder.
Wie soll ich sie nennen?
Denn genannt müssen sie werden.

Sie sind Mordverheimlicher
und Ermordetenverleumder.
Sie sind Henkersbemäntler
und Hinrichtungsverniedlicher.

Sie sind Blutjustizrechtfertiger
und Todesopportunisten,
die sich um die Wahrheit drücken,
weil sie unbeliebt sein könnte
bei den von ihnen selbst
und von Ihresgleichen
nicht oder ungenügend
oder falsch Informierten.

Sie sind nicht Mörder
und sie sind auch nicht Schreibtischmörder,
doch sie sind Rufmordgehilfen
der alten Mörder.

Und ohne sie
würde der Mord weithin sichtbar
und die Ermordeten wären sichtbar als Opfer
und die Mörder als Mörder
und das Unrecht als Unrecht.

Sie sind furchtbar jämmerlich
und sie sind jämmerlich furchtbar
und sie sind immer noch
erbärmlich erbarmungslos.

Gespr. von Kurt Tallert

 

Köln 1980: Eine eindrückliche Szene

Peter Finkelgruen erinnert sich an die 44 Jahre zurückliegende Szene noch sehr präzise:
Am 30.1.1980 saßen Erich Fried und Peter Finkelgruen auf einem Kölner Podium. Es ging um die Anerkennung der Kölner Edelweißpiraten als politische Widerständler und als „Unangepasste“; etwa 400 Zuhörer waren gekommen.

Als weiterer prominenter Zeitzeuge und Diskussionspartner war Michael Jovy vorgesehen (Kaufhold 2020b). Da der Diplomat Jovy ausgerechnet am 30.1.1980 sein Beglaubigungsschreiben als deutscher Botschafter in Bukarest überreicht bekam, erstellte er für diese Diskussionsveranstaltung ein Video mit seiner Zeitzeugenaussage zu seinem eigenen mutigen jugendlichen Widerstand in Köln gegen die Nationalsozialisten. Auch Mike Jovys im Januar 1980 ausgestrahlte Zeitzeugenaussage hat Finkelgruen in seinem Edelweißpiratenbuch veröffentlicht (Finkelgruen 2020, S. 173-176, vgl. Kaufhold 2020b).

Für seinen Widerstand hatte Jovy (vgl. Kaufhold 2014) einen sehr hohen Preis bezahlt: Er hatte eine mehrjährige Haftstrafe wegen „Hochverrats“ erhalten und „abgesessen“. Noch während seiner Haftzeit, 1943, hatte der seinerzeit 23-jährige Michael Jovy den 14-jährigen Kölner Edelweißpiraten Jean Jülich (vgl. Kaufhold 2020a, S. 321f., Kaufhold 2012, Finkelgruen 2011) zu einem konspirativen Gespräch empfangen. Jülich, der bereits als Kind die Verfolgungsmaßnahmen gegen seinen Vater nahezu täglich erleben musste, wusste sehr genau, wie gefährlich sein Treffen mit dem in Haft sitzenden Jovy für ihn war. Und dennoch stimmte er diesem illegalen Treffen zu.

Der politisch erfahrene „Jugendführer“ und Demokrat Jovy wies den neun Jahre jüngeren Edelweißpiraten Jülich darin ein, sich gemeinsam mit seinen widerständigen Freunden, überwiegend Kölner Edelweißpiraten, auf einen demokratischen Neuanfang in Köln nach der – erhofften – Niederlage der deutschen Nationalsozialisten vorzubereiten.

„Höchst lebendiger Geschichtsunterricht“

Jean Jülich war zu der besagten Kölner Podiumsdiskussion (1980) zwischen Fried und Finkelgruen gleichfalls gekommen, gemeinsam mit fünf weiteren ehemaligen Edelweißpiraten. Gemeinsam sangen sie, wohl erstmals öffentlich, einige ihrer Edelweißpiratenlieder der 1930er und 1940er Jahre. Diese hatten sie während ihres Engagements als unangepasste Jugendliche und Widerständige gegen den Nazigeist nachdrücklich und identitätsstiftend geprägt (Finkelgruen 2020, S. 177f, 215; Jülich 2003; Kaufhold 2020b, S. 323-331).

In „Soweit er Jude war…“ (Finkelgruen 2020) erinnert Finkelgruen sich an weitere Aspekte dieser Szene:

„Die Erklärung des Botschafters Dr. Jovy und die Mit­teilungen der früheren Edelweißpiraten an diesem Abend waren ebenfalls höchst lebendiger Geschichtsunterricht. Statt der vorgesehenen Diskussion von Experten wurden fünf der ehemaligen Nazigegner aufs Podium gebeten, wo sie Fragen aus dem Publikum beantworteten. Vorher aber sangen sie einige Lieder zur Gitarre, die sie damals vor allem auf Fahrten gesungen hatten. Jean Jülich hatte einige Monate vorher von anderen Überle­benden ein aus dieser Zeit erhaltenes Liederheft mit Texten erhalten. Und diese Texte machen deutlich, dass die NS-Machthaber bei ihrer Einschätzung der Edelweiß­piraten als Opposition sehr Recht hatten.“ (Finkelgruen 2020, S. 178)

Bei dieser Edelweißpiraten-Podiumsdiskussion ging es um das Fortwirken der Nazizeit auch 35 Jahre später – und um die mangelnde Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, die nationalsozialistischen, die deutschen Verbrechen wirklich innerlich und politisch anzuerkennen.

Prof. Ulrich Klug und Mike Jovy

Vor allem jedoch ging es bei der sehr gut besuchten Kölner Podiumsdiskussion um die Anerkennung der widerständigen Kölner Edelweißpiraten. Während dieser Diskussionsveranstaltung war auch der renommierte Kölner Jura-Hochschullehrer und FDP-Politiker Prof. Ulrich Klug anwesend. Klug, einer der Hauptmotoren des Liberalen Zentrums Köln, war seinerzeit prominenter Sprecher der Kölner Initiative zur Anerkennung der Edelweißpiraten (Finkelgruen 2020, S. 9, S. 128-130; Kaufhold 2020a). Zugleich war er mit Peter und Irmtrud Finkelgruen – Finkelgruens früherer Ehefrau (vgl. Kaufhold 2022a, S. 45-66) – befreundet.

Der 1942 geborene Peter Finkelgruen (vgl. Kaufhold 2011) war, neben dem jungen Forscher Matthias von Hellfeld, seit 1978 der erste Journalist, der das Unrecht journalistisch aufarbeitete, erstmals mit Verfolgten sprach und sich für die Anerkennung der Kölner Edelweißpiraten engagierte. Seinerzeit galten die wenigen mutigen Kölner Jugendlichen noch als „Kriminelle“, als gesellschaftlich Ausgestoßene. Ohne die linksliberalen FDP-Politiker Baum, Klug und Finkelgruen hätte es niemals eine – 25 Jahre später durch J. Roters formal vollzogene – „Rehabilitation“ der mutigen Kölner Edelweißpiraten gegeben. Und auch keine Anerkennung von drei Kölner Widerständlern (Jovy, Jülich und Schink) durch Yad Vashem im Jahr 1984 (Kaufhold 2020)! 

„Jovy empfand diese Verurteilung durchaus mit Stolz“

Der 1920 geborene, aus der bündischen Jugend stammende Widerständler Michael „Mike“ Jovy gehörte für Finkelgruen, wie er in seinem Edelweißpiratenbuch eindrücklich beschrieben hat (Finkelgruen 2020, Kaufhold 2020a, b), Mitte der 1970er Jahre zu den wichtigsten Gesprächspartnern und glaubwürdigen Zeitzeugen. 1979 hatte Finkelgruen ihn erstmals besucht. Er erinnert sich:

„In meinem Gespräch mit Dr. Jovy ging es in der Haupt­sache um seine persönliche Geschichte, um seine Akti­vität in der Bündischen Jugend und um die Verbindung zu den Aktivitäten der Kölner Edelweißpiraten.

Der heutige Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Bukarest, Michael „Mike“ Jovy, hat nach dem Krieg selbst die Erfahrung machen müssen, wie der bundesrepublikanische Beamtenapparat auf Widerstandsaktivität im Dritten Reich reagiert. Er hatte es abgelehnt, seine „Vorstrafe“ – die Verurteilung durch den Volksgerichtshof – aus dem Strafregister streichen zu lassen, was ihm ange­tragen wurde. Er empfand diese Verurteilung durchaus mit Stolz als Beleg für das, was die Präambel zum Bundesentschädigungsgesetz als „… Verdienst um das Deutsche Volk“ bezeichnet. Als junger Attaché im Dienst des Auswärtigen Amtes musste er erleben, dass die Verurteilung wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ Anlass war für Ermittlungen des Verfassungsschutzes gegen ihn. Während der Dauer dieser Ermittlungen hatte der junge Attaché Hausverbot an seinem Arbeitsplatz; er durfte in dieser Zeit das Auswärtige Amt nicht betre­ten.

Botschafter Dr. Jovy hat erst durch das Gespräch mit mir erfahren, in welchem Ausmaß die jugendlichen Wi­derstandskämpfer verleumdet werden. Er sagte mir, daß er entschlossen sei, seinen Beitrag zur Rehabilitierung der Ermordeten zu leisten. Die Bürgerinitiative plante daraufhin erneut eine öffentliche Veranstaltung, bei der Dr. Jovy den Widerstandscharakter der Ehrenfelder Gruppe aus seiner persönlichen Erfahrung bestätigen wollte“ (Finkelgruen 2020, S. 172f.).

Der jüdische Lyriker Erich Fried

Dies ist der Hintergrund für Erich Frieds spontanes, zorniges Gedicht Beschreibung der ehrenhaften Bürger, die den Mord  nicht Mord und die Opfer nicht Opfer nennen wollen. Dem Aufklärer Peter Finkelgruen gewidmet“.

Der 1921 in Wien geborene Jude, Lyriker und politische Essayist Erich Fried hatte nur mit Glück, nach seiner Flucht über Belgien nach London, die Nazizeit überlebt. Am 5.8.1938 kam er in London an, London sollte für den Rest seines Lebens seine Heimat bleiben. Frieds Vater Hugo hingegen war 1938 an den Folgen der Gestapo-Verhöre und Folter gestorben; auch seine Großmutter wurde von den Deutschen ermordet. Seine Gedichte, von denen viele stark politisch und „links“ waren, sowie seine öffentlichen Lesungen, erlangten in den 1970er und 1980er Jahren Kultstatus besonders innerhalb der „linken“, jugendlichen Szene.

Seine Freundschaft mit dem harten Neonazi und bekennenden Antisemiten und Shoahleugner Michael Kühnen, Führer der damaligen „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“, den er 1985 auf eigenen Wunsch besuchte und mit dem er einen persönlichen Briefwechsel pflegte, erregte insbesondere auch unter seinen literarischen jüdischen Freunden Verwunderung bis hin zu blankem Entsetzen.

Bei einer Schriftstellertagung wenige Jahre vor Frieds Tod (1988) rief die jüdische Lyrikerin Hilde Domin, wie sich Finkelgruen erinnert, irgendwann genervt und dennoch freundschaftlich in den Saal“: „Erich, muss das denn sein? Höre doch auf mit dem Quatsch!“ Hilde Domin, die mit Fried über 24 Jahre lang einen Briefwechsel führte (Bonosi 1988), verzweifelte an den politischen Irrwegen ihres jüdischen Kollegen.

Erich Frieds Briefwechsel mit dem Neonazi wie auch Frieds „verquerter“ politischer Antizionismus (vgl. Frieds Gedichtsammlung „Höre, Israel!“, 1974 sowie 1983 in erweiterter Version erschienen) steht in einem spannenden Kontrast zu Frieds hier veröffentlichtem, von Kurt Tallert gesprochenem Gedicht (1980). Sein Briefwechsel mit dem harten Neonazi war auch Ausdruck eines persönlich-politischen Scheiterns und einer grotesken Fehleinschätzung. Die Spaltung in der Seele des jüdischen Emigranten und literarischen Aktivisten blieb – offenkundig bis zu seinem Tod.

–> „Soweit er Jude war…“
Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944

Literatur

Baum, G. (2020): Vorwort von Gerhart Baum (2019) sowie Vorwort von Gerhart Baum (1981). In: Finkelgruen (2020): Soweit er Jude war, S. 9-17.

Bonosi, L. (Hg., 1988): „Die Liebe und nicht der Hass“. Hilde Domin – Erich Fried. Briefwechsel 1964-1988, Praesens Verlag (2023).

Finkelgruen, P. (2011): Erinnerungen an Jean Jülich, haGalil, 5.12.2011: https://www.hagalil.com/2011/12/juelich-2/

Finkelgruen, P. (2020): „Soweit er Jude war…“. Moritat von der Bewältigung des Widerstandes – die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944“. Mit zwei Vorworten von Gerhart Baum. Herausgegeben von R. Kaufhold, A. Livnat und N. Englhart. BoD. ISBN-13: 9783751907415.

Jülich, J. (2003): Kohldampf, Knast un Kamelle. Ein Edelweißpirat erzählt sein Leben. Köln: KiWi.

Kaufhold, R. (2012): Keine Heimat. Nirgends. Von Shanghai über Prag und Israel nach Köln – Peter Finkelgruen wird 70, haGalil, 5.3.2012: https://www.hagalil.com/2012/03/finkelgruen-7/

Kaufhold, R. (2014): Eine späte Rehabilitierung. Eine Erinnerung von Peter Finkelgruen an einen ehemaligen Widerstandskämpfer (Georg Ferdinand Duckwitz und Michael Jovy): https://www.hagalil.com/2013/12/edelweisspiraten-2/

Kaufhold, R. (2020a): Die „Kölner Kontroverse“? Bücher über die Edelweißpiraten. Eine Chronologie. In: Finkelgruen (2020), S. 217-342. (BoD. ISBN-13: 9783751907415).

Kaufhold, R. (2020b): Michael „Mike“ Jovy: Ein Leben gegen den Strom, in: Kaufhold (2020a), S. 321-331.

Kaufhold, R. (2021a): Jean Jülich (18.4.1929 – 19.10.2011): „Ich wor doch och ene Kraat!“ Vor 10 Jahren verstarb der Kölner Edelweißpirat und widerständige Lebenskünstler Jean Jülich, haGalil, 18.10.2021: https://www.hagalil.com/2021/10/jean-juelich/

Kaufhold, R. (2021b): Die Kölner Edelweißpiraten „als Vierte Front in Köln“. Kriminalisierung versus Anerkennung des jugendlichen politischen Widerstandes, in: Lernen aus der Geschichte, 2021: https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/15208

Kaufhold, R. (2022a): „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland. Mit einem Vorwort von Peter Finkelgruen. BoD 2022, ISBN 3756819205: https://www.hagalil.com/2022/10/finkelgruen-kaufhold/

Kaufhold, R. (2022b): Der Fall Irmtrud Finkelgruen (1971-1974). In: Kaufhold (2022a): „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ BoD 2022, S. 45-66.

Kaufhold, R. (2024): „Ich bin darin dem „abtrünnigen Juden“ treu“. Kurt Tallerts jüdische Familienbiografie, haGalil, 15.8.2024: https://www.hagalil.com/2024/08/kurt-tallert/

Tallert, K. (2024): Spur und Abweg. Köln: Dumont.