Dror Mishanis „Fenster ohne Aussicht“

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Dieses Buch hinterlässt bei mir einen bitteren Nachgeschmack. Nicht allein aufgrund der Darstellung des 7. Oktober selbst im „Tagebuch aus Tel Aviv“ (so der Untertitel) durch Dror Mishani; nicht wegen der Entwicklung in Israel seit dem 7. Oktober, ebenso wenig aufgrund des Wissens um die Zunahme der Bedrohung gegen Israel seit dem Abschluss des Tagebuchs im März 2024. Sondern vor allem aufgrund der zentralen Frage, die der Autor in „Fenster ohne Aussicht“ aufwirft und unbeantwortet lässt: „Warum soll dieses Tagebuch hier nicht auf Hebräisch erscheinen?“ (S. 198). Ende Juni erschien es in Deutschland, auf Deutsch, nicht jedoch in Israel, nicht auf Iwrith.

Von Eva M. Grünewald

Dror Mishani, prominenter israelischer Schriftsteller, Krimiautor und Literaturdozent an der Universität Tel Aviv, schildert in sehr persönlicher Weise sein Erleben des 7. Oktober 2023 in seiner Rolle als Vater, Ehemann, Bruder und Sohn, sowie seine Sicht auf die Gesellschaft in Israel und ihre Entwicklung seither in seiner Rolle und Funktion als Autor.

Den 7. Oktober erlebt Mishani bei einem Krimifestival in Toulouse. In Kurznachrichten teilt ihm seine Frau mit, dass „irgendetwas passiert“ sei, was sich für Mishani durch den Blick auf israelische Nachrichtenseiten und in Soziale Medien, schon bald als „etwas anderes“ herausstellt als es „immer mal wieder“ der Fall sei (S. 10). Zunächst ist er unsicher, meint zu übertreiben, wenn er den Festivalteilnehmer*innen und -organisator*innen vom bevorstehenden „Großen Krieg“ erzählt, doch ist es der Blick in israelische Medien, der ihm verdeutlicht: „die Lage ist viel schlimmer, als ich sie ihnen – und mir selbst – geschildert habe.“ (S. 13)

Bilder und Tondokumente des „Massenmords an Zivilisten (…) live übertragen“ überzeugen ihn, so bald er einen Flug bekommt, nach Israel zu seiner Familie zurückzukehren, die den wichtigsten Bezugspunkt seiner Gedanken und Gefühle bildet.

Seine Tochter denkt über geeignete Verstecke vor Terroristen nach, beispielsweise ein Koffer im Abstellraum (S. 17) – Erinnerungen an die Schoah werden wach. Das Trauma des 7. Oktober reißt nie wirklich verheilte jüdische Wunden erneut auf. Während der Sohn sich zurückzieht und mit Videospielen vor der Realität abschottet, wird die Tochter in Albträumen von Terroristen verfolgt. Sie identifiziert sich mit Israel und hadert doch mit der eigenen Identität. Als Tochter einer Nicht-Jüdin fragt sie, wer sie als Jüdin anerkenne, denn die jüdische Tradition knüpft die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft an die jüdische Mutter. Mishani antwortet: „Hitler“ und stellt so Parallelen jüdischer Religionsgrundlagen zur rassistischen Ideologie der Nazis her. Zugleich weist er den Vergleich der Hamas mit den Nazis zurück, die „doch immerhin in kultivierter Form gemordet [hätten]“, wie Mishani seine Mutter zitiert (S. 87). Er gibt zu bedenken „was wir vorher getan haben und auch jetzt noch tun,“ helfe „uns ganz bestimmt nicht, die nächste Katastrophe zu verhindern.“ (S. 87) Ihn interessiere vor allem, „was wir tun können, um hier in Frieden zu leben.“ (S. 88)

Was das sein könnte, schreibt er nicht. Zwar kritisiert er das militärische Vorgehen in Gaza und die Entwicklung der Gesellschaft, doch geht er nicht darauf ein, dass die brutalen Morde, Vergewaltigungen, Folterungen und Entführungen des 7. Oktober von Angehörigen der Hamas ebenso begannen wurden wie von der sogenannten Zivilbevölkerung. Dass sie auch von Journalist*innen und UNRWA-Mitarbeiter*innen unterstützt wurden. Er erwähnt auch nicht, dass einer repräsentativen Umfrage zufolge über 73% der Bevölkerung sowohl Gazas als auch des Westjordanlands den 7. Oktober feierten und jederzeit wiederholen würden. 

Mishani schildert die israelische Gesellschaft im Schockzustand und kreidet ihr zugleich wachsendes Misstrauen und Rassismus an. Indes meint er sich selbst von der Kritik dieser Gesellschaft verfolgt. Der zweite wichtige Aspekt für Mishani nämlich ist seine Rolle und Funktion als Autor und kritische Stimme. Schon auf dem Rückflug von Toulouse verfasst er einen Artikel für die Tageszeitung Ha’aretz und wählt ein Alter Ego als Sprecher aus dem Off und moralische Instanz, die ihm als Autor des inszeniert wirkenden ‚Tagesbuchs‘ Anweisungen und Ideen einflüstert. „Schreib die ganze Wahrheit“, lässt er dieses Alter Ego auftreten, „du hast geschrieben, um zu handeln, um etwas zu unternehmen, um dich aktiv zu fühlen angesichts einer Realität, die dich machtlos zurückgelassen hat.“ (S. 31)

Schreiben über den Krieg, Schreiben gegen den Krieg: von der Illias, über Stefan Zweig oder Natalia Ginzburg bis hin zum Alten Testament bilden Schriften die Folie für seine Gedanken. Die zentrale Parallele stellt er zur Geschichte der Philister her: „die Palästinenser versuchen, unsere Häuser zum Einsturz zu bringen, und brechen gemeinsam mit uns unter den Trümmern zusammen“ (S. 146).

Viele Gedanken formuliert er, denen man folgen kann und die plausibel erscheinen. Jedoch behauptet er, einem Schreibverbot zu unterliegen und kritisiert die Konstruktion einer homogenen Gemeinschaft als unmittelbare Reaktion auf Grauen und Massenmord. Mishani fragt: „wie soll ich über mich reden, wenn es schon kein „ich“ mehr gibt, sondern nur noch ein „wir“, wenn Familie und Gemeinschaft in Gefahr sind, im Krieg?“ (S. 32)?

Israel ist eine Demokratie, deren Wahlverhalten nicht zuletzt aufgrund einer berechtigten Angst vor den sie umgebenden Feinden zu einer rechten Regierung geführt hat. Dennoch hat dieses kleine Land über Monate hinweg gezeigt, wie kritisch es die eigene rechte Regierung betrachtet. Hunderttausende gingen vor dem 7. Oktober auf die Straße, bemüht, für ihre Demokratie einzustehen. Nach einer kurzen Pause sind es wieder Zehntausende, die ein Abkommen fordern, um die Geiseln nach Hause zu bringen, die Frieden fordern. Nichts bleibt hier unwidersprochen, Kritik und Widerstand, Streit und Diskussion gehören zur DNA. Also: Wohin gehört ein solcher Text, wenn nicht in die Gesellschaft, von der er handelt? Muss ein Autor nicht auch Widerspruch aushalten? Muss nicht ein Autor, dessen Instrument und Medium die Sprache ist, ertragen, dass man ihn auffordert, zu schweigen – um dann wohlüberlegt dieser Forderung entweder nachzukommen oder eben nicht?

Kritiker bezeichnet Mishani als „Jäger“, von denen er sich selbst ebenso verfolgt sieht, wie es andere Kritiker des Krieges seien: „Wer gerade nicht Jagd auf Terroristen in Gaza macht, trägt das Seine zum Krieg bei, indem er sich an der Jagd auf Prominente beteiligt, die das Massaker nicht nachdrücklich genug verurteilt haben oder auch danach noch „linke Ansichten“ äußern.“ Selbst Intellektuelle und Freunde von ihm würden sich an der Jagd in den sozialen Netzwerken beteiligen, indem sie eine „Kontextualisierung“ fordern. (S. 96)

Er trägt sich mit dem Gedanken an ein Projekt über die Polizeistation in Sderot, in dem er nicht allein über die Polizeibeamten dort schreiben möchte, sondern auch über die Hamas-Täter, doch „uns hierzulande ist so etwas untersagt“, behauptet er, sein Projekt mit der Gerichtsreportage über den Terroranschlag im Bataclan 2015 von Emmanuel Carrére vergleichend (S. 164). Den Perspektivwechsel, den er wiederholt fordert – („Sieh hin: Vor vier Monaten hattest du noch Angst, deine Stadt würde in diesem Krieg verheert werden. Und jetzt diese Ruinenlandschaft (…). Verwüstung und Zerstörung, die auch in deinem Namen geschieht. Sieh hin.“; S. 178) – erklärt er für verboten – ohne die verbietende Instanz zu benennen. „Die Jäger“?

Niemand interessiere sich derzeit für Literatur, man habe ihm geraten zu schweigen, es gebe eine Zeit für Literaten zu schweigen oder die Jäger haben ihn gar zur Strecke gebracht, lässt er sein Alter Ego behaupten (S. 158). Diese Jäger scheinen eine gefährliche und gesichtslose Masse zu sein, die ihn persönlich ebenso gefährden wie den Wunsch nach Frieden. So schreibt er ihnen eine erstaunliche Macht zu, ohne dass sie kenntlich oder greifbar werden. Ein bloßer Verdacht, ein Gerücht. Die Kommunikation dieser nicht-greifbaren, machtvollen doch gesichtslosen Masse ist es, die der Verschwörungserzählung ebenso inhärent ist wie dem Antisemitismus.

Schließlich ist es der Griff zu Frantz Fanon, der es Mishani erlaubt, „die Gewalt des Okkupierten zu verstehen als einen Versuch, sich davon zu befreien“. (S. 196) Unterstützt von dem Blick ins Kino: „The Zone of Interest“ motiviert zum Gedanken an „das Leben hinter einem Zaun, oder einer Mauer, über die menschliche Fähigkeit, ein scheinbar normales, alltägliches Leben im Kriegsgebiet zu führen“ (S. 199). Damit ist die Täter-Opfer-Umkehr und die Gleichsetzung Israels mit den Nazis vollständig. Der Appell („Bloß kein Vergleich!“), in Klammern und Anführungszeichen ohne Zuordnung eines Sprechers lädt genau hierzu ein.

So wird der bittere Nachgeschmack des Buches vollständig: Warum ausgerechnet auf Deutsch? Warum muss dieses Tagebuch, das womöglich eine wichtige Position der inner-israelischen Debatte darstellt, das Gehör, Zuspruch und Widerspruch finden, einen Teil der Auseinandersetzung bilden kann und soll, ausgerechnet in Deutschland und auf Deutsch erscheinen? Bereits am 7. Oktober gingen hier Menschen auf die Straße und feierten die Grausamkeiten an Jüd*innen, indem sie Süßigkeiten auf den Straßen verschenkten. Am 8. Oktober begannen Politiker*innen und Journalist*innen die Rede der Verhältnismäßigkeit des israelischen Versuchs, die Sicherheit seiner Bevölkerung herzustellen, und verkehrten so Opfer und Täter.

Seither erlebt der Antisemitismus täglich Aufwind; Schulen, Universitäten und Innenstädte verwandeln sich in Angst-Räume für Jüd*innen, Studierende solidarisieren sich in Camps mit der Hamas, Plakate von Geiseln werden abgerissen, die Bilder der Opfer vom 7. Oktober sind vergessen. Was bleibt, ist die größtenteils einseitige Darstellung israelischer Täter und palästinensischer Opfer.

Indem Mishani sich desselben Bildes bedient, wird er sich vermutlich größeren Zuspruchs erfreuen können als in Israel: Zwischentöne werden hier vergessen, der Applaus ist ihm vielerorts gewiss.

Dror Mishani, Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel Aviv, Diogenes 2024, 224 S., 26,00 Euro, Bestellen?

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