Neun Monate nach dem 7. Oktober ist die Situation in Israel verfahrener denn je. Weder sind die Geiseln befreit worden, noch ist die Hamas vernichtend geschlagen. Und zudem droht weiterhin ein Krieg im Norden mit der Hisbollah, die stetig an der Eskalationsschraube dreht.
Von Ralf Balke
Man fühlt sich wie in einer Zeitschleife, ganz nach dem Motto „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Doch es ist keine Komödie, die sich da abspielt, sondern ein nicht enden wollendes Drama. Denn genau neun Monate nach dem 7. Oktober müssen immer noch jeden Samstagabend Zehntausende Israelis auf die Straßen gehen, um Druck auf die Regierung auszuüben, mehr für die Freilassung der über 110 Geiseln zu unternehmen, die sich weiterhin im Gazastreifen in der Gewalt der Terrororganisation Hamas befinden. Zwar keimt alle paar Wochen Hoffnung auf, dass sich etwas bewegt, Delegationen aus Israel oder der Geheimdienstchef David Barnea persönlich reisen dann zu Verhandlungen zu Gesprächen nach Doha oder Kairo. Vertreter aus den Vereinigten Staaten und anderen Ländern sind ebenfalls intensiv damit beschäftigt, zu vermitteln oder die Hamas zu einem Deal zu bewegen. Diese hat mehrfach in der Vergangenheit Bereitschaft signalisiert, sukzessiv Geiseln gegen in israelischen Gefängnissen einsitzende Palästinenser, darunter manche, an deren Händen viel israelisches Blut klebt, auszutauschen – vorausgesetzt, Israel lasse sich auf einen Rückzug oder zumindest auf einen Waffenstillstand ein. Doch sobald man glaubte, dass Bewegung in die Sache kommt, änderte die Hamas plötzlich ihre Haltung wieder, stellte neue Forderungen. Also zurück auf Los, wie bei einem Monopoly-Spiel, nur viel grausamer und belastender. Erschwerend kommt hinzu, dass die Hamas dieser Tage erklärt hatte, dass sie selbst nicht genau wissen würde, wie viele Geiseln sich im Gazastreifen befinden, schließlich hatten die Konkurrenz vom Islamischen Jihad sowie palästinensische Zivilisten ebenfalls zahlreiche Personen verschleppt.
Aber auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu macht in dieser Angelegenheit alles andere als eine gute Figur. Er steht unter dem Druck seiner rechtsextremen Koalitionspartner, die regelmäßig damit drohen, die Regierung platzen zu lassen, wenn man sich auf einen Deal mit der Hamas einlasse. Das steigert die Verzweiflung der Angehörigen der Geiseln, die sich von den Verantwortlichen im Stich gelassen fühlen. Oder wie es der Schriftsteller und Journalist Ron Leshem, dessen Cousin ebenfalls von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt und schließlich ermordet worden war, in seinem gerade erschienenen Buch „Feuer – Israel und der 7. Oktober“ auf den Punkt bringt: „Wenn Zivilisten aus ihren Betten entführt werden und ihre Rettung für Israel nicht die höchste Priorität hat, dann ist dies eine moralische Bankrotterklärung und ein Bruch mit der eigenen Identität, mit dem, was wir sein wollen. Es ist überdies ein Vertragsbruch zwischen Staat und Bürgern, und die Schuld und Schande werden uns lange verfolgen.“
Entsprechend hoch sind die Erwartungen – und auch die Befürchtungen – bei den aktuellen Verhandlungen. Zur Diskussion steht aktuell ein Stufenplan, der als Vorbedingung für die Freilassung von älteren und kranken Geiseln sowie von festgehaltenen Frauen eine Waffenruhe vorsieht sowie die Übergabe einer nicht näher genannten Zahl von Palästinensern aus israelischer Haft. CIA-Direktor Bill Burns ist ebenfalls in der Region, um die Gespräche voranzubringen. Und so soll dieser Stufenplan konkret aussehen: Drei Tage, nachdem ein Waffenstillstand eingetreten ist, will die Hamas drei Frauen freilassen, am siebten Tag dann vier weitere. Israel geht davon aus, dass elf der Frauen, die im Gazastreifen als Geiseln gehalten werden, noch am Leben sind, und zwar sechs Zivilistinnen sowie fünf Soldatinnen. In einer zweiten Phase sollen die Männer übergeben werden, in einer dritten Phase schließlich die Leichen der Personen, die vor Ort ermordet wurden oder an Krankheiten verstarben, woraufhin ein langwieriger Prozess des Wiederaufbaus des Gazastreifens eingeleitet werde.
Ob sich diesmal etwas bewegt, kann niemand mit Gewissheit sagen. Am Samstagabend, auf der wöchentlichen Demonstration in Tel Aviv, sagte Einav Zangauker, deren Sohn Matan am 7. Oktober aus dem Kibbuz Nir Oz entführt wurde, an Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gerichtet: „Wir haben gesehen, wie Sie Vereinbarungen im letzten Moment immer wieder torpediert haben. Wagen Sie es nicht, uns noch einmal das Herz zu brechen.“ Die Mehrheit der Israelis weiß sie dabei auf ihrer Seite. Laut einer aktuellen Meinungsumfrage des TV-Kanals 12 sind 67 Prozent von ihnen der Überzeugung, dass es wichtiger ist, die Geiseln freizubekommen, statt den Krieg im Gazastreifen so wie bisher fortzusetzen. Auch glauben 68 Prozent der Israelis, dass man sehr weit entfernt von einem „totalen Sieg“ über die Hamas sei, 54 Prozent sind sich sicher, der Krieg werde ohnehin nur aus politischen Gründen von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu weitergeführt. Und laut New York Times hatten Anfang Juli mehrere namentlich nicht genannte, hochrangige israelische Generäle sich für einen Waffenstillstand ausgesprochen. Ihre Argumente: Es fehle ohnehin ein Plan für „den Tag danach“, also für eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen und nur so könne Bewegung in die Verhandlungen über eine Freilassung der Geiseln kommen. Auch eine Deeskalation an der Nordgrenze wäre dann möglich.
Denn es gibt eine weitere Befürchtung, die auch die Angehörigen der Geiseln beschäftigt: In dem Moment, an dem es zu einer größeren Auseinandersetzung mit der schiitischen Hisbollah-Miliz kommt, könnte ihre Freilassung schlagartig keine Priorität mehr haben. „Es existiert eine große Gefahr im Norden, und ich glaube, dass die Geiseln für immer verschwinden werden, wenn es dort Krieg gibt“, so Gilad Korngold, dessen Sohn Tal am 7. Oktober verschleppt wurde, kürzlich gegenüber der Presse. Denn die Wahrscheinlichkeit einer Konfrontation hat in den vergangenen Wochen massiv zugenommen. Zwar hatte die Hisbollah bereits am 8. Oktober angefangen, den Norden Israels unter Beschuss zu nehmen. Doch über Monate hinweg lief dieser Konflikt auf kleiner Flamme. Trotzdem mussten über 80.000 Israelis aus dem Umland zur libanesischen Grenze ihre Häuser verlassen, weil sie sich dort nicht mehr sicher fühlen konnten. Seither sind Kiryat Shmona oder Metullah zu Geisterstädten geworden. Und die Flüchtlinge im eigenen Land werden immer verzweifelter, weil die Regierung bei der Unterbringung und Versorgung dieser Menschen sich erneut als dysfunktional erwiesen hat, auch neun Monate nach ihrer Evakuierung.
Doch seit Ende Mai hat die Hisbollah die Intensität der Angriffe massiv erhöht. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Dutzende von Raketen und mit Sprengstoff beladene Drohnen über die Grenze geschickt werden und Ortschaften im Norden Galiläas, aber auch zunehmend auf dem Golan angreifen. 18 Soldaten sowie zehn israelische Zivilisten kamen dabei zu Tode, ganze Landstriche wurden verwüstet. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu wird ebenfalls an dieser Front herausgefordert: Auf der einen Seite verlangen seine rechtsextremen Koalitionspartner auch hier ein anderes Vorgehen, wollen den großen Militärschlag gegen die Hisbollah. Andererseits haben die Vereinigten Staaten betont, dass man unter allen Umständen eine Eskalation in der Region verhindern wolle, erst recht in einem Wahljahr wie 2024. Zwar habe Washington der iranischen Vertretung bei den Vereinten Nationen zu verstehen gegeben, dass Teheran seine Marionetten im Libanon zu mehr Zurückhaltung drängen sollte – anderenfalls drohe ein „vernichtender Krieg“. Nur ob das funktioniert, ist fraglich. Auch Israel hat mehrfach erklärt, dass man auf eine diplomatische Lösung hoffe, die vor allem einen Rückzug der Hisbollah hinter den Litani-Fluss vorsieht, also eigentlich genau das, was die UN-Resolution 1701 aus dem Jahr 2006 fordert. Die Aussichten auf eine solche Lösung sind mehr als gering, weshalb es nur eine Frage der Zeit sein könnte, bis es zum offenen Krieg kommt. Dieser könnte auch in dem Moment schlagartig Realität werden, sollte bei einem Angriff der Schiiten-Miliz eine größere Zahl an Israelis sterben.
Aber auf noch etwas wartet man in Israel seit neun Monaten vergebens, und zwar die Einrichtung einer Kommission, die den Ursachen für das Versagen der Sicherheitsdienste, der Armee und der politisch Verantwortlichen endlich auf den Grund geht. Bereits im Dezember 2023 hatte Staatskontrolleur Matanyahu Englman angekündigt, die Ermittlungen aufzunehmen. Er wurde aber dieser Tage vom Obersten Gerichtshof zurückgepfiffen. Zivilgesellschaftliche Initiativen wie die Bewegung für eine Qualitätsregierung hatten entsprechende Petitionen eingereicht, weil sie ihn nicht als zuständig für die Frage betrachteten und die Befürchtungen äußerten, seine Untersuchungen würden die politisch Verantwortlichen, allen voran Benjamin Netanyahu, außen vor lassen und sich nur auf Personen im Militärapparat konzentrieren. Der Ministerpräsident weigert sich beharrlich, überhaupt eine solche Untersuchung in die Wege zu leiten. Berichte, in denen Details genannt werden, wie oft und wann er über auffällige Aktivitäten der Hamas informiert wurde, nennt Netanyahu falsch und erfunden. Auch argumentiert er damit, dass sich das Land im Kriegszustand befindet, und man auf die Zeit danach warten müsse. Und das kann dauern, wie die vergangenen neun Monate gezeigt haben.