Peter Kern erzählt von einer Kindheit in den 1960er Jahren. Er beschreibt in eindrücklichen Szenen eine dörfliche Welt, die es heute nicht mehr gibt: die Kirmes mit Schießstand, Autoscooter und Schiffsschaukel, die Werkstätten und Läden der Bäcker, Schmiede und Schuster, die Kirchgänge, die das Dorf umgebenden Wälder. Ein Stück Heimatgeschichte im Land der Täter. Und der Landstrich ist alt. Vor zweitausend Jahren kamen die Römer und mit ihnen siedelten sich die Juden an.
Die Nazis haben das jüdische Leben ausgelöscht. Dem Führer war der erste „judenfreie Gau“ zu vermelden. Der Schullehrer des Dorfs, aufgestiegen zum Gauleiter, hatte ganze Arbeit geleistet. Er wurde von den Dorfbewohnern sehr bewundert, aber später war es opportun, dies zu vergessen. Wie die Namen der ermordeten jüdischen Nachbarn. Was im Stil einer unschuldig erzählten Kindheit beginnt, endet als Aufklärung über das Verbrechen.
Peter Kern, Dorfansicht mit Nazis, Hentrich & Hentrich 2024, 280 S., Euro 24,90, Bestellen?
LESEPROBE
Das Versteck
„Ab in de Kaschee“, die Kinder sollten zu Bett gehen, Vater hatte zu Ende erzählt. Sein Kaschee stand unter der Dachschräge, sein Gitterbett. Das Gitter war hoch genug, um das Herausfallen zu verhüten, aber niedrig genug, um es leicht zu überklettern. War das Licht aus und das Kind geängstigt, überstieg es die Gitterstäbe und wanderte hinüber zum Bruder. Das Bett des Bruders unter dem Dach, die Oma schnarchend im Nachbarzimmer, der das Kind umfassende Arm, das war die Zuflucht. Der große Bruder hinten, es vorne, so ließ sich gut schlafen.
War der Bruder zum Schlafen nicht aufgelegt, kam der Budzebär. Der sprach mit tiefer Stimme: „Isch bin de Budzebär.“ Das Kind flehte den Bruder an, er möge sich zu erkennen geben und ihm versichern, er sei es bloß, der den Bären spiele. Aber das böse Tier wiederholte nur seinen Satz und gab sich erst zufrieden, wenn das Kind, das längst im Bett schon stand, laut das Weinen anfing. Dann war das Spiel vorbei, und der Bruder machte sich noch ein wenig lustig über den ängstlichen Kleinen, bevor beide einschliefen.
Einmal wachte das Kind auf und wollte sich der Nähe seines Bettnachbarn versichern. Das war ihm eine Gewohnheit, und so tastete es nach dem Gesicht des Bruders. Es wollte die Wange streicheln und langte in ein Gesicht voller Bartstoppeln. So lag also der Budzebär leibhaftig neben ihm. Das Schreien weckte den Vater. Der hatte des Bruders Platz eingenommen, denn der war fiebrig, und die Mutter wollte das kranke Kind im elterlichen Schlafzimmer neben sich wissen. Vati kam hoch in die Dachstube, einmal „de Kaschee“ mit seinem Jüngsten, dem Jaköbl, teilend.
Das Kind entwuchs seinem Gitterbett, die Dachstuben waren geräumt und an die Fremden vermietet, da wurden die Betten knapp. Die Großmutter
zog mit in die darunter liegende Wohnung ein, und so fehlte dem Kind das eigene Kaschee. Mal schlief es in der Ritze zwischen den Eltern, mal in Omas Zimmer, wo das zweite, nach Opas Tod verwaiste Bett stand. Opas Bett war frei, wenn die Schwester nach den Ferien wieder im Internat bei den Ursulinen lebte und der Bruder bei Leuten, die die Eltern „Patres“ nannte. Sobald die Ferien kamen, war das Kind diese Schlafstatt wieder los. Gar nicht mochte es auf der aufgeklappten Wohnzimmercouch mit ihrer Kuhle liegen. Die ließ sich durch kein zusammengerolltes Bettlaken ausgleichen, wie die Ritze im Elternbett; denn dazu war sie nicht tief genug. Der Mond schien ins Zimmer, und im Garten wohnten die Nachteule und „de Budzebär“.
Verschwindibusi
Was das Kind für den Vater einnahm, das war das Lied vom Butterfass und vom Rubbertswiller Peter. Allein derselbe Name! Und
Rubbertswiller lag um die Ecke! Das Kind hätte dem Bachverlauf nur folgen müssen; die Rodalb floss rein in das Dorf und wieder hinaus. Woher sie kam, da war Rubbertswiller, wohin sie floß, da lag Pariß:
„De Rubbertswiller Peter, der rabbelt mit sei’m Geld
unn saht, des kann net jeder.
Stolz wie e Graf, unn wann er kenner is,
dann setzt er sich ins Butterfaß unn fahret no Pariß, riß, riß.“
Den Refrain sang das Kind natürlich mit. Mit dem stolzen Grafen fing es an. Und der Schluss war das Beste am ganzen Lied. Pariß war der Ort, wo es auf der Rodalb vielleicht einmal hinfahren konnte. Nach der Biebermühle, dem Schwimmbad, ging der Bach links ab. Dort ging das „Fahret no Pariß“ also weiter.
Der Vati war immer lustig. Selbst das Lied von den Raben machte auf seinem Schoß keine Angst: Fällder in de Graawe, fressene die Rawe. Das Kind wusste, wo die Raben hausten. Hinter dem Krankenhaus, den stracken Berg hoch, da hörte der gepflasterte Weg auf und fing der Waldweg an. Hier war die Grube mit dem Eisengitter und unter dem Gitter das Regenwasser. Dort, tief unten, mussten die Raben sein. Das Kind traute sich nicht, über das Gitter zu laufen. Im Herbst waren die Streben vom Laub ganz bedeckt, und es wusste nicht, wo der Waldweg aufhörte und das Grubenloch anfing. Am besten einen weiten Bogen machen.
Der Graben im Lied und die Grube im Wald. Dazu kam noch die Grube von Omas Bibel. Den Joseph hatten die neidischen Brüder dort hineingeworfen. Nun saß er weinend im Loch und war seinen schönen Umhang los. Ein braunes Gewand mit einer Goldborte und einem großen, roten Fleck. Ein Kind muss sich vorsehen vor den wilden Tieren des Waldes.
Der Wald bot auch Plätze, die dem Kind sehr gefielen. Einer lag hinter Haucks Gaststätte Zum Pfälzerwald. Der mit hohen Birken bestandene Garten ging in den Kiefernwald über. Erst der Biergarten mit seinem Rasen, dann der mit den Nadelhölzchen bedeckte Sandboden. In Rufweite der von den Vätern besetzten Bänke ging es rein in die Höhle des Felsens. Die Kinder durchliefen rasch das Dunkel und kamen auf der hinteren Seite der Höhle wieder heraus. Das machte hungrig und durstig. Vom Vater gab’s Geld für Bluna und Bratwurst. Die Bluna nahm der Herr Hauck aus einer mit Eisstangen und Bierflaschen gefüllten Truhe, aus der das Wasser troff. Das Kind und der Bruder nahmen gegenüber dem Vater Platz. Der Sepp war schon groß, und der Vater nannte ihn groß und stark.
Glücklicherweise war der Sepp schon stark. Der Vater sank seitlich von der Bank. Der Sepp musste ihm aufhelfen. Der Vater stützte sich auf die Schulter des großen Bruders, richtete sich auf und die beiden schleppten sich gegeneinander gelehnt die abschüssige Haustelstraße hinunter, am alten Arbeitslager vorbei, nach Hause. Der Doktor Jordan kam, ein Mann mit weißem Kittel, der schnell sprach, eine Brille mit dicken Gläsern trug und wie der Bach hieß, in dem Jesus getauft wurde. Die Schwindsucht war wieder da. Bald danach war der Vater verschwunden. Verschwinden und Schwindsucht. Und ein neues Wort war zu lernen. Was ist ein Sanatorium?
Peter Kern, Dorfansicht mit Nazis, Hentrich & Hentrich 2024, 280 S., Euro 24,90, Bestellen?