Albert Speer Jr. & Er

Oder: Als neulich in Dresden-Hellerau gegen Ende eines Vortrages über Nietzsche der Klarname eines Wikipedia-Agenten fiel, sehr zur Freude von GPT-4 sowie sicherlich auch von Christian Humborg und anderen Datenschützern

Von Christian Niemeyer

Ich – so begann der Vortrag am 22. September 2023 in Dresden-Hellerau im Rahmen der Tagung „Reform-Pädagogik und Kunst-Industrie“, getragen im Wesentlichen vom „Verein Bürgerschaft Hellerau e.V.“, was ich wissen muss, weil ich ihn hielt – bedanke mich bei Peter Peschel für die Einladung und die sorgsame Vorbereitung dieser Tagung, bei Ihnen allen für Ihre Präsenz und, wie mir zumindest aktuell noch scheinen will, für Ihre wohlwollende Aufmerksamkeit – und werde mich im Folgenden bemühen, Ihren Erwartungen gerecht zu werden, was für mich bedeutetet: für hinreichenden Diskussionsstoff zu sorgen, eine Art Konstante in meinem wissenschaftlichen Leben, wenn ich so sagen darf. Denn ich gebe gerne zu: Gut dreißig Jahre liegt inzwischen meine Antrittsvorlesung an der TU Dresden zurück – zum Thema Nietzsche! Damals, kurz nach der Wende, durchaus eine Frechheit, die auch nicht durch Witzeleien derart geheilt wurde, Ihr neuer Ordinarius, bis dato FU Berlin, sei ja auch ein Sachse, wenn auch nur ein Niedersachse! Kaum besser lief der Zusatzwitz, Nietzsche sei immerhin ein Ossi, anders als sein Antipode aus Trier oder der Ex-Dachdecker aus dem Saarland. Nun, wie auch immer: Meine Antrittsvorlesung von 1993 unter der Headline Unzeitgemäße Sozialpädagogik und mit der These, Nietzsche habe mit seiner Vorwegnahme der Entdeckung des Helfersyndroms eigentlich einer Sozialpädagogik avant la lettre das Wort geredet, lief so lá lá, und auch meine weiteren Jahre in Dresden bis zu meiner Abschiedsvorlesung von 2017 (Thema: Natürlich Nietzsche!) gingen einigermaßen manierlich ins Land, waren ausgefüllt mit Forschungen zu den Klassikern der Sozialpädagogik sowie mit einem vierjährigen DFG-Projekt zur pädagogischen Nietzscherezeption sowie, diesmal auf eigene Kosten aus Gründen, die ich hier nicht erörtern mag, zur Jugendbewegung als Teil der (sozial-) pädagogischen Bewegung (wie die Reformpädagogik in der Denktradition Herman Nohls genannt wurde).

Warum ich dies hier so aufblätternd sage? Um anzugeben? Nein, um sie mich in sozialpädagogischer Sitte dort abzuholen zu lassen, wo ich gestern und vorgestern noch stand, nämlich blätternd in meinen Unterlagen und darüber sinnierend: Worüber rede ich bloß am 22. konkret, angesichts der Vielzahl der Optionen, die sich in dreißig Jahren angehäuft haben?

Peter Peschel muss wohl etwas gespürt haben von meiner Not, zumal meine Power Point ausblieb und er mir netterweise vorschlug, einfach ein Bild von Nietzsche zu zeigen, der Rest fände sich schon. Wohlan, und weil das Bild, ohne dass Peschel davon wusste, so wunderbar passt zum Cover meines neuen Buches Nietzsche, New School, Alles, was man von diesem Genie wissen muss, um ob seiner dunklen Seiten nicht zu verzweifeln, hier dessen zentrale These, passend gemacht zu meinem heutigen Vortrag: „Es interessiert ausschließlich Nietzsches Nietzsche (ab 1878), nicht Wagners, nicht Förster-Nietzsches und schon gar nicht jener der Nazis.“ Klingt harmlos, aber man täusche sich nicht: Nietzsche ab 1878 meint: Die von mir verfochtene New School der Nietzscheforschung macht ernst mit Nietzsches scheinbar nur so dahingeworfener Frage: „Was interessiert mich dieser Basler Professor Friedrich Nietzsche?“, deutlicher: sie adressiert sie neu an Nietzscheleser weltweit in Gestalt der Variante: „Was geht dann euch jener Basler Professor und dessen Werke an, deutlicher: das Werk dieses hoffnungslosen Wagnerianers?“ Oder wenn Sie das Ganze lieber mit Kurt Tucholsky hätten, der 1932 in Fräulein Nietzsche spottete, man fände bei Nietzsche alles, aber auch das Gegenteil von allem – das Problem sei nur: „Wir wollen nicht!“, was man ja durchaus in ein handfestes Bild übersetzen könnte im Blick auf Berlin, wo die Ampel gleichfalls alles wolle, nur nicht mit einer Stimme: Ist es nicht berechtigt, ja: allzuberechtigt, zumindest doch seitens der Wissenschaft, konkreter: seitens der Nietzscheforschung so allmählich, gut 125 Jahre nach dem Tod des Delinquenten, eine Antwort zu bekommen auf die Frage, ob er nun eigentlich eher rechts war oder links? Und dass also nicht Himmler sich mit gleichem Recht auf Nietzsche berufen könne wie, beispielsweise, Albert Camus. Die Antwort der New School lautet: können sie auch nicht, Camus ist im Recht, Himmler, in Jugendbewegungssprache übersetzt: die Artamanenbewegung, sitzt hingegen einem von ihr geschaffenen Trugbild namens Nietzsche auf und hat aus diesem Grunde Erkenntnisoptionen, insbesondere solche aus dem Wissen um Nietzsches Biographie herrührende, verworfen.

Mit diesem Beispiel sind wir ganz nahe dran an dem heutigen Vortrag, den Sie im Übrigen gerne, abzüglich nachgetragener Erweiterungen, namentlich zu Hans Paasche, nachlesen können in meinem 2022 in 2. Auflage mit einem Vorwort von Micha Brumlik erschienen Buch Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, dort im 4. Kapitel unter der Headline:

Über die Ziehväter der Jugendbewegung,

Der Plural zeigt an, dass dort des Weiteren von Julius Langbehn (1851-1907) und Paul de Lagarde (1827-1891) gehandelt wird; hier und heute interessiert allerdings nur die Einleitung sowie der Abschnitt über Nietzsche. Bitteschön: Hier mein Vortrag (ohne Fußnoten und Literaturhinweise, die müssen sie, bitte, schon im Original nachschlagen): 

An kaum einen ‘Dreisatz’ der disziplinären Wissensmatrix wird ein Newcomer auf dem Felde erziehungswissenschaftlichen Denkens so rasch gewöhnt wie an den, dass die um 1900 anhebende Ära der Reformpädagogik wie Jugendbewegung jener Kulturkritik nachfolgte, wie sie Ausgang des 19. Jahrhunderts insbesondere durch Nietzsche und nachfolgend durch Lagarde und Langbehn geübt wurde. Die Auflistung dieser drei Namen unter der Chiffre eines vergleichsweise einvernehmlich (kulturkritisch) argumentierenden Triumvirats muss durchaus überraschen. Thomas Mann beispielsweise – um zunächst nur dies anzuführen – schien in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) den Namen Langbehn gar nicht mehr zu kennen. Ersatzweise brachte er jenen Richard Wagners ins Spiel, mit, in der Summe betrachtet, erstaunlich positiver Wertung des daraus zusammengerührten völkischen Ideenbreis. Ein anderer Einwand lässt sich dem Umstand entnehmen, dass Fritz Stern Jahrzehnte nach Thomas Mann und mit eher diametraler politischer Wertung Nietzsche aus jenem Triumvirat entließ. Ersatzweise stellte er, bei Außerachtlassung Wagners, die Reihenfolge Lagarde, Langbehn sowie Arthur Moeller van den Bruck zur Diskussion.

In der Pädagogik hingegen finden derlei Erwägungen nur schwer Widerhall, wohl als Folge des Ballastes der über Jahrzehnte hinweg dominierenden Erzählweisen geisteswissenschaftlicher Heroen wie Herman Nohl (1879-1960), Wilhelm Flitner (1889-1990) und Erich Weniger (1894-1961). Dies erstaunt durchaus, wenn man bedenkt, wie ideologiekritisch ansonsten in dieser Disziplin verfahren wird. Außerdem unterstellt die Botschaft in der gängigen Form, dass es sich um zwei monolithische Blöcke handle, nämlich um die Kulturkritik einerseits, gebunden an jene drei Namen, sowie um Reformpädagogik wie Jugendbewegung andererseits – was fast nach Ursache und Wirkung klingt, ohne dass das eine oder andere hinreichend umschrieben und der unterstellte Ursache-/Wirkungs-Zusammenhang zureichend erforscht wäre. Positiv gewendet: Vieles spricht dafür, der folgenden, immerhin schon über fünfzig Jahre alten Feststellung des als Jude in Breslau geborenen bedeutenden US-Historikers Walter Laqueurs (1921-2018) auch heute noch forschungssteuernde Relevanz zu bescheinigen:

Die deutschen Studenten zogen, wie es hieß, mit Nietzsches ‚Zarathustra’ im Tornister in den Ersten Weltkrieg, in der Jugendbewegung aber wurde Nietzsche verhältnismäßig spät bekannt; sein Einfluss war von kurzer Dauer und in vielen Fällen nicht sehr tief greifend. Die ersten Wandervögel waren an Philosophie nicht interessiert, und die Oberlehrer […] betrachteten Nietzsche nicht unbedingt als ihres eigenen Geistes Kind. Vieles an Nietzsches Schriften machte ihn den Nationalisten wert, aber es gab auch andere, gefährliche und ketzerische Gedanken bei ihm, und ganz allgemein fand man seinen Einfluß auf die junge Generation nicht gut. Nietzsche drang erst um 1912 über die Freideutsche Jugend in die Jugendbewegung ein […]. Zwei andere Schriftsteller, von geringer Bedeutung und unendlich viel prosaischer, wirkten sich stärker auf die Vorkriegsgeneration aus: Paul Lagarde […] und Langbehn.

Dies in Rechnung gestellt, sei im Folgenden ein Versuch zur Ermittlung des Standes der Forschung gestartet, wie gesagt: beschränkt auf Nietzsche.

  1. Friedrich Nietzsche: Ein Prophet ohne Jünger? Oder: Warum dieser Gottesleugner an allem schuld sein mag – nicht aber an der Jugendbewegung

Friedrich Nietzsche (1844-1900), dieser angebliche, so Ulrich Herrmann (1991), „Leitstern“ der Jugendbewegung, war um 1900 – erinnert sei an die diesbezüglichen Klagen von Hans Blüher (1888-1955) und Ludwig Gurlitt (1851-1933) – vor allem als Gottesleugner („Gott ist tot“) und in dieser Linie als „Jugendverführer“ verdächtig. Ein wichtiger Einwand verbirgt sich auch in der Linie des antisemitischen Lehrers Adalbert Luntowski (1883-1934). Er geißelte 1910 Nietzsches „dekadenten Aphorismenstil“ und sprach ihm der mangelnden „Gesundheit des Leibes und der Seele wegen“ das Recht ab, „Führer der Menschheit“[i] zu sein.

Um zumal das zuletzt genannte Urteil von seinen materialen Voraussetzungen her nachvollziehen zu können, muss man zumindest vom Grundzug her mit Nietzsches Leben vertraut sein. Zu denken ist dabei vor allem an den frühen Tod des Vaters (1849) nach rätselhafter Krankheit (vermutet wird, nicht vom Mainstream, wohl aber von mir, dezidiert seit 2020, Syphilis), aber auch an die große, jedoch unglückliche und zahlreichen Intrigen ausgesetzte Liebe gegenüber Lou von Salomé (1861-1937). Und schließlich kommt Nietzsches eigener paralytischer, syphilisbedingter Zusammenbruch (im Januar 1889) und nachfolgender Demenz und langjährigem Siechtum in Obhut der Mutter sowie (ab 1897) der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche (1846-1937) hinzu. Sie, die Schwester, begann zeitgleich mit der systematischen Verfälschung der Briefe und Werke ihres Bruders sowie seiner Krankengeschichte, dies zugunsten einer besseren völkischen Lesbarkeit Nietzsches, aber auch in der Absicht, dem damals um sich greifenden Verdacht zumal von Nietzschegegnern entgegentreten zu können, zumindest die Spätwerke Nietzsches gäben in mancherlei Abschnitt Zeugnisse für den anhebenden Wahn des Verfassers. Dass dieser Verdacht nicht ganz unberechtigt war, zeigt Nietzsches Autohagiographie Ecce homo (1888) in mancherlei, zumal von Förster-Nietzsche unterdrückten Abschnitten.

Im Vergleich zu dem überaus bitteren Ende Nietzsches – den in den 1890er Jahren anhebenden Weltruhm vermochte er nicht mehr zu registrieren – war der Start geradezu glänzend verlaufen: Mit vierundzwanzig Jahren (1869) war Nietzsche, zu dieser Zeit bestaunt (teilweise auch beneidet) als Ganymed des auf Kosten Ludwigs II. (1845-1886) in der Schweiz residierenden Komponisten Richard Wagner (1813-1883), Professor in Basel, unmittelbar nach dem Studium der (Alt-)Philologie in Bonn und Leipzig und noch ohne Dissertation, allein auf Empfehlung seines (akademischen) Lehrers Friedrich W. Ritschl (1806-1876). Dort lehrte er bis zu seinem krankheitsbedingten Ausscheiden zehn Jahre lang, zunächst unter dem – eher unheilvollen – Einfluss Wagners (seit 1868) stehend, der ihn bedenkenlos für seine (aufs Ganze gesehen) völkische und antisemitische kultur- und musikphilosophische Sendung zu instrumentalisieren suchte. Dem Bruch mit Wagner (1876) sowie dem Abschied von Basel folgten zehn Jahre der Unrast und Einsamkeit (1879-1888), in denen Nietzsche, meist in Pensionen in Italien und in der Schweiz lebend und um Gesundung ringend, seine wichtigsten Werke verfasste: Morgenröthe (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883-85), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Die späteren Werke, insbesondere Ecce homo (1888/89), gelten aus heutiger, kritischer Lesart, nicht mehr als Dokumente des authentischen Nietzsche. Gleichfalls kaum noch in Betracht kommen das durch den Einfluss Wagners korrumpierte Frühwerk sowie jene Passagen aus dem späten Nachlass, die Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche sowie Nietzsches Adlatus Heinrich Köselitz (1854-1918) unter dem Titel Der Wille zur Macht (1906) präsentierten. Man steht, etwas anders geredet, einigermaßen sprachlos vor zahlreichen radikalen und fanatischen Äußerungen in diesem angeblichen (Prosa-) Hauptwerk Nietzsches, das man an sich auf sich beruhen lassen könnte – wenn nicht Nietzsches Schwester mit jener 1906er Edition gezielt beabsichtigt hätte (und letztlich auch erreichte), dass sich das um 1900 noch von freigeistigen Interpreten dominierte, vergleichsweise positive Nietzschebild nach und nach in Richtung eines fanatischen Macht- resp. (ab 1914) Kriegsphilosophen verdüsterte.

Dies in Rechnung gestellt, also die Kompliziertheit von Leben und Werk inklusive der durch die Fälschungen insbesondere der Schwester nicht gerade einfachen Überlieferungs- und Textgeschichte, wird nicht überraschen, dass wir es mit einer überaus vielfältigen und widerspruchsvollen (pädagogischen) Wirkungsgeschichte Nietzsches zu tun haben. Positiv gewendet, nur einiges sei genannt: Nietzsche war von einigem Einfluss auf die Reformpädagogik (etwa Ellen Key [1849-1926]) sowie auf linke Kreise der Jugendbewegung um Gustav Wyneken (1875-1964), darunter Siegfried Bernfeld (1892-1953), vor allem aber Walter Benjamin (1892-1940), dessen Vertrauen zu Nietzsche 1912 mit der Lektüre des Zarathustra einsetzte. Die nämliche, fremdartige Dichtung trug Nietzsche zeitgleich in Kreisen der Älteren allerdings auch den Narrenvorwurf ein. Vergleichbar fatal war die Wirkung von Der Antichrist (1888), ein Werk, das nur verzögert (1894) und in von der Schwester zensierter Gestalt erscheinen konnte. In der Summe lasen Nietzschekritiker aus dem Bürgertum Werke wie dieses als Krankheitsbeweis. Im Vergleich dazu konnte der frühe, noch unter dem Einfluss Wagners stehende Nietzsche in der (pädagogischen) Rezeption mit sehr viel mehr Zuspruch rechnen. Namentlich zu erwähnen ist hier Nietzsches frühe, elitäre Bildungsphilosophie, etwa in den Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), ein Text, dem die Ehre widerfuhr, als eines von 180 ‚Hauptwerken der Pädagogik‘ („von der Antike bis zur Gegenwart“) gewürdigt zu werden. Dabei interessierte offenbar nicht, dass Nietzsche selbst eben diese – im Alter von 27 Jahren gehaltenen – Vorträge schon bald nach Entstehen skeptisch sah und weder in Druck gab noch jemals wieder erwähnte. An philologischen Fragen wie diesen zeigte man sich insbesondere in der NS-Zeit desinteressiert, mit der Folge eines vor allem auf der fragwürdigen Textkompilation Der Wille zur Macht (1906) basierenden Bildes eines – gleichfalls die Intentionen Nietzsches ignorierenden – heroischen Erziehers als Führer in schwerer (Kriegs-)Zeit. Derlei Lesarten sowie dem durch sie bewirkten Desinteresse in der Nachkriegspädagogik ist wohl zuzuschreiben, dass Nietzsches Bedeutung für die Pädagogik bis auf den heutigen Tag als unausgeschöpft gelten muss.

Ausgehend von diesem knappen Überblick muss natürlich jeder These über den angeblichen Einfluss Nietzsches auf die Jugendbewegung die Frage vorangestellt werden, von welchem Nietzsche eigentlich die Rede ist, nicht zu vergessen: von welchen Wirkungsannahmen. Ein Beispiel: Dem Nietzscheexperten kann selbst die Vokabel ‚Wandervogel‘ – was ihren Urheber im Steglitzer Umfeld angeht, durchaus ein gewisses Mysterium – nicht fremd sein: Sie begegnet einem in Nietzsches Morgenröthe (1881) in Gestalt einer auf den „Ozeans des Werdens“ bezogenen Phantasie, in der es um ein hier liegendes „Inselchen“ voller „Abenteuerer und Wandervögel“[ii] geht, ein Szenario also nicht ohne Reiz für Jugendbewegte, was auch für Zarathustra-Verse gelten mag wie die folgenden:

Auf dem Baume Zukunft bauen wir unser Nest […]. Und wie starke Winde wollen wir über ihnen leben, Nachbarn den Adlern, Nachbarn dem Schnee, Nachbarn der Sonne: also leben starke Winde.

Aber von diesen fraglos schönen Sätzen aus, wie es sich bei Thomas Herfurth andeutet, eine Brücke bauen zu wollen im Sinne einer Wirkungsannahme, wäre verwegen.

Differenzierung und genauestes Wissen um Nietzsche tut also not und ist gleichwohl kaum zu notieren. Alexandra Gerstner berichtete beispielsweise 2007 in einem ansonsten beachtenswerten Artikel von einer (angeblichen) „Tradition Nietzsches“, die sich in völkischen Bildungskonzepten Bahn gebrochen habe, konnte aber für diese Tradition nicht Nietzsche selbst geltend machen, sondern nur Rudolf Vierhaus‘ Nietzsche von 1972 – dem aber gerade innewohnt, dass das im Vergessenen gehalten wird, was sich gegen seine Lesart Nietzsches resp. seiner Bildungsvorträge von 1872 als angeblich traditionsbildend bei Nietzsche vorbringen ließe. Ein anderes Beispiel: Tomás Kasper berichtete, gleichfalls 2007, dass sich die Wandervogelführer im Gau Deutschböhmen 1918/19 „nach den Worten von Nietzsche richteten: ‚Gelobt sei was hart macht, weil ein einziger Blutsfremdling die ganze Arbeit einer Gemeinde im wahrsten Sinne des Wortes zu nichts macht.‘ Indes sucht man umsonst nach einem Hinweis Kaspers des Inhalts, dass nur der erste Satzteil im Zitat von Nietzsche resp. Zarathustra stammt – allerdings keineswegs, wie Arndt Weinrich anzunehmen scheint, sich von selbst versteht, also im Gewalt und Härte positiv sanktionierenden Sinne. Der zweite Satzteil hingegen, also die Folgerung, ist Eigengewächs der damaligen Wandervögel, das sich mit Nietzsches – auch seinem rassistischen Schwager Bernhard Förster (1843-1889) gegenüber deutlich gemachter – Ansicht stößt: „Wer das fremde Blut haßt oder verachtet, ist noch kein Individuum, sondern eine Art menschliches Protoplasma.“

Beobachten lässt sich derlei fahrlässiger Umgang mit Nietzsche schon bei Oscar Schütz, der 1929 die damals weit verbreitete These untersuchte, Nietzsche sei der „Prophet der deutschen Jugendbewegung.“ Immerhin setzte Schütz noch hinzu: ihr „größter“, wenn auch nicht „ihr einziger“:

Ein wesentlicher Zug eines großen Teils der späteren Jugendbewegung, die Gemeinschaftsidee und die völkisch-rassische Richtung, fließt […] aus anderen Quellen.

Die Differenzierung, die diesem wichtigen Hinweis unterliegt, blieb bei Schütz allerdings nicht erhalten. So hatte er keine Bedenken, an Nietzsche zu loben, was, wie eben gesehen, falsch ist: nämlich dass er „den Gedanken der Rassenzucht“ vorausgedacht habe. Zugleich aber tadelte Schütz an Nietzsche, dass ihn „seine Idee einer westeuropäischen Kultur hinderte […], den Rassegedanken auf das eigene Volkstum anzuwenden“ und seinerseits „den Keim einer völkisch-rassischen Gemeinschaftsidee zu entfalten.“ Damit aber war nichts anderes zum Ausdruck gebracht als das Bedauern darüber, dass einige Ideen Nietzsches seinem Aufstieg nicht nur zum ‚größten‘, sondern auch zum ‚einzigen‘ – und folglich auch völkisch-rassisch orientierten – ‚Propheten der deutschen Jugendbewegung‘ hemmend im Wege standen. Dieses Bedauern reflektierte auf höchst fragwürdige Art die Verzweiflung von Schütz angesichts der von ihm konstatierten „maßlosen Zersplitterung der Jugendbewegung.“ Auch irritiert an Schütz der Umstand, dass die von ihm konsultierte Wandervogelliteratur fast ausschließlich der Zeit nach 1918 entstammt – keine gute Textbasis, um die These vom Propheten zu fundieren.

Damit sind wir fast schon bei Wilhelm Flitners Argument, die Generation zwischen 1900 und 1914 habe in Nietzsches Schrifttum geistige Führerschaft gefunden in ihrem Kampf „gegen die Mechanisierung in der Erziehung“ und für die „Versittlichung des flach und steif gewordenen Kulturlebens.“ Andere Proponenten dieser These, wie etwa der später von den Nazis verfolgte jugendbewegte linke Sexualwissenschaftler und -aufklärer Max Hodann (1894-1946) verwiesen auf das angeblich unübersehbare Streben der Jugendbewegung, des „neuen Menschen“ habhaft zu werden, der „wahrhaft ist eine Brücke zu Höherem.“ Denken könnte man auch an Hermann Hesse (1877-1962), der 1919 in einer literarischen Fiktion für eine Gruppe „junge[r] Männer“ behauptete, dass sie „alle im Beginn ihrer Jugendzeit in Zarathustra den Propheten und ihren Führer gesehen [hatten]“, weitergehender: dass sie „mit dem Eifer der Jugend gelesen [hatten], was über ihn geschrieben steht“; dass sie „darüber gesprochen und gedacht [hatten], auf ihren Wanderungen in Heide und Gebirg, und in nächtlichen Zimmern bei Lampenschein.“ Den in der Rezeptionsgeschichte folgenreichsten Akzent zu dieser These setzte allerdings Herman Nohl. Ihm schien, das „ganze Programm der Jugendbewegung“ verberge sich in den Schlussworten von Nietzsches unzeitgemäßer Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), konkreter: in Nietzsches Hoffnung, die Jugend werde „von einer in ihr thätigen kämpfenden, ausscheidenden, zertheilenden Macht“ ausgehend „ein zusammenhängend lebendiges System von eigenen Erfahrungen” in sich zum Wachsen bringen. Diese These, auch in Theo Herrles beachtlicher Gesamtdarstellung der Jugendbewegung vorfindbar, wurde nach 1933, unter zeitbedingten Ergänzungen, vielfältig variiert dargeboten. Sie hatte auch nach 1945 keineswegs ausgespielt. Entsprechend kommt ihr in pädagogischen Gesamtdarstellungen ein fester Platz zu. Mitunter gilt sie gar als nicht weiter zu hinterfragende Selbstverständlichkeit.

Schwach indes ist die empirische Sättigung – abgesehen von der NS-Zeit: Der Name Nietzsche begegnet einem nun immer wieder in Lehrbüchern, auch im HJ-Führerorgan Wille und Macht (etwa 1934 mit dem Attribut: „Künder der Härte, des Heldischen und Herrischen“) sowie in für den HJ-Gebrauch zugelassenen Jungenkalendern, wo Nietzsche, selbstredend nach Hitler und Baldur von Schirach, mit Sprüchen präsent war wie: „Das Paradies ist unter den Schatten der Schwerter.“ Oder: „Was ist gut? fragt ihr. / Tapfer sein ist gut.“ Sowie: „Wer sich nicht befehlen kann, soll gehorchen.“ Beliebt war nun auch Zarathustras Devise: „Gelobt sei, was hart macht!“ Edmund Neuendorff (1875-1961) erhob sie 1936 zum zentralen Motiv des modernen Leistungssports. Zumal nach 1939 war derlei der Integration Nietzsches in die kriegsverherrlichende Ideologie des Staates förderlich, zusammen mit Zarathustra-Sprüchen wie: „Wirf den Helden in deiner Seele nicht weg!“, „Der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt“ oder dem von Mussolini, einen eingefleischten Nietzscheverehrer, ins Zentrum gerückten Imperativ „Gefährlich leben!“ aus Die fröhliche Wissenschaft. Hinter dieser breiten, positiven Resonanz verbirgt sich eine gezielte, von oben gesteuerte Umwertung Nietzsches, ausgehend von Alfred Baeumler (1887-1968) und besonders erfolgreich ins Werk gesetzt von seinem Mitarbeiter Heinrich Härtle (1909-1986), dem mit Nietzsche und der Nationalsozialismus (1937) die Bibel aller auf Nazifizierung Nietzsches setzenden Nietzschefans unter den Nazis gelang. Als weitere Wegmarke in dieser Frage gelten der Triumph Baeumlers über den Nietzsche-Skeptiker und NS-Pädagogen Ernst Krieck (1882-1947) anlässlich der Festschrift zu Hitlers 50. Geburtstag (1939) sowie der 100. Geburtstag Nietzsches: Am 15. Oktober 1944 wird er im Völkischen Beobachter als systemrelevanter Philosoph gleichsam unter Artenschutz gestellt. Lesen lässt sich derlei als düsterer Kommentar zum Kriegsverlauf, aber auch als Nachklang zu dem Umstand, dass schon die für die Bestialisierung des Ostfeldzuges wichtige Himmler-Broschüre Der Untermensch (1942) in Zarathustra-Diktion gehalten war, was den gänzlichen Niedergang Nietzsche im Bewusstsein des Bürgertums unmittelbar nach 1945 erklären mag.

Ganz anders das Nietzschebild im Mainstream der Jugendbewegung vor 1933: Der Name Nietzsche – auch dies schon eine Aussage – begegnet einem in den klassischen Quellensammlungen, etwa der Kindt-Edition, entweder gar nicht oder kaum im Quellenteil selbst, sondern eher im Anmerkungsapparat sowie in der ihm zugedachten Kurzbiographie. Diese indes umgeht alles Spannende und Umstrittene an Nietzsche und wartet ersatzweise mit einer kühnen Einordnung auf:

Gesellschaftskritischer Philosoph, der durch seine Schriften die Sehnsucht der Jugendbewegung nach einer ‚Umwertung aller Werte‘ vorwegnimmt.

Weder dieser Satz noch die einzelnen seiner Vokabeln dürften bei einer kritischen Reflexion Bestand haben, mit einer Ausnahme: eine Ursache-/Wirkungsannahme wird nicht mehr getroffen. In diese Richtung weisen auch die zentralen Zeitschriften der Jugendbewegung, die weit häufiger Bezüge auf – beispielsweise – Lagarde denn auf Nietzsche erkennen lassen.

So betrachtet kann das hochselektive Material der einschlägigen Rezeptionsforschung kaum überraschen. Christiane Völpel beispielsweise genügte der Verkaufserfolg des Zarathustra im Ersten Weltkrieg, das völkische Weltkriegsmelodram Der Wanderer zwischen beiden Welten (1916) von Walter Flex (1887-1917), die Untersuchung von Oscar Schütz und Walter Hammers (1888-1966) Nietzsche als Erzieher (1914) als hinreichendes Argument für ihre – dem Mainstream entsprechende – These, die allerdings schon im Blick auf das letztgenannte Beispiel ins Wanken gebracht werden kann. Denn Hammer, der aus Verehrung für Nietzsches Götzendämmerung (1889) seinen Geburtsnamen (Hösterey) ablegte und den Namen des „mit dem Hammer“ philosophierenden Röckener Pastorensohnes zulegte (vgl. Kolk 2010), war ein Nietzscheverehrer, dessen Nietzscheverständnis gerade nicht auf Zustimmung in maßgeblichen (völkischen) Kreisen der Jugendbewegung traf. Eben deswegen nahm er sich ja vor, „die Elite unserer Jugend, wie sie sich vorzugsweise im Wandervogel zusammengeschart hat, zu Nietzsche zu verführen.“ Er verband dies zugleich mit dem Kampf für eine neue, kosmopolitische Kultur, ausgehend von seiner Lesart Nietzsches als Pazifist. Diese Lesart brachte Hammer jenen gegenüber in Stellung, die offenbar nicht wahrhaben wollten, dass „Krieg im Sinne militärischer Gewalt“ für Nietzsche nichts anderes gewesen sei „als ein Zurücktaumeln in die Barbarei.“ Hammer hatte hiermit, auch was Nietzsche angeht, zwar nicht unrecht, aber eben gerade deswegen kaum Erfolg.

Abzusehen ist vielleicht von Hans Paasche (1881-1920), wie einer seiner letzten Texte zeigt, in welchem er unter der Überschrift „Umwertung aller Werte“ dazu auffordert, „alle Götzen und ihre Tempel [müssen] zertrümmert werden.“ (in: Donat/Paasche 1992: 205) Kurz: Paasche, ursprünglich Kapitänleutnant der kaiserlichen Kolonialtruppen und legendär wegen seines auf seiner Hochzeitsreise nach Afrika mit seiner jungen Frau aus jüdischem Elternhaus entstandenen kulturkritischen Briefromans Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Muranga ins innerste Deutschland (1913), war eine erstaunliche Läuterung gelungen, wenn man bedenkt, dass er noch 1905 als Kapitänleutnant an der blutigen Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes in Deutsch-Ostafrika mitgewirkt und seinem Vater Hermann Paasche (1851-1925), zuständig für die Kolonialismus-Finanzierung, vor Ort in Afrika voller Stolz das Schlachtfeld seines größten Sieges gezeigt hatte, um schließlich, unter dem Einfluss Walter Hammers, zu Nietzsche hinzufinden.

Staunenswert ist in diesem Zusammenhang Paasches Flugschrift Das verlorene Afrika (1919), die dem Credo folgt: „Wer aber nicht auswandert aus seinem alten Menschen, der wird in keiner Steppe frei“ (in: Donat/Paasche 1992: 236). Paasche lässt sich hier mit einem erziehungskritischen Furor vernehmen, wie er bis dato allenfalls von Zarathustra resp. Nietzsche her bekannt war, also etwa wie folgt:

„Ich habe, wie alle freien Deutschen – dies Wort ist nicht contradictio[1] – keine Jugend gehabt. Knechtsgeist umwehte meine Kindheit; nicht leben sollte ich, nicht lieben, weil die Unfreien und Feigen, diese vorige Generation, den ganzen Haß der Unerlösten als Erziehung auf mein aufblühendes Leben warf, bis sie in ihrer Teufelei mich gerade für gut hielten, für ihre Narrheiten in den Tod zu gehen. Ich verkörpere deutsches Schicksal.“ (ebd.: 233)

Kurz: Paasche, sich vom Bewunderer des völkischen Amtsrichters und Nietzschegegners Hermann Popert (1871-1932) (Helmut Harringa, 1910) hin zum Linksnietzscheaner à la Walter Hammer wandelnd, legte eine Anti-Fanatismus-Kur hin, die man der Aussteigerszene rund um die AfD, inklusive Herbert Aiwanger und Markus Söder, am liebsten als Geschenk zum nächsten Fest christlicher Liebe überreichen würde, hoffend auf eine geistige Wende wie jene Paasches hin zu einem „Volk der Liebknecht, Luxemburg, Eisner“, das den Zugang zur Welt neu öffnen werde, „den uns die Militärs versperrt hatten“ (ebd.: 254) – Äußerungen, wie Stephan Sommerfeld herausstellte, die ihn „für die Todeslisten rechter Freikorps qualifizierten“ (Sommerfeld 2009: 99), was uns den Zusatz noch zwingend zu machen scheint (vgl. Niemeyer 2021: 329 ff.), dass Paasche seinen Ausstieg nicht überlebte, sondern dem damaligen Rechtsterrorismus zum Opfer fiel, sprich: am 21. Mai 1920 als „vorheriges Mitglied des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates von Freicorps-Soldaten der berüchtigten Brigade Ehrhardt erschossen wurde.“ (Reulecke 2011: 337) Gleichsam als düsteres Vorzeichen im Blick auf den Onkel der Braut Ellen Wittig, den berühmten jüdischen Journalisten Maximilian Harden (1861-1927), der 1922, wie vor ihm Paasche, Opfer eines weiteren rechtsterroristischen Anschlags wurde, dessen Folgen er fünf Jahre später erlag.

Dass Paasche zum Zeitpunkt seiner Ermordung Linksnietzscheaner war wie sein spätes Idol Walter Hammer, findet sich indes nirgends in Nachrufen dieser Art, auch nicht in seinem Wikipedia-Artikel, an welchem auch ein gewisser „Jergen“ mitwirkte; dass Paasche, wie Nietzsche, an Syphilis litt und dies seit einhundert Jahren in der Literatur verzeichnet wird, steht heutzutage wohl im Gegensatz zur Verehrungssucht zumal von Jugendbewegungsveteranen – was, um nicht falsch verstanden zu werden, hier, in diesem Kontext, so gut wie ohne Relevanz ist, dies im Vergleich zu dem anderen Punkt: Hammer hatte mit seinem Buch Nietzsche als Erzieher einen empfindlichen Nerv der sich gegen den Deutschtumsverächter Nietzsche verschwörenden völkischen Vorkriegsjugendbewegung getroffen, gleichsam, so Winfried Mogge, der langjährige Archivar der Burg Ludwigstein, als „verkörperter Widerspruch zum mainstream.“ Dies offenbart, rückblickend betrachtet, die in der Wandervogelführerzeitung mit Kriegsbeginn anhebende Kampagne gegen Hammer und damit auch gegen Nietzsche, angesichts derer Richard Grützmacher im November 1914 mit bitterem Unterton resümierte:

Gerade im Licht der großen Weltbewegungen, in denen wir stehen, offenbart sich die vollkommene rückschrittliche Tendenz in Nietzsches Ideen über nationale Fragen. Er wollte über das Nationalbewußtsein, wie es sich im 19. Jahrhundert ausgebildet hatte, zum Weltbürgertum des 18. Jahrhunderts zurück, statt zur Vorherrschaft Deutschlands im 20. Jahrhunderts vorwärts.

Kaum besser verhält es sich mit der Plausibilität der in Richtung Walter Flex‘ Novelle Der Wanderer zwischen beiden Welten (1916) weisenden Argumentation. Denn diese nach Werner Kindt (1898-1981) „am meisten verbreitete ‚Grundschrift der Jugendbewegung‘ resp. dieses angebliche „Kultbuch“ der Jugendbewegung, das Thomas Herfurth als literarischen Kommentar zum Thema „Heldentod im Geiste Nietzsches“ las, hat – wie Hans-Jochen Gamm mittels eines subtilen Vergleichs zeigen konnte – mit dem authentischen Nietzsche genauso viel zu tun wie Kindts gesammelte Quellenschriften zur Jugendbewegung (1968; 1974) mit den überlieferten Originalen. Ohnehin geht es in Flex‘ Novelle allenfalls tertiär um Nietzsche, sekundär um Bellizismus, primär allerdings, wie schon Fritz Jungmann herausgearbeitet hat, um die Thematisierung der Nicht-Thematisierung von Homosexualität im Wandervogel. Soweit das Literarische in Betracht kommt, wird man allenfalls einige Verse herausheben dürfen, etwa die gleich zu Anfang dargebotenen, das Kriegsgeschehen auf unheimliche Art spiegelnden Zeilen „Wildgänse rauschen durch die Nacht…“, die später, zum Lied umgearbeitet, ihren Zweck erfüllten, ob nun gerade Krieg war oder nicht. Der Rest ist, mit Verlaub, altkluges, von Todesahnung umwölktes völkisches und antisemitisches Gerede über ein (lies: das deutsche) Volk, „welches weiß, daß es einst nicht mehr sein wird“ und dass sich deswegen bemühe, „die Fähigkeiten, die in ihm liegen, ans Licht und zur Geltung“ zu bringen „gleich einem rastlosen Manne, der sein Haus bestellt, ehe denn er dahinscheidet.“ Was Nietzsche angeht, ist in dieser Novelle nichts weiter zu besichtigen als der angestrengte Versuch des Autors, für seine völkische Religion Schutz und Unterkunft im Zarathustra zu finden. Als Preis dessen verflüchtigt sich das diffizil angelegte Übermenschenkonstrukt Nietzsches und macht dem leicht durchschaubaren Streben Platz, die (gänzlich sinnlose) Opferung des Menschen für Volk und Vaterland als Überwindung des dem Menschen ansonsten unweigerlich anhaftenden Dingcharakters zu adeln. Dass Flex mit dieser Botschaft zusammen mit „Otger“ (eigentl. Edgar) Gräff (1893-1918) und schon beginnend mit der Totenfeier des Wandervogel e.V. vom November 1917, zur Kultfigur wurde, und dies gezielt in der NS-Zeit, spricht weder für ihn noch gegen Nietzsche.

Zusammenfassend geredet: Es besteht Anlass genug, den Befund von Erich Geissler aus dem Jahre 1963 nach wie vor für aktuell zu halten:

Über im ganzen recht vage Hinweise auf Einflüsse Nietzsches […] ist die Literatur bis heute nicht hinausgekommen.

Der Sache nach scheint dies auch wenig erstaunlich. Denn wem zum Ausdruck ‚Jugendbewegung‘ nur romantisierend verklärte Wanderer einfallen, wird kaum glauben wollen, dass es zu deren Rechtfertigung Nietzsches bedurft hätte. Und wer bevorzugt die unerfreuliche Seite sieht, also Antisemitismus und Nationalismus, wird kaum glauben können, dass der Anti-Antisemit und Deutschtumsverächter Nietzsche dazu seine Zustimmung gegeben hätte. Einzig jene dritte Gruppe eines auch in die kultur- wie gesellschaftskritischen Tiefen weisenden Nachdenkens über die Sendung der Jugend im Sinne des für Nietzsches Historienschrift (1874) so typischen Imperativs „Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen!“, dürfte die Reflexion auf Nietzsche wirklich benötigt haben. Ein Beispiel gibt hier die Nietzsche- wie Ibsen-Bewunderin Fanny („Franziska“) Gräfin zu Reventlow (1871-1918), berühmt-berüchtigt wegen ihrer frivolen Abrechnung mit der ihrer Wahrnehmung nach lustfeindlichen Seite der Frauenbewegung. Noch gewichiger ist ihre unter dem Titel Herrn Dames Aufzeichnungen (1913) vorgelegte bitterböse Satire auf die sektenförmigen Umtriebe im Münchener Kreis um Stefan George (1868-1933) und Ludwig Klages (1872-1956), vor allem aber ihr autobiographischer Roman Ellen Ostjerne (1900): Die Romanhelden verfallen hier völlig ihrer heimlichen Zarathustra-Lektüre, die „die alte morsche Welt mit ihrer Gesellschaft und ihrem Christentum” in Trümmer fallen lässt, „und die neue Welt, das waren sie selbst mit ihrer Jugend, ihrer Kraft, mit allem, was sie schaffen und ausrichten wollten. Es war wie ein gärender Frühlingssturm in ihnen, jeder träumte von einem ungeheuren Lebenswerk, und sie alle hätten sich jeden Tag für ihr Lebensrecht und ihre Überzeugung hinschlachten lassen, wenn es nötig gewesen wäre.“

Denken könnte man in diesem Zusammenhang auch an Josef Hofmiller, der die um 1870 geistig geprägte Generation als insgesamt wesentlich kühler und leiser wahrnahm als die vorhergehende; sie – so Hofmiller weiter – verachte „das Parteiengezänke in religiösen und politischen Dingen” und sei nicht mehr bereit, irgendeine Autorität anzuerkennen; vielmehr gelte:

Sie haben ihre Sinne weit aufgetan für das Wirkliche, und ihr Herz hängt innig an allem, was schön ist: die leisen Lockungen der Kunst, jeder Art von Kunst, sind beinahe die einzigen, denen sie folgen. Sie sind nicht apathisch, aber antipathetisch, abwartend und zurückhaltend […]. Für die Ideale derer, die um das Jahr 1860 jung waren, hat sie wenig Liebe. Selten haben Väter und Söhne sich so wenig verstanden.

Dieses Urteil pars pro toto genommen, läge es nahe, ein konflikthaft gewordenes Generationenverhältnis auch ins Zentrum der Erklärungsansätze in Sachen Wandervogelbewegung zu rücken, so wie dies vom Ansatz her auch bei Hans Blüher nahelag und sich bei Walter Laqueur niederschlug, als er schrieb:

Die deutsche Jugendbewegung war eine unpolitische Form der Opposition gegen eine Zivilisation, die der jungen Generation wenig zu bieten hatte, ein Protest gegen den Mangel an Vitalität, Wärme, Gefühl und Idealen.

Dass dieser Teil der Jugend als „Hoffnungsträger eines notwendigen Kraftaktes kultureller Neuschöpfung“ auf Nietzsche rekurrierte, sei nicht bestritten. Nur darf man dabei nicht die mehrheitlich negative Fremdwahrnehmung Erwachsener außer Acht lassen. So liest man in einer pädagogischen Enzyklopädie des Fin de siècle, dass unsere Jugend, „soweit sie anarchistisch denkt“, unter dem Einfluss von Nietzsche steht. Andere Zeitbeobachter sprachen von den „Stürmern und Drängern der Neunzigerjahre, die gegen Epigonentum, Bourgeoisie, Kirche und Staat anrannten“ und deren Interesse an Nietzsche vor allem durch „das Negative, Umstürzlerische, Revolutionäre seiner Philosophie“ stimuliert war. Niemand hingegen dachte daran, diese frühen Erscheinungen jugendtypischer Nietzscherezeption der Jugendbewegung ins Schuldbuch zu schreiben. Es handelte sich bei jenen ‚Stürmern und Drängern‘ also um etwas anderes, um, wie man vielleicht sagen darf, Indikatoren für eine durch Nietzschelektüre angeregte Phase jugendspezifischer Selbstsuche, die sich nicht auf Wandervogelmotive reduzieren ließ.

Die in der Forschung verbreitete These, wonach es seit den 1890er Jahren „keine geistig bewegte bürgerliche, ja intellektuelle Jugend [gab], die nicht im Schatten Nietzsches wuchs,“ ist deswegen nicht falsch. Nur muss man dabei das Wort ‚Schatten‘ wörtlich nehmen: Nietzsche galt zur Zeit der Etablierung des Wandervogel als keine gute Adresse, mit der man bei Eltern und Lehrern hätte reüssieren können. Dies lehren, wie wir gesehen haben, die Fälle Hans Blüher und Ludwig Gurlitt, dies lehrt aber auch Karl Löwiths Rückblick auf die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als er sich zusammen mit einem Jugendfreund „auf dem Weg über Nietzsche“ auch auf dem Weg zu sich selbst befand: „Wir hatten den Zarathustra schon auf der Schulbank gelesen, mit boshafter Vorliebe während des protestantischen Religionsunterrichts.“ Diese vereinzelten Hinweise entwerten aber nicht die Gründe, eine Nietzschelektüre in Wandervogelkreisen nicht für sehr wahrscheinlich zu halten bzw. umgekehrt: Sie legen die Annahme nahe, dass jene Erwachsenen, die auf den Wandervogel Einfluss nahmen, dort eher das von ihnen geschätzte Bildungsgut zur Geltung brachten.

Dass es dabei mitunter noch nicht einmal der gesonderten Intervention bedurfte, könnte auch an länderspezifischen Besonderheiten gelegen haben. So urteilte Fritz Baumann im Rückblick für die Schweiz, dass die „gesellschaftlichen Klüfte“ hier „nicht so kraß [waren], wie sie Gurlitt am Beispiel von Steglitz um die Zeit der Entstehung des Wandervogels geschildert hat“, ganz abgesehen davon, dass die Schulverhältnisse keineswegs als „unerträglich“ erlebt wurden. Was Österreich angeht, wird man zu berücksichtigen haben, dass die Wandervögel hier „meist aus Elternhäusern [kamen], in denen das Gedankengut der nationalen Bewegung in Österreich zum festen Bestand gehörte.“ Gleichwohl gab es natürlich auch eine konfrontative Stellung zwischen dem Lesebegehren zumindest der fortgeschrittenen Vertreter der jüngeren Generation und dem Bildungsgut, das die ältere Generation in der Regel als sinnvoll anempfahl. Diese Konfrontation blieb bis zum Krieg und dies meint: bis zur kriegsbedingten Relativierung des erwachsenentypisch negativen Nietzschebildes weitgehend unverändert intakt.

Der Erste Weltkrieg veränderte dann zwar das Nietzschebild der Erwachsenen und ließ Nietzsche plötzlich, nicht zuletzt infolge der ‚Deutschsprechung‘, die ihm seine Schwester angedeihen ließ, als kriegswichtige geistige Nahrung in Betracht kommen. Denken könnte man in diesem Zusammenhang auch an Ernst Jünger (1895-1998), dessen Kriegsbücher, etwa In Stahlgewittern (1920), auch zu deuten sind als Ergebnisse eines lebenslang anhaltenden Interesses an Nietzsche und der damit zur Popularität von Zarathustra-Kapiteln wie Vom Krieg und Kriegsvolke und dem hier nachlesbaren Slogan beitrug:

Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.

Freilich: Entgegen der in der Rezeption Nietzsches dominierenden bellizistischen Auslegungstendenz dieses Satzes lässt eine genaue Textexegese jene eher unberechtigt scheinen. Gleichwohl war sie populär, wie das Beispiel Kleo Pleyer lehrt: In den kriegsmetaphysischen Betrachtungen seines NS-Bestsellers Volk im Feld (1943) bezog er sich ganz im Geiste der Zeit diverse Male auf Nietzsche, eher implizit im folgenden Beispiel:

Der Krieg ist ein steigerndes Geschehen. Er vergrößert das Große, härtet die Harten, veredelt das Edle; die Niedrigen drückt er nieder. Der Krieg greift über das gewöhnliche Menschentum hinaus, ins Untermenschentum hinunter, ins Übermenschentum hinauf.

Indes muss man die harten Daten in Betracht ziehen: Fest steht lediglich, dass Nietzsches Zarathustra schon vor dem Krieg weit verbreitet war – und die Lektüre dieses Buches offenbar die unterschiedlichsten Ideen freisetzte. Zwar startete der Zarathustra mit Kriegsbeginn als Bestseller durch, aber ob es sich dabei wirklich um eine der zentralen Durchhaltelektüren des – dem Wandervogel entstammenden – Frontsoldaten handelte, steht doch sehr in Frage. Die an derlei Hinweis angeschlossenen populären Legendenbildungen etwa à la Ernst Nolte (1990: 3) waren zwar vor allem nach 1933 hilfreich, um Nietzsche als jemanden auszulegen, der als Erzieher der Jugend – und eben nicht nur als ihr ‚Verführer‘ – in Frage käme. Aber empirische Belege für die These, ‚der‘ Frontsoldat habe im nennenswerten Umfang den Zarathustra gelesen, stehen aus. Daran vermögen auch Beschwörungen von Zeitgenossen, wonach Nietzsche zu den Lieblingsschriftstellern gehöre, „welche in den Schützengräben gelesen werden,“ nichts zu ändern. Ebenso unzuverlässig ist die Anrufung einer angeblich existierenden „Statistik der Kriegslektüre“ der Soldaten, die den Schluss erlaube, „daß im Schützengraben vor allem gelesen worden seien: das Neue Testament, Goethes ‚Faust‘ und Friedrich Nietzsches ‘Zarathustra.’“ Denn ganz abgesehen davon, dass schon diese Auswahl und Zusammenstellung „eine Synthese [ist], wie sie Nietzsche niemals vorgeschwebt hat“: Zur Kriegslektüre gehörte vielerlei; nüchtern erwogen besagt selbst der Umstand, dass 150.000 Exemplare einer (gekürzten) Feldausgabe des Zarathustra an die Soldaten verteilt und mehr als noch einmal so viel zwischen 1914 und 1919 verkauft wurden, nichts oder so gut wie nichts: Es handelte sich um einen Bestseller – aber eben um einen unter vielen.

Im Übrigen bleibt natürlich die Frage, ob die Lektüre eines immerhin doch sehr schwierigen Textes, wie es Nietzsches Zarathustra zweifellos ist, unter Kriegsbedingungen in nennenswerter Zahl überhaupt erwartet werden darf. Auch Erich Maria Remarques mit der Kriegs- und Heldentodmetaphysik der unmittelbaren Nachkriegszeit aufräumende und von den Nazis verbotene Roman Im Westen nichts Neues (1929), dem Barbara Stambolis in eigentümlich zurückhaltender Wertung „eine pazifistische Tendenz“ nicht absprechen will, macht eine Nietzschelektüre im Felde ausgesprochen unwahrscheinlich. Daraus folgt nicht, Remarque habe Nietzsche für unschuldig gehalten, im Gegenteil: In seinem im Inflationsjahr 1923 spielenden Roman Der schwarze Obelisk (1938) tritt ein Feldwebel a.D. als Negativheld auf, der einen Nietzscheschnurrbart trägt und „nach Zarathustras Gebot seinen Harem“ prügelt. Derartige Feldwebel mag es gegeben haben, nur: Hier geht es nicht um Bilder, sondern um Empirie. Und für deren Belange ist wichtiger, dass die in Jugendbewegungszeitschriften abgedruckten Feldpostbriefe so gut wie keine Hinweise auf Nietzsche enthalten. Ähnliche Ergebnisse zeitigt die Durchsicht einschlägiger Briefsammlungen. Selbst Thomas Herfurth musste zugestehen, dass in der Zeitschrift Freideutsche Jugend in den Kriegsjahren zwar hin und wieder Textauszüge aus dem Zarathustra abgedruckt wurden, dies aber eher solche „elegischer Art.“ So ist es unter dem Strich auch kaum überraschend, dass im Zweiten Weltkrieg als Kontrast zu der Zeit zwischen 1914 und 1918 festgehalten wurde: „Noch im Weltkriege las ein Schüler den ‘Zarathustra’ selten, er vertiefte sich kaum in ihn.“ Und wenn er es, im Felde stehend, doch tat, dürfte er bald erfahren haben, „daß ‚Zarathustra‘ im Ernstfall ein Blindgänger ist.“

So gesehen hatte der Jenaer Refompädagoge Peter Petersen (1884-1952) wohl das richtige Gespür, als er schon 1919 in der Zeitschrift Der Aufbau der Legende entgegentrat, „unsre Helden im Schützengraben“, die möglicherweise der „promethische Trotz des Allzermalmers“ zum Zarathustra gezogen habe, hätten damit bereits den eigentlichen Auftrag erfüllt, den Petersen nun, nach dieser fatalen Weltkriegserfahrung, darin erblickte, Nietzsche als einen „unerschrockenen gewaltigen Ringer um eine neue Kultur“ ins Bewusstsein zu heben. Freilich: Nach dem Krieg war für derlei Phantasmen kaum noch der rechte Ort und die rechte Zeit. Die Jugendbewegung zerfiel in ein Konglomerat sich teilweise heftig befehdender Bünde, die sich einer pazifizierenden Zentralideologie – wie man sie vielleicht über Nietzsche hätte requirieren können – nicht mehr unterstellen ließ. Im Umfeld des Weimarer Nietzsche-Archivs registrierte man dies mit einiger Sorge. Fast erleichtert sah denn auch Max Oehler am Vorabend des ‚Dritten Reiches‘, die auf die Vorkriegszeit bezogene Wirkungsannahme Flitners gleichsam en passant negierend, die Anzeichen sich mehren, dass die Jugendbewegung „nun endlich in Nietzsche ihren Herold und Führer sieht.“ Übrigens: Fast wortgleich hatte Oehler schon zwei bzw. sieben Jahre zuvor argumentiert. Gerade dies zeigt aber, dass er weder 1925 noch 1930 noch 1932 als Zeithistoriker auftrat, sondern als Propagandist, der im Übrigen zusammen mit seinem Bruder und seiner Tante Elisabeth Förster-Nietzsche in systematischer Absicht und durchaus mit Erfolg die Nazifizierung Nietzsches betrieb. Dass dieses Triumvirat bzw. das Weimarer Nietzsche-Archiv damit letztlich erfolgreich war, zeigt das Beispiel des Nazi-Pädagogen Alfred Baeumler, der sich 1934 angesichts der unter dem Zeichen des Hakenkreuzes marschierenden HJ wie selbstverständlich an den oben erwähnten auch von Nohl bemühten Ausruf Nietzsches aus der Historienschrift („Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen!“) erinnert fühlte, um dem das anzufügen, was er offenbar für seine Variante hielt:

Und wenn wir dieser Jugend zurufen: Heil Hitler! – so grüßen wir mit diesem Rufe zugleich Friedrich Nietzsche.

Freilich: Dass Nietzsche, wenn man ihn recht versteht, eines mit einer derartigen Pointe aufwartend ‚Verhunzers‘ (Thomas Mann) bedürftig war, steht zumindest dem Experten außer Frage. Die Rezeptionsgeschichte kann hier, recht gelesen, als Beleg in Betracht kommen. Denn – zusammenfassend gesprochen – bis 1914 galt Nietzsche eher als ‚Jugendverführer‘ und war in der Regel mit entsprechendem Lektüreverbot belegt, was zumal für die jüngere Jugend, auf die der Wandervogel in maßgebender Hinsicht angewiesen war, nur schwer umgehbar gewesen sein dürfte. Und nach 1918, als man ihm mancherorts auch aus Erwachsenenperspektive einen Rang als ‚Kriegsphilosophen‘ zuzubilligen geneigt war, gewann er keineswegs in dieser Eindeutigkeit eine Spätwirkung als ‚Prophet der Jugendbewegung‘, wie dies in der Literatur allzu leichtfertig bis heute behauptet wird. Gleiches gilt für die Zeit nach 1933, ungeachtet der in diese Richtung weisenden Bemühungen Baeumlers. Man muss also durchaus noch etwas genauer hinschauen, um herauszubekommen, wer denn nun ersatzweise als Impulsgeber der Jugendbewegung zu gelten hat. Dies indes kann heute hier nicht mehr geschehen. Wir begnügen uns mit der These, dass Nietzsche jedenfalls nicht als Teil jenes kulturkritischen Triumvirats in Betracht kommt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Zugabe

Als Zugabe möchte ich eine kleine Geschichte erzählen aus dem Alltag eines Wissenschaftlers, der seit 2017 im Ruhestand sich befindet. Was macht so einer eigentlich den lieben langen Tag? Geschirr einräumen? Rosen schneiden? Mit dem Hund rausgehen? Oder Loriot gucken, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens ohne seinen Mops (um meiner Studierenden und der Sehnsucht nach ihnen mal mit diesem kleinen Scherz zu gedenken)? Ich weiß es nicht, will nicht für andere, kann  nur für mich sprechen, am Beispiel eines Samstagmorgens im Februar 2023, über den ich ausführlich schon hier berichtet habe, zuletzt am 11. Juni[2]: Ich musterte, weil  nicht mehr schlafen konnte, unter der mich damals im Zusammenhang meines neuen Buches Die AfD und ihr Think Tank im Sog von Putins & Trumps Untergang (2023) beschäftigenden Parole „Avanti Dilettanti!“ einige besonders peinliche Wikipedia-Artikel durch und entschied mich schließlich für den Eintrag Jugendbewegung. Dort, unter dem Unterpunkt 1945 bis heute, entfernte ich am 11. Februar um 5:57 den Schlusssatz „Neuere Forschungsansätze gehen von einem Fortbestehen der Jugendbewegung als subkulturellem Milieu aus“, zumal der hierzu gegebene Literaturhinweis auf das Jahr 2008 zurückging, was irgendwie mit der Vokabel „neuere“ konfligierte und im Übrigen als so allgemein zu gelten hatte, das man durchaus von einer Banalität reden konnte. Ersatzweise fügte ich den folgenden Satz ein:

Neuere Forschungsansätze […] betonen den völkischen Charakter der Vorkriegsjugendbewegung. Niemeyer lastete des Weiterem einem Netzwerk NS-belasteter Jugendbewegungsveteranen wie den Historikern Günther Franz und Theodor Schieder, den Pädagogen Walther Jantzen und Theodor Wilhelm sowie NS-Tätern wie Karl Vogt an, in kollektiver Anstrengung Gleichgesinnter unter Federführung von Werner Kindt in der Burg Ludwigstein eine dreibändige Dokumentation der deutschen Jugendbewegung (1963; 1968; 1974) geschaffen zu haben, die voller nicht ausgewiesener Auslassungen ist und bei deren Erstellung von Beginn an die Absicht maßgebend war […], kritischen Anwürfen, wie etwa jene von Harry Pross oder Walter Laqueur, keinen Anlass mehr zu geben für Kritik an den fragwürdigen politischen Optionen Jugendbewegter vor der NS-Zeit. Dazu gehörte auch, in den dazugehörigen Kurzbiographien dieser Dokumentation, das Beschönigen der Lebensläufe, etwa durch Fortlassen der NSDAP-Mitgliedschaft in mindestens 60 Fällen, angefangen von Otto Abetz bis hin zum langjährigen Archivmitarbeiter Hans Wolf.

Nochmals: So, genauso, war es auf Wikipedia am 11. Februar 2023 für knapp eine Stunde zu lesen – ehe ein gewisser „Jergen“ diesen Satz löschte, um anschließend das ganze Wochenende damit zu verbringen, auch verschiedene andere am gleichen Tag eingepflegte Einschübe von mir, etwa im Wikipedia-Artikel Elisabeth Förster-Nietzsche, zu entfernen. Auffällig dabei:  „Jergen“ störten offenbar Aufklärungen über die NS-Zeit. Schlimmer, für mich jedenfalls: „Jergen“, ein preisgekrönter Wikipedia-Autor seit 2004 mit Pfadfinder-Herkunft und -Schwerpunkt, wusste aus den beiden vorgenannten Beispielen um meinen Klarnamen – und gab im Wikipediaartikel zu meiner Person um „11:52, 11. Feb. 2023“ unter „Diskussion“ Kunde davon, warum er diesen Artikel erbarmungslos zerrupft hatte: wegen „Einfügung von positiven Besprechungen und Löschung von anscheinend unliebsamen Details“ – beides nichts weiter als infame Lügen. Positive Besprechungen zu meinen Büchern kann ich beispielsweise schlicht deswegen nicht vorweisen, weil es keine gibt; und „Löschung anscheinend unliebsamer Details“ liegt mir fern, beschreibt aber ganz gut das Agieren „Jergens“ im Zuge des Plünderns meines Artikels. Im Ergebnis dieser Aktion sowie der Löschung bibliographischer Angaben zu ausgewählten Aufsätzen von mir prangt nun auf meiner Seite der vorher dort nicht gezeigte Warnhinweis: „Dieser Artikel […] ist nicht hinreichend mit Belegen […] ausgestattet. Angaben ohne ausreichenden Beleg könnten demnächst entfernt werden.“ Mehr als dies: Gegen mich wurde eine bis April 2024 währende Schreibsperre verhängt, angeregt von „Jergen“, der seinen Vorgesetzten suggerierte, nicht er, sondern ein unbekannter Dritter habe sich meiner IP bemächtigt und mich mit „Gefälligkeitsartikeln“ beglücken wollen, mir dadurch allerdings einen „Bärendienst“ erwiesen . (-jergen? 11:50, 12. Feb. 2023)

Warum ich diese geradezu kafkaeske Geschichte hier erzähle, unter Ausblendung meiner zahllosen, aber in der Summe erfolglosen Versuche, Wikipedia zur Rücknahme dieser Schreibsperre und zur Verhängung einer solchen gegen „Jergen“ – um dessen Klarnamen ich inzwischen ahne? Nun, ganz einfach: Weil ja durchaus sein kann, dass auch neu-rechte Nietzsche-Anhänger mit jugendbewegtem Habitus vom Zuschnitt des Nerother Wandervogel aus der Ecke des Wikipedia-Autoren „Jergen“ hier im Raum sitzen und nicht nur Ambitionen haben – wie jener „Jergen“ Mitte Februar 2023 –, meine Wikipedia-Seite zu (zer-)stören, sondern auch diesen Vortrag, nur, dass Ihnen dazu noch der Anlass fehlte: vielleicht ist dieser einer, meine These nämlich, dass fast alles falsch ist, was neu-rechte Ideologen aus dem, wie ich’s gerne nenne, Think Tank der AfD, zu diesem Thema zu Papier brachten und also unverändert gilt, was ich am 11. Februar 2023 für knapp eine Stunde auf Wikipedia zum Thema Jugendbewegung präsentieren konnte.

Vielleicht noch aufschlussreicher für den Wikimedia-Chef Christian Humborg, der mir, ähnlich wie einige Freunde aus der Jugendbewegung, jede Hilfe bei der Suche nach „Jergen“ verweigerte und mich ersatzweise auf seinen Anwalt verwies: Ich weiß inzwischen um den Klarnamen dessen, der seit 2004, inzwischen mit „Denkmalstatus“, für Wikipedia schreibt und über sich nur bekannt gibt, er sei „Pfadfinder´“ sowie – diese Eitelkeit wird ihm jetzt zum Verhängnis – „Diplom-Ingenieur der Raum- und Umweltplanung“; ich weiß, auch dank eines Informanten, um „Jergens“ Klarnamen, seine Adresse sowie seine Herkunft aus der Architektenschule des Albert Speer jr. in, was die Hochschule angeht, Kaiserslautern sowie, was das Büro angeht, Frankfurt/M., als erste Arbeitsstelle des zentralen Nachrufschreibers von Albert Speer jr. (1934-2017), Torsten Becker, den ich diverse Mahle gefragt habe, ob er Er sei, „Jergen“, ohne eine Antwort – ehe ich mich jener Krimis erinnerte, die mit dem Satz ihrem Höhepunkt zutreiben: „Ein Dementi sieht anders aus!“ Zumal mir ein KI-Assistent als Ergebnis meines „Bing-Chat mit GPT-4“ soeben versicherte: „Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Becker während seines Studiums von Speer Jr. beeinflusst wurde.“[3]

Ja, liebe Freunde, so aufregend also kann, dank KI, das Leben eines Pensionärs sein.

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin

Bild oben: Gruppe des Wandervogels aus Berlin, um 1930, Bundesarchiv, Bild 183-R24553 / CC-BY-SA 3.0

Quelle (für den Vortrag o. Zugabe; dort auch sämtliche Literaturhinweise): Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. 2., durchgesehene Auflage. Mit einem Vorwort von Micha Brumlik. UVK Verlag, München 2022, S. 90-103.

[1] Wohl eine Variante zu Nietzsches auf den geistigen Verfall seit der Reichsgründung anspielenden Aphorismus: „‚Deutscher Geist‘: seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.“ (VI: 104) 
[2] www.hagalil.com/2023/spott-light-jergen.
[3] Webaufnahme_20-9-2023_7150_www.bing.com.jpeg.