Ausverkauf

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Israels neuer Staatshaushalt ist in trockenen Tüchern. Doch der Preis dafür ist gewaltig, weil Netanyahus ultraorthodoxe Koalitionspartner ihm Zugeständnisse abringen konnten, die den israelischen Steuerzahlern teuer zu stehen kommen. Der Unmut über die Zuwendungen an die Haredim wächst.

Von Ralf Balke

„Busha, Busha, Busha!“, zu deutsch „Schande, Schande, Schande“ war über Monate hinweg einer der Slogans, die auf den zahlreichen Demonstrationen gegen die geplante Justizreform in Israel skandiert wurde. Nun ist ein weiterer hinzugekommen, und zwar „Bisa, Bisa, Bisa!“, was so viel wie „Plünderung“ oder „Raub“ bedeutet. Und es gibt einen guten Grund dafür, dass zehntausende Israelis nun auch dieses Wort benutzen, um ihrem Unmut über die Politik der Regierung Luft zu machen. Denn am 24. Mai hatte die amtierende Koalition den Staatshaushalt für die Jahre 2023 und 2024 verabschiedet. Nach 36-stündiger Debatte sowie einem Abstimmungsmarathon votierten 64 Abgeordnete in zweiter und dritter Lesung dafür, 56 dagegen. So wird das Budget für 2023 ein Volumen von 484 Milliarden Schekel, also rund 120 Milliarden Euro, haben, für 2024 sind 514 Milliarden Schekel vorgesehen, was ungefähr 128 Milliarden Euro entspricht. Für Ministerpräsident Benjamin Netanyahu war das ein wichtiger Etappensieg. Wäre seine Koalition nicht in der Lage gewesen, den Staatshaushalt bis zum 29. Mai unter Dach und Fach zu bringen, hätte es Neuwahlen geben müssen. So aber hat seine Regierung eine weitere Atempause von 18 Monaten erhalten. Dann nämlich stehen die nächsten Budgetverhandlungen an.

„Dies ist ein guter Haushalt“, verkündete Finanzminister Bezalel Smotrich unmittelbar nach dem Abstimmungsmarathon. „Einerseits verantwortungsbewusst und zurückhaltend, andererseits mit einer Reihe wichtiger Neuerungen. Dieser Haushalt kommt allen Bürgern Israels zugute: Linken und Rechten, Religiösen, Ultra-Orthodoxen und Säkularen, Drusen und Arabern. Er ist gut für alle Bürger Israels.“ Doch die Opposition und mit ihr die absolute Mehrheit der nicht-orthodoxen Israelis sehen das etwas anders. Noch während der Abstimmung in der Knesset versammelten sich deshalb in Jerusalem Tausende von Demonstranten, schwenkten israelische Flaggen und skandalisierten die „Plünderung“ der Staatskasse durch die Regierung. Und die Protestbewegung gegen die Justizreform hat ein weiteres Thema, das die Israelis mobilisiert: die überbordende Bezuschussung der Ultraorthodoxen und ihrer Institutionen auf Kosten der Steuerzahler. Überhaupt lässt sich diese kaum noch überblicken oder in konkreten Zahlen beziffern. Viele dieser Subventionen funktionieren als Rabatte, beispielsweise in Form von niedrigeren Grundsteuern in orthodoxen Kommunen, oder als Beihilfe für Kindertagesstätten oder Mieten.

Kernpunkt der Kritik ist die Tatsache, dass der Haushalt zusätzliche Milliarden an Zahlungen für die Haredim vorsieht. Denn von den 13,7 Milliarden Schekel (ca. 3,5 Milliarden Euro) an zusätzlichen Ausgaben, von denen die Rede ist, sind 3,7 Milliarden Schekel (knapp eine Milliarde Euro) für die Aufstockung des Budgets für Stipendien für Yeschiwa-Studenten vorgesehen, die zudem vom Militärdienst befreit sind. Weitere 1,2 Milliarden Schekel (300 Millionen Euro) sind für die Alimentierung privater, keiner staatlichen Kontrolle unterlegten Bildungseinrichtungen der Ultraorthodoxen geplant, die in den seltensten Fällen weltliche Fächer wie Mathematik oder Englisch unterrichten. Dazu addieren sich noch finanzielle Mittel für den Bau von Synagogen und Religionsschulen sowie zur Förderung der Haredi-Kultur und -Identität – was immer auch darunter zu verstehen ist. Netanyahu und Smotrich einigten sich darüber hinaus auf die Finanzierung sogenannter erweiterter Stipendien für Studenten an Religionsschulen in Höhe von bis zu 250 Millionen Schekel (62 Millionen Euro), wobei überschüssige Mittel aus den ultraorthodoxen Schulen verwendet werden sollen sowie die Genehmigung, diesen rückwirkend ab Anfang 2023 ein Stipendium zu bezahlen. Kurzum, der absolute Löwenanteil dieser zusätzlichen Ausgaben, die auch „Koalitionsvereinbarungsgelder“ heißen, kommt exklusiv den Haredim zugute. Auf diese Weise konnte sich der Ministerpräsident die Zustimmung für den Haushalt von seinen beiden ultraorthodoxen Koalitionspartnern erkaufen. Oder besser gesagt, er war dazu gezwungen. Denn sowohl die Partei Vereintes Torah-Judentum als auch Shass, die politischen Vertreter der aschkenasischen und sephardischen Orthodoxie, hatten mehrfach zuvor gedroht, die Koalition zu verlassen, wenn nicht alle ihre Forderungen erfüllt werden – Netanyahu war also erpressbar und kapitulierte letztendlich.

Für viele Israelis ist damit aber das Maß voll. Schon seit Jahren wächst der Unmut unter den Nicht-Orthodoxen über die Selbstbedienungsmentalität der Haredim, und zwar aus zwei wesentlichen Gründen. Zum einen sind nur rund 50 Prozent der männlichen Ultraorthodoxen in den Arbeitsmarkt integriert, weil sie entweder an einer der vielen Religionsschulen rund um die Uhr studieren und zumeist keine Qualifikationen mit sich bringen, die in irgendeiner Form ökonomisch verwertbar wären, weshalb Haredim überwiegend in prekären Arbeitsverhältnissen zu finden sind und zusätzlich vom Lohn Transferleistungen beziehen. Zum anderen wächst die Zahl derjenigen, die von der Ausnahmeregelung vom Militärdienst Gebrauch machen. Und mit dem neuen Haushalt, so die Befürchtungen vieler Israelis, würde dieser Trend noch forciert werden. Zudem verschwende man finanzielle Ressourcen, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden.

Wirtschaftsexperten teilen diese Meinung und unterfüttern sie mit zahlreichen Daten. So warnten vor wenigen Tagen 280 israelische Ökonomen in einem Brandbrief an die Regierung davor, dass der neue Staatshaushalt „der Wirtschaft Israels und seiner Zukunft als wohlhabendes Land erheblichen und langfristigen Schaden zufügen wird.“ Agiere man weiter so und fördere zudem Bildungseinrichtungen, die sich ausschließlich religiösen Inhalten widmen, laufe Israel in Gefahr, „sich von einem fortgeschrittenen und wohlhabenden in ein rückständiges Land zu verwandeln, in dem es einem großen Teil der Bevölkerung an grundlegenden Fähigkeiten für das Leben im 21. Jahrhundert mangelt.“ Unter den Unterzeichnern fand sich auch Eugene Kandel, ein ehemaliger Weggefährte und Berater von Netanyahu.

Die Integration der Haredim in die Erwerbsbevölkerung sollte das Ziel sein und nicht das Gegenteil, so lautet auch eine Forderung von Amir Yaron. „Für jedes Haredi-Kind ist es wichtig, die Option zu haben, gleichberechtigt zu sein und damit auch die Möglichkeit, am Erwerbsleben zu partizipieren“, sagte der Chef der israelischen Zentralbank in einem Interview mit der Tageszeitung „Maariv“. „Denn die demographische Entwicklung erhöht das Gewicht der Haredi-Gesellschaft in der Wirtschaft. Die Zuwendungen an sie im aktuellen Haushalt widersprechen der Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass sich der Beschäftigungsanteil der Haredim erhöht und ermutigen sie dazu, nicht arbeiten zu gehen.“ Die Zahlen würden eine klare Sprache sprechen. Als Israel 1948 gegründet wurde, zählten nur drei Prozent der Bevölkerung zu den Ultraorthodoxen, heute sind es dreizehn Prozent, bis zum Jahr 2065 wird ihr Anteil aber ein Drittel betragen, der dann alimentiert werden muss, weil er entweder keiner oder nur einer prekären Beschäftigung nachgeht. Und das wird teuer. Bereits 2019 hatte Yaron deshalb in einer Studie konstatiert, dass bei einer unveränderten demographischen Entwicklung in naher Zukunft Steuererhöhungen von mindestens 16 Prozent notwendig werden, um diese Alimentierungen und damit den Status quo aufrechterhalten zu können.

Auch dem Ministerpräsidenten ist all das bestens bekannt. Als Netanyahu 2002 im Kabinett von Ariel Sharon Finanzminister war, handelte er entsprechend und kürzte Subventionen sowie Sozialleistungen, was zu mehr Haredim mit einem Job und zu einem leichten Rückgang der Geburtenrate in ihrer Gemeinschaft führte. Denn schon damals lag die Beschäftigungsquote bei unter 50 Prozent. Zum Vergleich: 1979 gingen noch rund 85 Prozent aller männlichen Haredim einer Lohnarbeit nach. Dann kam der staatliche Geldregen und sorgte dafür, dass immer mehr haredische Männer religiöse Studien betrieben und nicht arbeiten gingen. Die Aufgabe, die oft acht- oder zehnköpfigen Familien über Wasser zu halten, hatten dann die Frauen, die zumeist ebenfalls im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und zudem Haushalt und eine riesige Kinderschar versorgen dürfen. Von all dem will Netanyahu heute nichts mehr wissen.

Und etwas anderes verweist auf den Kern der Problem. Es ist nicht unbedingt die haredische Gesellschaft oder die Ultraorthodoxie als solche, die der absoluten Mehrheit der nichtorthodoxen Israelis in erster Linie unangenehm aufstößt – auch wenn sich viele von ihnen gegängelt fühlen oder die Ausnahmeregelungen vom Militär sauer aufstoßen. Es sind vor allem die Entscheidungen der israelischen Regierung, die jetzt Entwicklungen vorantreiben, die der ganzen Gesellschaft letztendlich sehr teuer zu stehen kommen. So hat das eher konservative Kohelet Policy Forum kürzlich einmal ausgerechnet, dass sich für einen Haredi-Mann, der ein Monatsgehalt von 8.800 Schekel, also rund 2.400 Euro, bezieht, mit seinem Job das Einkommen einer Familie um gerade einmal 3.000 Schekel, umgerechnet etwa 700 Euro, verbessern kann, weil zahlreiche Zuwendungen für ihn wegfallen, wenn er arbeiten geht. Bei einem nicht-Haredi wären diese aber 5.900 Schekel, über 1470 Euro, die ihm monatlich zur Verfügung stehen. Der Grund: Der nicht-orthodoxe wäre nie in den Genuss von Transferleistungen gekommen, die exklusiv Haredim zur Verfügung stehen, ihm aber nicht. Deshalb ist er eher gezwungen, sich einen Job zu suchen, ein Ultraorthodoxer eher nicht.

Ferner belegt Kohelet, wie schwierig es für Haredi-Männer ist, ins Erwerbsleben einzusteigen. Denn das Schulsystem, das sie in der Regel durchlaufen, vermittelt weder Fremdsprachenkenntnisse, noch Mathematik oder naturwissenschaftliches Wissen. Nur drei Prozent der Haredi-Männer im Alter von 22 bis 44 Jahren haben deshalb die Möglichkeit, die Hochschulreife zu erwerben. Bei nicht-haredischen Männern liegt die Zahl bei 79 Prozent. Und gerade einmal zwei Prozent nehmen an den Zulassungsprüfungen für die Universitäten teil – im Unterschied zu den 40 Prozent bei nicht-haredischen Männern. Und die vielen zusätzlichen Milliarden, die nun in die Einrichtungen der Haredim fließen, zementieren ein Bildungssystem, das weiterhin de facto von weltlicher Bildung gänzlich Unberührte hervorbringt. Zugleich fehlen die Gelder an anderer Stelle – schließlich schneidet Israel in den Pisa-Studien regelmäßig verheerend ab. Wie groß und Parteigrenzen überschreitend der Unmut über all das ist, belegt eine Schlagzeile der Tageszeitung „Israel Hayom“, die traditionell eher als Sprachrohr von Netanyahu gilt. Mit dem Verweis auf die Verschwendung öffentlicher Mittel zugunsten ineffiziente haredische Schulen, die den Namen nicht verdienen würden, und die mangelhafte Ausstattung nichtreligiöser Einrichtungen titelte man: „Das öffentliche Bildungssystem ist in Gefahr.“

Bild oben: „Plünderungsregierung“, Demonstrationsschild in Tel Aviv, (c) haGalil