Sam Mendes irrlichtert mit „Empire of Light“
Von Miriam N. Reinhard
In seinem neuen Kinofilm holt Regisseur Sam Mendes das Kinopublikum dort ab, wo es sich befindet: Er zeigt das Kino als gesellschaftliches Soziotop, in dem verschiedene Geschichten zusammenlaufen. Dabei findet er seine Figuren nicht auf, sondern vor der Leinwand, im Kernteam der Angestellten des Kinos „Empire of Light“ –so lautet auch der Titel seines Films. Zu diesem Team gehören der Chef des Kinos Donald Ellis (Colin Firth) weiß, Mitte 50, der Vorführer Norman (Toby Jones), weiß, Ende 50, Janine (Hannah Oslow), weiß, Anfang 20, Neil (Tom Brooke), weiß, Mitte 30 und schließlich die Protagonistin der Geschichte, die Kinomanagerin Hilary Small (Olivia Colman), weiß, Mitte 40, die das Zentrum von Mendes Erzählung ist. Hilary hat gerade einen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter sich und wurde aufgrund einer bipolaren Störung auf Lithium eingestellt. Die Medikamentierung stellt sie sichtbar ruhig, sie wirkt apathisch, freudlos, ihr soziales Umfeld scheint primär ihr Arbeitsplatz zu sein. Das Leben kehrt in sie zurück als ein neuer Angestellter zum Team dazu stößt, Stephen Murray (Michael Ward), Anfang 20, der auf einen Studienpatz für Architektur wartet. Der charmante junge Mann kann Hilary für sich gewinnen, deren Liebesleben sich sonst darauf beschränkt, für ihren Chef auf Abruf in dessen Büro zur Verfügung zu stehen. Wir befinden uns Anfang der 80er Jahre in Südengland – statt #metoo polarisiert Magaret Thatcher die Gesellschaft, auf den Straßen proben noch Skinheads und Punks die Rebellion. Als Stephen auftaucht, entdeckt Hilary ihr eigenes Begehren wieder, verweigert sich dem Chef fortan und erlebt erfüllte Momente als Stephen ihre Gefühle erwidert: Am Strand und auf der nicht mehr genutzten Dachterrasse des Kinos tauschen die ungleichen Liebenden heimlich Zärtlichkeiten aus. Vermutlich euphorisiert und optimistisch gestimmt, was den eigenen Zustand angeht, setzt Hilary das Lithium ab; als Stephen die Affäre beendet, womit sie sich einverstanden zeigt – denn zu groß ist vielleicht der Altersunterschied, zu verschieden sind die Lebenswelten einer weißen Frau mittleren Alters wie Hilary und eines Mannes, der noch mit seiner Mutter zusammenlebt – stürzt sie dies einige Tage erneut in eine Depression, sie nimmt sich frei und igelt sich ein, um dann im Kinogebäude ihr manisches Comeback zu geben.
Ausgerechnet bei einer Premierenfeier eines großen Films, das dem Kino es erlaubt, ein gesellschaftliches Event für Polit- und Schauspielerprominenz auszurichten, dreht Hilary frei. Nachdem Donald als Chef des Kinos das Publikum mit einer Ansprache begrüßt hat, hält sie eine zweite ungeplante und auch eher unkonventionelle Begrüßungsrede. Donald stellt sie im Foyer des Kinos zur Rede, im Saal beginnt derweil die Vorstellung, als Donalds Ehefrau auf der Empore auftaucht und ihren Mann fragt, wo er denn bleibe. Hilary wendet sich nun mit einer manisch-theatralischen Rede an sie; sie führt vor der sichtlich perplexen Ehefrau aus, Donalds Geliebte zu sein – und schließlich gipfelt diese Rede in den Worten: „Ficken oder nicht ficken, das ist hier die Frage.“
Nach diesem skandalösen Auftritt zieht Hilary sich wieder ganz in sich zurück, bleibt ausschließlich in ihrer Wohnung, doch Stephen sucht sie zu Hause auf. Sie wird an diesem Tag wieder in die Psychiatrie gebracht. Als sie aus ihr zurückkehrt, hat sich auch Stephens Leben weiterentwickelt: Mit seiner Exfreudin Ruby (Crystal Clarke) scheint er erneut zusammen zu sein. Als er Hilary bei einem Spaziergang im Park trifft, wünscht er sich, dass sie das Kinoteam besucht. Hilary kann tatsächlich sogar als Angestellte zu ihrem einstigen Arbeitsplatz zurückkehren – Donald hat inzwischen den Ort gewechselt, Neil hat die Leitung des Kinos übernommen. Bei einer kleinen Feier anlässlich ihrer Rückkehr vernehmen die Anwesenden plötzlich ein Geräusch: Draußen zieht eine riesige Kolonne Motorräder vorbei, doch je näher sie an das Kino herankommt, umso deutlicher wird, dass es sich leider nicht um harmlose Ausflügler handelt, sondern um einen wütenden weißen Mob, der sich die Straße erobert und in Teilen vor dem Kino zum Halten kommt. Rasch werden die Türen verschlossen, doch drei weiße junge Männer, die Stephen bereits auf der Straße rassistisch beleidigt haben, entdecken ihn im Kinofoyer wieder und treten die Glastüren ein. Sie greifen Stephen sofort an, schlagen ihn brutal zusammen und verschwinden dann – Stephen wird schwerverletzt in ein Krankenhaus gebracht, Hilary begleitet ihn im Krankenwagen, hält seine blutverschmierte Hand, wartet schließlich die ganze Nacht im Aufenthaltsbereich des Krankenhauses auf Nachricht, die schließlich Stephens Mutter, die dort als Krankenschwester arbeitet, überbringt: Er wird sich komplett erholen.
Nach Wochen des Krankenaufenthaltes kann Stephen ins Leben zurückkehren und erhält direkt eine Zukunftsperspektive: Ein Studienplatz für Architektur ist freigeworden, er muss nun den Ort wechseln, verabschiedet sich von Hilary. Der Film endet mit Stephens Abfahrt zu seinem Studienort. Aus dem Off wird „The Trees“ von Philipp Larkin vorgelesen, Hilary hat Stephen einen Gedichtband zum Abschied geschenkt. Mit Larkins Worten: „Last year is dead, they seem to say,/Begin afresh, afresh, afresh“ endet „Empire of Light“.
Nach gut 2 1/2 Stunden sucht man etwas ratlos nach der Erleuchtung, die vielleicht Mendes Intention gewesen ist. Hat dieser Film Licht in irgendein gesellschaftliches Dunkel gebracht? Nein. Zumindest nicht in dem Maße, in dem es durch die Auswahl seiner Figuren und Konfliktlinien zunächst suggeriert wird. Ohne Frage gelingt es Mendes gesellschaftliche Fragen zu beleuchten (psychische Erkrankung, Rassismus, #metoo, ungleiche Liebe, kulturelle Institutionen), ihre schlaglichtartige Behandlung und besondere Kombination miteinander werden allerdings selbst zum Problem: Die so massiv überbelichtete Sicht auf die Gesellschaft droht in Blindheit zu kippen, wo sie die einzelne Geschichte kurz grell ins Scheinwerferlicht rückt, aber sie in ihrer Komplexität nicht mehr auszuleuchten vermag. Zunächst ist man am Ende des Films recht ratlos, wieso man überhaupt das Personal eines Kinos gesehen hat und keine Bäckereibelegschaft; zwar gibt es eine Szene, in der kurz etwas über das Verhältnis von Film und Licht gesagt, die stroboskopische Bewegung erklärt wird, aber ansonsten spielt Film im Film thematisch keine Rolle. Hilary entdeckt erst zum Ende der Handlung, dass sie ihren Arbeitsplatz auch selbst zum Konsum des Angebots nutzen könnte: Man sieht sie wenige Sekunden im Vorführraum des Kinos – wie das, was sie sieht, sie in spezifischer Weise berührt, erfährt man nicht.
Wenn es Mendes primär hier darum geht, seiner manisch-depressiven Mutter ein filmisches Denkmal zu setzen, versteht man nicht, wieso er nicht ganz bei ihrer Thematik bleibt. Es ist unklar, wozu genau er die Geschichte Stephens braucht. Ohne Frage: In den1980er Jahren gab es Rassismus in England. Das Leben in jeder weißen Mehrheitsgesellschaft kann auch heute noch für jemanden wie Stephen lebensgefährlich sein. Die gezeigten Diskriminierungen, die Stephen alltäglich erlebt, haben sich heute zum Teil in gesellschaftlichen Strukturen verfestigt, die sich nicht nur pöbelnd auf den Straßen reproduzieren und in physischer Gewalt eskalieren, sondern auch institutionell auf subtile Weise gewaltsam und ausgrenzend sind. Diese Geschichten müssen erzählt und gezeigt werden. Dennoch hat – auch wenn Michael Ward wirklich alles, was möglich ist, aus dieser Figur herausholt – Stephen zu wenig Persönlichkeit, insgesamt zu wenig individuelle Geschichte für eine Spielfilmfigur. Er hat kaum Momente, in denen er wirklich handeln, sich selbst erzählen kann. So bleibt er primär derjenige, dem Dinge schicksalhaft widerfahren –er wirkt wie angeklebt an Hilary, als bräuchte es ein noch größeres Opfer der Gesellschaft, damit durch dieses die Leidensgeschichte einer manisch-depressiven Frau im rechten Licht erscheinen kann. Als Woman of Color verstehe ich völlig die Empörung von Rendy Jones, wenn er formuliert: „Mendes must have little to no Black friends because the way he handles racism is infuriating. (…) Poor Stephen is dragged through the mud to the extent that Mendes enters Black trauma territory, incorporating a disturbing sequence of racial violence that had me fuming. In this “white dude trying to discuss racism” movie, he goes full trauma porn and uses Stephen’s beating at the hands of skinheads to progress Hilary’s arc.“
Es wäre erhellender gewesen, Mendes hätte die Ursachen von Hilarys Erkrankung tiefer beleuchtet, hätte den Problemen, mit denen sie aufgrund ihrer Krankheit in der Gesellschaft zu kämpfen hat, angemessen Raum gegeben. Es wäre so auch sehenswert gewesen, wie die Phasen einer Bipolarität möglicherweise den Blick auf Filme lenken können – dies hätte auch dem Kinogebäude als Schauplatz einen tieferen Sinn erteilt. Um die Geschichte Hilarys zu erzählen, braucht es ganz gewiss keine sonstige Legitimation. Das Leid der verrückt gemachten, in Ver-Rückung lebenden, für verrückt erklärten, aus der Ordnung der Gesellschaft gefallenen Frauen, hat jedes verdammte Recht von den Leinwänden dieser Welt hinabzuschreien! Und es hat dieses Recht ganz unabhängig von den Verdammten (Stephens) dieser Erde, denen man nur ein weiteres Mal Gewalt antut, wenn man sie zum Alibiopfer degradiert. Schade, dass Mendes offenbar nicht mutig genug gewesen ist, allein die Schreie seiner Mutter ins Rampenlicht zu stellen, denn mit Olivia Colman hat er eine Schauspielerin, die auf besonders eindringliche Weise schreien kann. Sie vermag diesen Wechsel zwischen manischer Wut und lethargischer Depression überragend auszuführen: Man möchte der von ihr dargestellten Hilary in solchen Momenten vielleicht nicht unbedingt persönlich begegnen, aber man möchte Colman stundenlang dabei zusehen, wie sie sie spielt. Sie ist als erstrahlende Irre ohne jeden Zweifel der große Lichtblick in einem ansonsten eher irrlichtenden Film. Besonders in einer Szene kann sie so erschüttern, dass man sich mit dem Werk insgesamt versöhnen kann:
Als Polizei und Sozialdienst Einlass in Hilarys Wohnung verlangen, um sie erneut in die Psychiatrie einzuweisen, verweigert sie ihnen den Zutritt. Sie bleibt auf ihrem Wohnzimmersessel sitzen, holt nur kurz ihren bereits gepackten Koffer zu sich und richtet ihren Blick starr auf die Tür. Jeder Stoß gegen die Tür von der Polizei lässt Hilary kurz zusammenzucken, doch sie bleibt aufrecht sitzen und blickt geradeaus, bis die Polizei sich den Zutritt gewaltsam verschafft. Colman spielt diese Szene mit einer so unglaublichen Intensität, dass man Gänsehaut bekommt. Zukünftige filmische Zwangseinweisung wird sich an dieser Performance messen lassen müssen. Im Hintergrund hören wir Yusuf Islam (einst Cat Stevens) „Morning has broken“ singen. Es hätte keinen besseren Song dafür gegeben. In dieser Szene sehen wir eine Frau, die sich noch im allerletzten Moment einen Handlungsspielraum erkämpft, die nicht bloß Produkt multipler Konfliktgeschichte ist – die auch dann noch gestalten will, wenn man sie erneut in die Unfreiheit abführt. Mit der Freiheit, diese Türe nicht selbst zu öffnen, verweigert es Hilary, bloßes Opfer innerer und äußerer Umstände zu sein. Über ihre Geschichte erkämpft sie sich verzweifelt Regie.
Es sind doch solche Szenen, die uns immer wieder in die Kinosäle führen, uns berühren, unsere Aufmerksamkeit bannen. Es sind diese Szenen, die uns dazu bringen, dass wir unsere Einstellungen und Erzählungen auch mal in einem ganz anderen Lichte sehen. Und auch, wenn dies in „Empire of Light“ nur eine einzige Minute von 159 ist – es ist gut, dass das Lichtspiel auf der Leinwand eine solche Minute zum Leben erweckt.
Foto: © Searchlight Pictures