Die bisher kaum bekannte Fluchtgeschichte europäischer Juden aus Südosteuropa
Die Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht, der Kriegseintritt Mussolinis im Sommer 1940 sowie die deutsch-italienische Besetzung Griechenlands 1941 verschloss den Juden die Flucht über fast alle Mittelmeer-Häfen. Aus Südosteuropa blieb nur der schwierige Weg über Istanbul nach Palästina, um den Nationalsozialisten und dem Holocaust zu entkommen. Die formell neutrale Türkei war bestrebt, Nazideutschland nicht zu provozieren. Nur über ein vorwiegend klandestines, informelles Netzwerk in Istanbul, in dem auch Angelo Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII., eine wichtige Rolle spielte, konnte die Flucht der südosteuropäischen Juden nach Palästina organisiert werden.
Reiner Möckelmann war lange Jahre als Diplomat in Ankara und Istanbul tätig. Er stellt erstmals die Geschichte dieser Fluchtroute dar und beleuchtet das bisher unbekannte Zusammenspiel aus selbstlosen jüdischen Helfern, Diplomaten und Vertretern der Kirche. Ein ganz neues Kapitel in der Geschichtsschreibung zur Flucht europäischer Juden.
Reiner Möckelmann, Transit Istanbul – Palästina. Juden auf der Flucht aus Südosteuropa, wbg Theiss 2023, 368 S., Euro 36,00, Bestellen?
Wir freuen uns sehr darüber, dass Autor Reiner Möckelmann uns die folgende Leseprobe zur Verfügung gestellt hat. Darin erzählt er über Karl Pfeifer, Journalist und Zeitzeuge, der im Januar 2023 im Alter von 94 Jahren in Wien starb. Die Leseprobe erzählt aus zwei frühen Phasen seines Lebens. Das Buch ist Karl Pfeifer gewidmet.
LESEPROBE (S.19 ff. und 161 ff.)
1. Es war Samstag, der 12. März 1938 und ein Tag nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich. „An diesem Abend brach die Hölle los“, so erlebte Carl Zuckmayer das Geschehen in Wien. „Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Albtraumgemälde des Hieronymus Bosch … Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt.“ Der „Anschluss“ Österreichs war ein Schlüsselmoment in der europäischen Geschichte der Juden. Mit dem Fall von Wien war der Weg frei in die Katastrophe Europas. Überstürzt flohen zwischen dem 13. März und 31. Dezember 1938 insgesamt knapp 60 000 Jüdinnen und Juden allein aus Österreich.
In der rund 25 km südlich von Wien gelegenen Kurstadt Baden widerfuhr den jüdischen Mitbürgern nicht minder Erniedrigendes. Sie wurden zu sogenannten Reibpartien geholt und mussten aufgemalte Parolen der „Vaterländischen Front“ von den Straßen waschen. Auch Baracken und andere Gebäude mussten „gesäubert“ werden.
Die dort seit Langem ansässige Familie Pfeifer ahnte das kommende Unheil, denn Baden beherbergte im März 1938 nach Wien und Graz die drittgrößte jüdische Gemeinde Österreichs. Seit Anfang des Jahres 1938 wurde der dortigen jüdischen Kultusgemeinde klar, in welcher Gefahr ihre Mitglieder schwebten. Rechtsnationale Gruppen agierten offen, verbreiteten Hetzparolen und gingen gewalttätig gegen einzelne Juden vor.
Die wachsende Bedrohung beschrieb Ludwig Pfeifer seinem ältesten Sohn Erwin Ende Januar 1938 in einem Brief. Erwin, in der zionistischen Jugend von Baden groß geworden, war bereits im Jahre 1935 als 22-jähriger Pionier nach Palästina ausgewandert. In seinem umgehenden Antwortbrief drängte er den Vater, alles zu verkaufen und Österreich schnellstmöglich zu verlassen. Noch zögerte Ludwig Pfeifer aber, denn als angesehener Mitarbeiter eines deutschen, ihm wohlgesonnenen wissenschaftlichen Buchverlags hatte er viel zu verlieren.
Ein Umdenken setzte bei den Eltern Pfeifer indessen unmittelbar nach dem „Anschluss“ ein. Es verstärkte sich, als ihr knapp zehnjähriger in Baden geborener Sohn Karl im April 1938 auf dem Schulweg von Hitlerjungen nicht nur verbal angegriffen wurde. Im folgenden Gespräch mit dem NS-Lehrer erfuhr Mutter Margarethe, dass sie ihren Sohn ohne Anspruch auf ein Abschlusszeugnis jederzeit aus der Schule nehmen könne. Trotz der Nachteile handelte sie. Lang brauchte Karl dem Schulunterricht indessen nicht fernzubleiben. Anfang Juli verließ die Familie die vertraute Heimatstadt, ausgestattet nur mit je einem Koffer. Den Erlös aus dem erzwungenen Hausverkauf kassierten die NS-Machthaber für die Erteilung der Ausreiseerlaubnis. Immerhin blieb es der Familie erspart mitzuerleben, wie die Nationalsozialisten wenig später den jüdischen Tempel Badens entweihten und das Inventar im Hof der Synagoge zu Brennholz zerhackten.
Lange Überlegungen bei der Wahl ihres Zufluchtslandes gab es für Familie Pfeifer nicht. Beide Elternteile waren in Ungarn geboren. Viele Verwandten lebten dort, und Budapest zeichnete sich durch eine zahlreiche sowie gebildete jüdische Bevölkerung aus. Nach dem Ende der K.-u.-k-Monarchie hatten die Pfeifers zwar die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt. Am Tage ihrer Ausreise erhielten sie dennoch auch einen ungarischen Pass und konnten sich somit in Budapest als ungarische Staatsbürger anmelden. Nun war die Familie, anders als die in Österreich verbliebenen Juden, den Bestimmungen der ideologisch verbrämten Nürnberger Rassengesetze nicht mehr ausgeliefert. Indessen konnten sie von geplanten diskriminierenden Gesetzesvorhaben der ungarischen Regierung bereits früher aus der Wiener Presse erfahren haben. So untersagte das erste sogenannte Judengesetz vom Mai 1938 ungarischen Staatsbürgern jüdischer Herkunft die Ausübung verschiedener Berufe. Die Familie Pfeifer schützte indessen der große und zum Teil vermögende Verwandtschaftskreis in Budapest vor existenziellen Sorgen, denen sie beim Verbleib in Baden ausgesetzt gewesen wären.
In demselben Sommer, in dem die Familie Pfeifer ihren Entschluss zur Auswanderung umgesetzt hatte, tagte im französischen Kurort Evian-les-Bains vom 6. bis 15. Juli 1938 eine internationale Konferenz. US-Präsident Th. D. Roosevelt hatte sie initiiert. Von den brutalen Folgen der Annexion Österreichs und den wachsenden jüdischen Flüchtlingsströmen aus dem deutschen „Altreich“ alarmiert, hatte er Einladungen an Regierungen von Staaten in aller Welt versandt. Von ihnen erhoffte er sich, dass sie möglichst viele jüdische Opfer der NS-Diktatur aufnehmen würden. Bereits rund 150 000 Juden waren seit der Machtübernahme Adolf Hitlers aus dem Deutschen Reich geflüchtet – jeder Vierte. Rund 30 000 von ihnen hatten in den USA Zuflucht gefunden.
Das Ergebnis der Konferenz von Evian war für die bedrängten Juden mehr als enttäuschend. Eine Vielzahl jüdischer Organisationen hatte Anregungen und Wünsche in Memoranden niedergelegt. Indessen konnte man sich in Evian nur auf die Gründung eines Internationalen Komitees für Flüchtlingsangelegenheiten (ICR) einigen, das sich allein mit dem Problem der Zufluchtsländer für die verfolgten Juden befassen sollte. Die negativen Ergebnisse der Konferenz überwogen: Außer vagen Angeboten von Costa Rica und der Dominikanischen Republik zeigte keiner der teilnehmenden Staaten seine Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen – sei es im britischen Mandatsgebiet Palästina, sei es im eigenen Land oder auch in Kolonien. Die Konferenzteilnehmer fragten sich, warum sie die Folgen eines Flüchtlingsproblems akzeptieren sollten, welches das Deutsche Reich selbst geschaffen hatte, oder warum sie zulassen sollten, dass der Antisemitismus sich in ihren Ländern ausbreitet.
Die Zionistische Weltorganisation (WZO) hatte lediglich Beobachter zur Konferenz entsandt, unter ihnen Golda Meir. Ein Rederecht war ihr verwehrt worden. Die spätere Außenministerin und Ministerpräsidentin Israels beschrieb das Ergebnis ernüchtert: „Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung.“ (…)
2. Im April 1942 billigte die britische Mandatsmacht nach mühsamen Verhandlungen eine erste Liste der Jewish Agency, der Ansprechpartnerin für die britische Mandatsverwaltung in Palästina und laut Völkerbundmandat die offizielle Vertretung der Juden vor Ort, zur Auswanderung jüdischer Kinder aus den südosteuropäischen Ländern. Es handelte sich dabei um lediglich 270 Namen. Zum Erstaunen von Barlas, des Vertreters der Jewish Agency in Istanbul, waren hierin auch ungarische Kinder einbezogen, die im Vergleich zu den rumänischen in dieser Zeit weit geringer bedroht waren. Angesichts der jugendlichen Opfer des Untergangs des Flüchtlingsschiffs Struma drängte er auf eine Zahl von 400, konnte sich aber bei den Briten und Türken nicht durchsetzen. Die Verhandlungen mit der amerikanischen Hilfsorganisation Joint Distribution Comittee um Finanzierung und den Begleitschutz der Transporte durch das Internationale Rote Kreuz zogen sich bis in den Herbst hin. Schließlich verkündete die Jewish Telegraf Agency am 2. Oktober, dass „270 Kinder aus den Nazi-Satellitenländern Ungarn und Rumänien weggeschafft und nach Palästina gebracht werden.“ Drei Transporte waren dafür vorgesehen.
Zu den Glücklichen des ersten Transports zählte Karl Pfeifer in Budapest. Den 14-Jährigen, so erinnert sich dieser, hatte der Jugendleiter des Hashomer Hatzair, der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation, im Sommer 1942 gefragt, ob er nach Palästina übersiedeln wolle. Karl war begeistert. Im beinahe täglich von ihm aufgesuchten „Ken“, dem Heim der Jugendgruppe, hatte er viel über den Aufbau der „Heimstätte“ erfahren. Er wollte daran mitwirken. Die Umstände in Ungarn und Nachrichten aus Polen bekräftigten seinen Wunsch. Mitglieder des Hashomer, die aus Polen über die Slowakei nach Budapest geflüchtet waren, vermittelten ihm erschreckende Nachrichten vom einsetzenden Holocaust. Antisemitismus hatte er in Budapest bereits am eigenen Leib in Form von Denunziationen und Polizeiverhören erfahren müssen. Verständlicherweise widerstrebte Karls jüngst verwitwetem Vater das Ausreisevorhaben des noch bei ihm verbliebenen Sohnes. Verwandte bemühten sich, Karl das Vorhaben mit Horrorberichten über Palästina auszureden.
Das Budapester Hilfs- und Rettungskomitee unter Rudolf Kasztner sowie das von Moshe Krausz geleitete Palästina-Amt standen vor der kaum lösbaren Aufgabe, eine Dringlichkeitsliste aufstellen zu müssen. Sie hatten für die genehmigten Transporte von insgesamt 122 ungarischen Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 16 Jahren eine Auswahl zu treffen. Mehrere jüdische Verbände meldeten wichtige Fälle an. Auch waren die Mädchen und Jungen in zwei Gruppen von je 50 sowie in eine weitere von 22 Personen zu verteilen. Wie bereits zuvor beharrte die türkische Regierung darauf, ab Istanbul wöchentlich nur einen Zug für nicht mehr als 50 Passagiere bereitzustellen.
Karl stand auf der ersten Liste von 30 Jungen und 20 Mädchen, für die ab September 1942 Transitvisa der Türkei und Frankreichs für die Durchreise durch Syrien sowie das britische Einreisevisum für Palästina vorlagen. Bis zur Abreise im Januar 1943 erfolgte in Budapest unter Gruppen und Verbänden noch ein Tausch von Zertifikaten. So tauschte Karls Hashomer Hatzair ein vom religiös-zionistischen Jugendverband Bnei Akiva benötigtes Mädchen-Zertifikat gegen das eines Jungen ein. Karl war der Begünstigte. Sein ungarischer Reisepass lautete nunmehr auf den Namen Zelig Buchbinder. Ausgestellt war er mit Karls Foto und dem Stempel „Darf nie wieder in das ungarische Königsreich zurückkehren“.
Das Personal einer jüdischen Schule in der Nähe des Budapester Ostbahnhofs erlebte am 5. Januar 1943 schmerzvolle Abschiedsszenen. Die erste Gruppe von 50 Kindern und Jugendlichen, begleitet von einem Erwachsenen, verließ das Land. Karl hatte sich von seinem bekümmerten Vater zu verabschieden. Ludwig Pfeifer verließ nun auch der zweite Sohn Richtung Palästina. Ein Wiedersehen mit den Söhnen sollte nicht mehr folgen. In Curtici passierte der Zug die ungarisch-rumänische und in Rustschuck die rumänisch-bulgarische Grenze. An der bulgarisch-türkischen Grenzstation Svilengrad stiegen Gestapobeamte zu. Sie untersuchten das Gepäck und fragten den Betreuer nach dem Zweck der Reise. Auf die Antwort, dass die Gruppe in Palästina auf landwirtschaftliche Schulen kommen würde, war zu hören, dass sie diese auch in Polen haben könnten. Jederzeit würden sie die Gruppe kostenlos dorthin befördern …
Nach stundenlangem Warten an der Grenze konnte der Reiseleiter einem bulgarischen Grenzoffizier die Visitenkarte eines bulgarischen Ministers überreichen, auf der um jede mögliche Hilfe für den Überbringer gebeten wurde. Dessen Intervention führte schließlich zur Weiterfahrt des Zuges Richtung Istanbul und befreite die Gruppe von der tagelangen Sorge um das Gelingen ihrer Reise, die sie im deutschen Machtbereich beherrscht hatte.
Vertreter des Rettungskomitees der JA in Istanbul nahmen die Gruppe am Bahnhof Sirkeci am 11. Januar in Empfang und brachten sie im zentral gelegenen Stadtteil Galata in einer Pension unter. Während des viertägigen Aufenthalts standen sie unter ständiger türkischer Bewachung. Es galt, das Untertauchen einzelner Juden in Istanbul zu verhindern. Besucher waren aber zugelassen. Großes Interesse an Berichten der Gruppe zeigte Menachem Bader. Der Vertreter von Chaim Barlas war kurz zuvor aus Jerusalem in Istanbul eingetroffen. Er vertrat den Kibbuz Arzi, die Dachorganisation einer großen Zahl von Kibbuzim mit links gerichteten Mitgliedern. Bis zur Weiterreise kümmerten sich er und das „Großrabbinat“ um das Wohl der Gruppe. Aus seinen Gesprächen hielt Bader fest, dass in der als ungarisch deklarierten Gruppe „viele Kinder waren, die erst kürzlich aus Polen und der Slowakei nach Ungarn geschmuggelt worden waren.“ Kinder und Begleiter berichteten über ihr Leben, „über den Untergrund und die Grenzen, an denen mit Glück oder viel Geld trotzdem ‚Schlupflöcher‘ gefunden werden konnten“.
Vom Bahnhof Haydarpaşa ging die Reise in komfortablen 2.-Klasse-Waggons mit der Bagdadbahn quer durch Anatolien nach Islahiye, der türkischen Grenzstation zur syrischen Provinz Aleppo. Französische und englische Soldaten lösten die türkischen Militärs ab, und auch ein Mossad-Mitarbeiter stieg bis Beirut zur Begleitung in den Zug. Mit Bussen des Yishuv erreichte die Gruppe am 19. Januar 1943, zwei Wochen nach der Abreise aus Budapest, endlich ihr Ziel Haifa. Chaim Barlas beschrieb später das Gefühl des Yishuv beim Eintreffen dieser Gruppe als Symbol „einer neuen Ära in der Einwanderung nach Palästina“.11 Die Ankunft dieser Busse in Haifa markierte in der Tat eine neue Phase in der britischen Einwanderungspolitik: Die britische Regierung sowie die Mandatsmacht hatten erstmals Juden aus „Feindstaaten“ die Einreise nach Palästina ermöglicht.
Die Stadt Haifa begrüßte Karl Pfeifer mit freundlichen Menschen und Sonnenschein. Vor ihm lag ein neues Leben im Kibbuz. Getrübt wurde seine Stimmung nur durch den einwöchigen Aufenthalt in einer Quarantänestation für Einwanderer, weniger von den Verhören durch bri-tische Nachrichtenoffiziere. Stärker noch berührte ihn am letzten Tag ein Aufruf im Lager, gerichtet an Zelig Buchbinder, den Jungen, unter dessen Namen und mit dessen Pass Karl Pfeifer Ungarn verlassen hatte. Ein aufgebrachter Vater Buchbinder, der auf der Liste der Angekommenen den Namen seines Sohnes entdeckt hatte, machte Karl schwere Vorwürfe: Karl sei ein Betrüger, und er würde die Briten hierüber informieren. Nur mühsam konnte der Vater von seiner Drohung abgehalten werden.12 Der in Ungarn zurückgebliebene Zelig Buchbinder überlebte Auschwitz nicht.
Gemeinsam mit den anderen Kindern und Jugendlichen fand Karl im Kibbuz Maabarot, zwischen Tel Aviv und Haifa, eine neue Heimat, in den Mitbewohnern eine neue Familie. Im Kibbuz hörte er auf den hebräischen Namen Eli, der Erhabene. Eine basisdemokratisch organisierte gemeinschaftliche Arbeits- und Lebenswelt erwartete ihn dort. Harte landwirtschaftliche Arbeit ging mit Schulungskursen einher. Hilfreich bei der Bewältigung des Lebens ohne eigene Familie waren für ihn und seine Freunde das Erlernen von Hebräisch, der positive Bezug zum Judentum sowie die Ideologie des sozialistischen Zionismus. Auf der Basis der Gleichheit aller Menschen und einer Gleichstellung der Frau wollten sie eine Gesellschaft jenseits der kapitalistischen Wirtschaftsordnung schaffen. Ab dem 16. Lebensjahr wurde Karl in der Haganah ausgebildet, der zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation.
Als die deutsche Wehrmacht Mitte März 1944 in Ungarn einmarschierte und dort die Deportationen nach Auschwitz begannen, packte Karl und die ungarischen Mitglieder der Jugendgruppe im Kibbuz ein irrationales Schuldgefühl: Ihnen war es vergönnt gewesen, das Land zu verlassen! Nach der endgültigen Befreiung vom Nationalsozialismus fiel es Karl Pfeifer noch schwerer zu verarbeiten, dass 36 Verwandte der Shoah zum Opfer gefallen waren. Sein in Ungarn verbliebener Vater hatte im Getto überlebt, starb aber zwei Tage nach dessen Befreiung.
Reiner Möckelmann, Transit Istanbul – Palästina. Juden auf der Flucht aus Südosteuropa, wbg Theiss 2023, 368 S., Euro 36,00, Bestellen?