„Ich spreche für die, die gestorben sind“

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Boris Zabarko, geboren 1935, überlebte als Kind den Nazi Terror im Ghetto Scharhorod. Ein Ghetto im Südwesten der Ukraine, ohne Zaun und Mauer, nach 18 Uhr durfte keiner auf die Straße, sonst wurde er von den Wachposten mit Knüppeln geschlagen. Er ist Historiker, Vorsitzender des Allukrainischen Verbandes der Juden, ehemalige Häftlinge des Ghettos und der NS-Konzentrationslager, Träger des Bundesverdienstkreuzes und Autor mehrerer Bücher.

Von G. Wedel

Wegen der russischen Angriffe floh Boris Zabarko mit seiner Enkelin 2022 erneut aus der Heimat und wohnt seit dem in Stuttgart. Das Erinnern der Judenverfolgung in der Ukraine ist für ihn eine unermüdliche Lebensaufgabe, auch hier in Deutschland.

Lange Zeit war der Holocaust unter dem stalinistisch geprägten System in der Ukraine ein Tabu Thema. An die vielen Opfer und Überlebenden des Nationalsozialismus wurde nicht gedacht. Aufarbeitung im Gegensatz zu den westeuropäischen Ländern gab es in den osteuropäischen Ländern erst in den 90er-Jahren. Obwohl etwa 1,5 Millionen Juden in der Ukraine ermordet wurden, nahezu ein Viertel der europäischen Holocaustopfer. Und doch langvergessen.

Boris Zabarko erzählt davon, wie sie im Ghetto drei Jahre auf ihr eigenes Erschießen warteten. Als sie von der Roten Armee befreit wurden, welchen Schmerz ihn ergriff und bis heute noch verfolgt, als er vom Tod Verwandter und Bekannter hörte, die den Holocaust nicht überlebten:

„Deutsche Soldaten zerrten junge Mädchen an den Füssen aus den Häusern und vergewaltigten sie. Dem Rabbiner schnitten sie den Bart ab, schnallten ihn wie ein Pferd an, um ein Fass mit Wasser zu ziehen. Der David- und Judenstern kennzeichnete jüdische Häuser.

In der Ukraine fanden hauptsächlich Massenerschießungen statt, denen in ein bis zwei Tagen Tausende von Menschen zum Opfer fielen, wie z. B. in Babyn Jar bei Kiew. Am 29. und 30. September 1941 erschossen deutsche Wehrmachtsangehörige und ihre Helfer mehr als 33 000 jüdische Kinder, Frauen und Männer. Dies war das größte Einzelmassaker an Juden im Zweiten Weltkrieg, wobei Nachbarn oft zusehen durften. Auf ukrainischem Boden wurden vom ersten Tage an alle erschossen, Kinder, Frauen und Männer. Das war ein Gegensatz zu den westlichen Regionen, wo die Frauen und Kinder zuerst am Leben blieben und vergast wurden.

Eine andere Methode der Ermordung war, Juden wurden in Häusern, Synagogen, Lagerhallen, Baracken und Schweineställen verbrannt; eingemauert in Steinbrüchen oder Alabastergruben, lebendig in Kohleschächte und Brunnen geworfen. Frauen und Kinder wurden in Sümpfe getrieben. Wenn sie nicht tief genug waren, um zu ertrinken, wurden sie erschossen. Aus Besarabien und der Bukovina deportierte Juden wurden im Dnepr und südlichen Bug ertränkt. Die schaurigen „Todeswägen“, in denen durch Abgase getötet wurde, wurden an unserem Volk ausgetestet. Juden starben qualvoll an Hunger, Kälte, Krankheiten, Misshandlungen und unzumutbarer Zwangsarbeit in vielen Ghettos und Arbeitslagern.

In unserer Stadt u. Region kamen viele rumänische Juden an. Man hatte die Hitler Politik verfolgt und dachte, sie auf ukrainischem Territorium zu erschießen. Menschen in Viehwaggons eingequetscht, ohne Wasser, Lebensmittel, Toilette und frischer Luft, ein bis zwei Tage unterwegs. Zuletzt zu Fuß weitergehen. Schwache die hinfielen, wurden erschossen.

Im Ghetto wurden sie mit 12-13 Personen in Häuser untergebracht. Andere in die Synagoge. Dort lagen sie auf dem Fußboden. Es gab keine Toiletten, ab 18.00 Uhr durfte niemand mehr auf die Straße gehen. Es gab nicht genug Unterkünfte, so dass viele draußen erfroren.

Mit meinem Großvater bin ich einmal in diese Synagoge gegangen. Es war ein furchtbarer Geruch. Lebende und Tote lagen gemeinsam auf dem Boden. Zur Toilette durften sie nicht gehen. Später sind noch viele an Typhus gestorben.“

Boris Zabarko sagt: „Ich spreche heute für diejenigen, die gestorben sind, weil sie es nicht erzählen können. Aus diesem Grund habe ich all das Material gesammelt, dass die Erinnerung an sie lebt“. In Deutschland haben Margret und Werner Müller (Köln) zwei Bücher herausgegeben, die von ihm gesammelte Erinnerungen enthalten. 2019 erschien Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine – Zeugnisse von Überlebenden im Metropol-Verlag. 2016 publizierte der Dittrich Verlag „Nur wir haben überlebt“ – Holocaust in der Ukraine, Zeugnisse und Dokumente.

Boris Zabarko selbst hofft bald wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Dort möchte er sein „letztes Buch“ schreiben.

–> „Man kann nicht die Hände in den Schoss legen“ – Das Werk des ukrainischen Shoahforschers Boris Zabarko und von Werner und Margret Müller

Bild oben: (c) G. Wedel