Die neue Lage

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Am Abend des 30. Januar 1933 nimmt Hitler am Fenster der Reichskanzlei Ovationen von Anhängern und Sympathisanten entgegen. Bundesarchiv, Bild 146-1972-026-11 / Sennecke, Robert / CC-BY-SA 3.0

Von der Stimmung unter den deutschen Juden und Jüdinnen und ihrer Einschätzung der Gefahren nach dem 30. Januar 1933 zeugt beispielsweise dieser Beitrag, der wenige Tage später in der Zeitschrift „Der Israelit“, dem „Centralorgan für das orthodoxe Judenthum“, in der Rubrik „Wochenrundschau“ erschien.

Die neue Lage

Der Israelit, Heft 5, 02.02.1933

Das Kabinett Hitler, das sich am Montag Mittag in Berlin etabliert hat, bedeutet eine schwere stimmungsmäßige Belastung der ganzen deutschen Judenheit, ja, darüber hinaus, aller der Kreise, die in der Ueberspitzung des nationalistischen Rassen-Fanatismus unserer Tage ein Hemmnis auf dem Wege menschlicher Besittung und weltgeschichtlichen Fortschritts erblicken.

Zwar sind wir keineswegs der Meinung, daß Herr Hitler und seine Freunde, einmal in den Besitz der lange erstrebten Macht gelangt, nun etwa nach dem Rezept des „Angriff“ oder des „Völkischen Beobachters“ vorgehn und kurzer Hand die deutschen Juden ihrer verfassungsmäßigen Rechte entkleiden, sie in ein Rassen-Ghetto sperren oder den Raub- und Mord-Instinkten des Pöbels preisgeben werden. Das können sie nicht nur nicht, weil ihre Macht ja durch eine ganze Reihe anderer Machtfaktoren vom Reichspräsidenten bis zu den Nachbarparteien, beschränkt ist, sondern sie wollen es sicherlich auch gar nicht; denn die ganze Atmosphäre auf der Höhe einer europäischen Weltmacht, die ja mitten im Konzert der Kulturvölker stehn und bleiben will, und dazu das Bewußtsein, in der Wilhelmstraße nun der Notwendigkeit des demagogischen Werbens um den dröhnenden Beifall turbulenter Volksversammlungen bis auf weiteres überhoben zu sein, ist der ethischen Besinnung auf das bessere Selbst günstiger als die bisherige Oppositionsstellung. Den Mitkämpfern von gestern, den Parteifreunden, vermag der neue preußische Innenminister durch Erneuerung des großen Beamtenkörpers in nationalsozialistischem Sinne viel realere Dienste zu leisten als durch offene Zugeständnisse an den brutalen Judenhaß.

Trotzdem wäre es sträflicher Optimismus, sich des Ernstes der Lage nicht bewußt zu sein. Je weniger die neuen Männer dem mit Hunger und Not verzweifelt ringenden deutschen Volk durch gesetzgeberische Wunder wirkliche Hilfe zu bringen vermögen, desto näher liet für sie der Wunsch, ut aliquid feci videatur doch wenigstens ein paar Absätze aus dem rassentheoretischen Programm der Partei in die politische Wirklichkeit umzusetzen, was ohne sensationelle und kompromittierende Judengesetze auf dem Wege des „trockenen Pogroms“, der systematischen Aussperrung und Aushungerung der Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben leicht geschehen kann.

Inwieweit in einem nationalsozialistischen Beamtenkörper das alte preußische Beamtenpflichtgefühl über die so lange gepflegten antisemitischen Instinkte Herr werden und Schikanen und Rechtsverkürzungen gegenüber Juden ausschließen wird, in wieweit eine Polizei, die einen Nationalsozialisten als obersten Chef über sich weiß, in jedem Einzelfall zuverlässig und unparteiisch bleiben wird, wenn es sich um Juden (oder gar um sozialistische oder kommunistische Staatsbürger) handelt – das sind Fragen und Zweifel, über deren Berechtigung nur die Zukunft entscheiden kann.

Wie die Dinge liegen, scheint es uns noch das kleinere Uebel zu sein, daß durch Tolerierung der neuen Regierung von Seiten des Zentrums die parlamentarische Basis und Kontrolle – trotz eines befristeten Ermächtigungsgesetzes – wenigstens grundsätzlich aufrechterhalten bleibt (man denke zum Beispiel nur an die Gefahren, die sonst der שחיטה drohen), als wenn ein Mißtrauensvotum des Reichstags die Auflösung mit allen ins Uferlose sich erstreckenden Aspekten aus Diktatur und Staatsnotstands-Experimenten herbeiführt.

Bild oben: Am Abend des 30. Januar 1933 nimmt Hitler am Fenster der Reichskanzlei Ovationen von Anhängern und Sympathisanten entgegen. Bundesarchiv, Bild 146-1972-026-11 / Sennecke, Robert / CC-BY-SA 3.0