Anatomie eines Genozids

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Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz

Eine vielsprachige Kleinstadt in einer osteuropäischen Grenzregion ist Ausgangs- und Drehpunkt dieser Mikrogeschichte des israelischen, an der Brown University lehrenden Historikers Omer Bartov. Es ist sicher sein persönlichstes Werk, auch wenn er nur sehr wenig über die Wurzeln seiner eignen Familie in Erfahrung bringen konnte. Nach einem Gespräch mit seiner Mutter kurz vor ihrem Tod, machte sich Bartov auf die Suche nach Spuren ihrer Heimatstadt Buczacz, die heute in der Ukraine liegt. Geschichte, so Bartov, sei in gewissem Sinne immer auch Familiengeschichte, „wir alle tragen tief in uns ein Bruchstück der Erinnerung“. Buczacz steht dabei als Symbol für viele weitere multiethnische Städte der Region.

Im Laufe von zwei Jahrzehnten fand Bartov unzählige Dokumente in den unterschiedlichsten Archiven, anhand derer er die Geschichte der Stadt in ihrer ganzen Vielschichtigkeit rekonstruiert und ihr so ein lebendiges und tief berührendes Monument setzt. Er zeigt „wie die polnischen, ukrainischen und jüdischen Einwohner der Stadt jahrhundertelang Seite an Seite lebten – wie sie an verschiedenen Erzählungen über die Vergangenheit strickten, ihr je eigenes Verständnis der Gegenwart zum Ausdruck brachten und Zukunftspläne schmiedeten, die weit auseinandergingen.“ Allzu oft wurde dieses Zusammenleben von Krieg und unfassbarer Gewalt bestimmt.

1942/1943 richteten sich die Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht mit ihren Familien in der Stadt ein, genossen die Provinz und brachten etwa 10.000 Juden um. Sie hatten dabei willige Helfer. Der mikrohistorische Blick zeigt aber auch, dass die Vernichtung der Juden von Buczacz nicht vorbestimmt war, es gab Alternativen. Ein jeder hatte die Wahl, wie er mit den Freunden, den Nachbarn umgeht. Auch die deutschen Besatzer.

Viele Berichte und Dokumente im Buch sind auch für „geübte“ Leser von Literatur zur Schoah nur schwer zu ertragen. Ungefiltert lässt Bartov die unterschiedlichsten Quellen sprechen. Ihm ist es meisterhaft gelungen kleinteilig detaillierte Erzählung mit dem großen historischen Kontext zu verknüpfen.

Bartov schließt sein monumentales Werk mit einem Überblick über die Zeit nach 1945. Der Massenmord an den Juden wurde heruntergespielt. Vom jüdischen Leben gibt es heute fast keine Spuren mehr. 2016, so berichtet Bartov, wehte aus Protest gegen russische Versuche, Einfluss auf die Ukraine geltend zu machen, die Flagge der UPA, der Ukrainischen Aufständischen Armee, die 1942 gegründet worden war, über der Festung von Buczacz. Ob dieses „Symbol für den historischen Kampf des Landes gegen seinen mächtigen östlichen Nachbarn“ auch heute noch dort weht? Buczacz liegt 160 Kilometer südöstlich von Lwiw. 

Omer Bartov: Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz, Aus dem amerikanischen Englisch von Anselm Bühling., Jüdischer Verlag im Suhrkamp 2021, 486 S., mit zahlreichen Abbildungen, Euro 28,00, Bestellen?

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1 Kommentar

  1. Ich werde das Buch nicht lesen können. Ich ertrage es nicht mehr, von diesem unermesslichen Leid zu hören oder zu lesen.
    Weisen Sie bitte weiter auf derartige Veröffentlichungen hin.

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